Heute in den Feuilletons

Knicke in der Außenhaut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2011. Die FR würde gern in Frank Gehrys New Yorker Appartmenthaus wohnen und aus dem Fenster gucken. Der Tagesspiegel bringt eine eindrucksvolle Reportage aus der Stadt Benghasi, deren Bürger versuchen, politische Gefangene zu befreien. Die Welt liest die Dissertation des Dr. Gysi. Gabriele Goettle bringt in der taz eine Reportage über geschädigte Kleinanleger. Braucht man die Frauenquote doch?, fragt die FAZ. Außerdem: ein sehr klares Fernsehinterview zu Guttenberg, Links auf die Oscars und auf John Gallianos antisemitischen Ausfall.

Tagesspiegel, 28.02.2011

Eine sehr eindrucksvolle Reportage aus Benghasi, wo man versucht, politische Gefangene zu befreien, schickt Martin Gehlen: "'Danke Al Dschasira für die Unterstützung' steht auf einem Plakat, das jemand an der Hauswand befestigt hat. Vor langen Fotoreihen von Opfern des Regimes drängeln sich die Menschen. So ließ der Despot Gaddafi am 29. Juni 1996 im Abu-Salim- Gefängnis bei Tripolis 1200 Gefangene massakrieren und ihre Leichen anschließend einbetonieren, die meisten der Opfer stammten aus Benghasi."

Arno Geigers Buch "Der alte König in seinem Exil" über die Demenz-Erkrankung seines Vaters ist sehr erfolgreich. Im Gespräch mit Gerrit Bartels wünscht er sich einen selbstverständlicheren Umgang mit der Krankheit: "Dass man ins Restaurant gehen kann und Rücksicht genommen wird, wenn ein Demenzkranker mit am Tisch sitzt. Selbstverständlich ist das noch nicht."
Stichwörter: Al Dschasira, Geiger, Demenz

Aus den Blogs, 28.02.2011

Oh je oh je. Dior-Designer John Galliano ist wegen eines antisemitischen Ausfalls suspendiert, den er geleugnet hat (mehr bei Vogue). Dummerweise ist der Vorfall auf Video dokumentiert - The Sun hat es. Er soll Gästen in einem Pariser Restaurant folgendes zu bedenken gegeben haben: "I love Hitler" and "People like you would be dead. Your mothers, your forefathers, would all be f****** gassed."

Bei Gawker kommentieren Richard Lawson und Brian Moylan die Verleihung der Oscars nicht sehr froh: "What happened tonight? It was mush-mouth, stuttery nonsense! " Hier die Fotos vom roten Teppich.

Martin Weigert schreibt auf Netzwertig über den Niedergang deutscher sozialer Netzwerke und zeigt folgende Grafik. Grün ist die Linie von Facebook:


Und hier Ulrike Langers wöchentliche Lesetipps zu Internet und Medienwandel.

FR, 28.02.2011

Frank Gehrys Neubau in Manhattan hat bei Sebastian Moll nichts als Begeisterung ausgelöst: "Die Stahl-Fassade wirkt, als liefe Wasser in Strömen daran hinunter. Aus der Nähe entpuppen sich diese Wellen jedoch als Knicke in der Außenhaut des Gebäudes, die von ihm herabhängen wie Falten eines Rockes. Die Struktur ist jedoch nicht, wie man es Gehry oft vorwirft, reine Maskerade. Sie sind aus dem Bedürfnis entstanden, den Bewohnern Ausblicke auf die Stadt zu ermöglichen, wie es sie noch nicht gegeben hat. Jede Wohnung hat einen eigenen individuellen Grundriss. Gemeinsam aber ist ihnen allen, dass sie eine Art Erker aufweisen. In jeder Einheit kann man an das Fenster treten und hat einen 180-Grad- Blick auf New York."

Weitere Artikel: Jürgen Otten porträtiert den Pianisten Piotr Anderszewski. Jürgen Verdofsky schreibt zum Tod des Autors und Shoah-Überlebenden Arnost Lustig.

Besprochen werden Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Brechts "Die Antigone des Sophokles" in Hamburg und die Ägyptenausstellung "Der Tod in der Wüste" in Hildesheims Roemer- und Pelizaeus-Museum.

NZZ, 28.02.2011

Christian H. Meier berichtet von Versuchen, die 17-Millionen-Metropole Kairo vor dem Infarkt zu retten: "Geplagt von Enge, Smog und veralteter Infrastruktur, scheint die Stadt permanent am Rande des Abgrunds zu stehen." Marion Löhndorf will festgestellt haben, dass das deutsche Image unter Briten und deren Fußballfans gewonnen hat, das bestätigen ihr auch alle deutschen Diplomaten. Roman Bucheli freut sich über die siebzigjährige Jubiläumsausgabe des Du-Heft, das dem Hausfotografen Rene Burri gewidmet ist. Thomas Schacher gratuliert dem Ensemble Vocal de Lausanne zum Fünfzigsten.
Stichwörter: Burri, Rene, Kairo, Lausanne, Schach

Weitere Medien, 28.02.2011

Mit bemerkenswerter Klarheit äußert sich der Statsrechtler Oliver Lepsius, Nachfolger von Karl-Theodor zu Guttenbergs Doktorvater Peter Häberle, im Bayerischen Fernsehen über das Plagiat des Verteidigungsministers:


TAZ, 28.02.2011

Die Bild-Zeitung schaltet heute eine ganzseitige Anzeige (hier als pdf) in der taz. Dokumentiert wird darauf die Absage Judith Holofernes', die der Agentur Jung von Matt mitteilt, warum sie nicht an der "Bild Dir Deine Meinung"-Kampagne teilnehmen möchte. Um das ganze abzufedern, bringt die taz außerdem ein Interview mit Judith Holofernes, wo sie erklärt, dass sie gegen diesen Abdruck nichtsmachen will, womit sich die Geschichte zum Vorteil aller rundet.

Der letzte Montag im Monat gehört Gabriele Goettle. Diesmal berichtet die Reporterin von Lehman-geschädigten Kleinanlegern. Um zu veranschaulichen, wem so alles Aktien angedreht wurden, erzählt sie folgende Episode von der Jahrtausendwende: "Meine Freundin Elisabeth Kmölniger und ich haben damals drei Jahre lang eine Armutsreportage in Berliner Suppenküchen und Wärmestuben gemacht. Unser Verhältnis zu den Armen und Obdachlosen war recht vertraut, und wir haben nicht schlecht gestaunt, als uns einige der jüngeren Männer anvertrauten, sie hätten - trotz der Kontingentierung - einige Technologie-Aktien von Infinion zu 68 DM pro Stück ergattert. Am Computer des Sozialamts, das es damals noch gab, konnten sie im Internet verfolgen, wie ihre Aktien im Wert imposant anstiegen, schnell sanken, um dann weit unter den Kaufwert zu fallen."

Auf der Meinungsseite sieht Jürgen Gottschlich die Türkei überhaupt nicht als Vorbild für Ägypten oder Tunesien: "Denn tatsächlich sind sie der Zeit im Vergleich zur Türkei weit voraus. Die revoltierenden Menschen in Arabien haben etwas geschafft, was ihnen weltweit niemand zugetraut hätte und auch die Türken nie zustande gebracht haben: Sie haben sich erfolgreich gegen einen Diktator und ein despotisches System erhoben."

Und Tom.

Welt, 28.02.2011

Da Dr. Gregor Gysi sich so süffisant zur Affäre Guttenberg äußerte, hat sich Henryk Broder mal Gysis Doktorarbeit aus dem Jahre 1975 vorgenommen und findet darin Sottisen wie diese: "In der sozialistischen Rechtsetzung, wie in der sozialistischen Rechtsverwirklichung, kommt die Macht der Arbeiterklasse und ihrer Partei zum Ausdruck... Daher gilt in der sozialistischen Gesellschaft, unter Überwindung der bürgerlichen Gewaltenteilungstheorie, die Einheit von Beschlussfassung und Durchführung, die in der einheitlichen Staatsmacht zum Ausdruck kommt."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings kommentiert den Abgang Elisabeth Ruges als Verlegerin des Berlin Verlags, der aber nicht so gleich geschaltet werde, wie vielfach befürchtet, und unter der neuen Verlegerin Birgit Schmitz durchaus Chancen auf Eigenständigkeit habe. Manuel Brug unterhält sich mit dem Bariton Matthias Goerne über sein sich auf mehrere CDs erstreckendes Schubert-Projekt. Gerhard Midding berichtet von der Verleihung der Cesars in Paris. Angela Hohmann verfolgte eine Tagung zum Thema "Collage" in Berlin.

Besprochen werden Brechts "Antigone" im Hamburger Thalia Theater und an der Berliner Schaubühne und eine Ausstellung des lange vergessenen Malers Helmut Kolle in Chemnitz.

FAZ, 28.02.2011

Vielleicht braucht man die Frauenquote doch, meint Lena Bopp, die eigentlich in der Überzeugung aufgewachsen ist, Gleichberechtigung sei eine Selbstverständlichkeit. Dass dies ein Irrtum ist, stellen viele spätestens fest, wenn sie schwanger werden. Woran das liegt? "Wir wissen es doch. Die französische Soziologin Elisabeth Badinter hat in ihrem jüngsten Buch 'Der Konflikt' wieder aufgezeigt, dass in jenen europäischen Ländern die meisten Kinder geboren werden, in denen man es den Frauen ermöglicht - durch Kindertagesstätten und Halbtagsjobs etwa - Beruf und Familie zu verbinden. Zugleich gab sie aber zu bedenken, es sei damit nicht getan. Man brauche 'eine tiefgreifende feministische Reform der Gesellschaft, welche die Politik genauso wie die Unternehmen umfasst, vor allem aber auch die Männer selbst'."

Joseph Croitoru sichtet weitere libysche Quellen, um einen Einblick in die aktuelle Lage im Land zu erhalten. Gaddafi schreckt, da ist er sicher, vor nichts zurück: "Der Terroristenpate Gaddafi hat seine Schergen offenbar bereits in der ersten Phase der Revolution reihenweise prominente oppositionelle Intellektuelle entführen und nach Tripolis verschleppen lassen. Dass er sie unter Umständen als Geiseln benutzen wird, um sich und seiner Familie den Weg in die Freiheit zu erpressen, steht zu befürchten."

Weitere Artikel: In der Glosse erläutert Jürg Altwegg, warum Le Corbusiers - bzw. seiner Bauten - Aufstieg ins Weltkulturerbe durch den Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali wahrscheinlicher geworden ist. Über die erstaunliche Qualität der Liszt-Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr in Thüringen staunt Jan Brachmann. Jordan Mejias lobt den nicht mehr nationalfixierten Aufbruchsgeist in der New Yorker Goethe-Dependance "Ludlow 38". In Sachen "Risikoabschätzung" klarer zu denken lehrt Rolf Dobelli. Einen sehr kritischen Artikel des Soziologen Torsten Heinemann zum Thema "Hirn-Doping" referiert Petra Gehring. Tobias Döring stellt das jüngste Heft der britischen Literaturzeitschrift Granta vor. Zum Tod des Exil-Germanisten Harold von Hofe schreibt Klaus-Uwe Fischer. 

Besprochen werden in einer gemeinsamen Besprechung Friederike Hellers Sophokles-Inszenierung "Antigone" an der Berliner Schaubühne und Dimiter Gotscheffs Brecht-Inszenierung "Die Antigone des Sophokles" am Hamburger Thalia Theater, die Ausstellung "100 Kilometer Geschichte" im Pommerschen Landesmuseum Greifswald, Philip Seymour Hoffmans Regiedebüt "Jack in Love" und ein paar Bücher in Kurzrezensionen (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 28.02.2011

Thomas Steinfeld kommentiert den Rückzug Elisabeth Ruges als Verlegerin beim Berlin Verlag, der von Bloomsbury in London zur bloßen Abspielstation globalisierter Seller degradiert werden soll. Sehr wohlwollend kommentiert Till Briegleb die Berufung von Barbara Kisseler zur neuen Kultursenatorin in Hamburg - Kisseler ist zur Zeit Staatssekretärin für Kultur in Berlin. In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Michael Moorstedt eine Software vor, die das unauffällige und massenhafte Fälschen von Nutzeridentitäten erlauben soll. In einem kleinen Hintergrundartikel erzählt Johannes Willms, dass das deutsche Kaiserreich die britische Unterstützung des arabischen Nationalismus schon um 1900 mit einer Förderung des islamischen Fanatismus beantwortete. Florian Kissler verfolgte eine Tagung über die jüngste deutsche Literatur im Berliner Brecht-Haus. Stephan Speicher gratuliert dem DDR-Staatsmaler Willi Sitte zum Neunzigsten. Klaus Brill schreibt zum Tod des tschechischen Autors Arnost Lustig.

Als Bruch der Allianz zwischen Spiegel und Bild aus Aust-Zeiten sieht Christopher Keil auf der Medienseite den heutigen Spiegel-Titel zur Bild-Zeitung, die des Populismus geziehn wird. Dabei sei auch der Spiegel, der Sarrazin bekanntlich ebenfalls vorabdruckte, ideologisch nicht unbedenklich, schreibt Keil.

Besprochen werden eine Eugen Schönebeck-Ausstellung in der Schirn, Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Brechts 'Antigone' am Hamburger Thalia Theater, neue DVDs, eine Inszenierung von Camus' "Das Missverständnis" durch Jan Philipp Gloger am Münchner Cuvillies-Theater und Bücher, darunter eine Neuübersetzung von Jack Kerouacs Roman "On the Road" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).