Heute in den Feuilletons

Kreuzung von Dagobert Duck und Kim Il Sung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2010. CNN erklärt, warum die Cyberkrieger von Anonymous gegen den Weihnachtsmann keine Chance haben. In den Digitalen Notizen wendet sich der Medienwissenschaftler Stefan Münker gegen die Vermutung, früher sei für Inhalt bezahlt worden. In der FAZ erklärt Frank Rieger vom Chaos Computer Club, warum er das Prinzip Wikileaks für segensreich hält. Die taz wirbt für die Sharjah Art Foundation. Für die SZ ist Xavier Beauvois' Film "Von Menschen und Göttern" ein Wunder. Die NZZ fühlt mit Norwegens totem König Olav.

FR, 15.12.2010

Georg Imdahl wandert von Besserungsanstalt zu Gefängnis bei der Manifesta in Murcia und Cartagena und notiert mit wenig Enthusiasmus: "Jeder Mensch ein Künstler, hatte Beuys einst propagiert; jeder Künstler ein Journalist, könnte es heute heißen."

Besprochen werden Florian Henckel von Donnersmarcks Film "The Tourist" (den Daniel Kothenschulte langweilig findet), neue Stücke am Bonner Theater, ein Konzert des Pianisten Ludovico Einaudi in Frankfurts Alter Oper und Bücher, darunter Brechts Notizbuch aus den Jahren 1927-1930 und Joachim Käppners Biografie des Industriellen Berthold Beitz (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 15.12.2010

Der Medienwissenschaftler Stefan Münker wendet sich im Interview mit Dirk von Gehlen gegen das von Zeitungsverlegern geschürte Missverständnis, früher sei für Journalismus bezahlt worden: "Als Journalist werden Sie von Ihrem Verleger bezahlt. Und der Verleger verdient in den wenigsten Fällen sein Geld mit dem Verkauf von Informationen. Es stimmt schlicht nicht, dass Journalisten für die Inhaltsarbeit bezahlt würden. Bezahlt wurden und werden Verlage dafür, dass sie Anzeigen in die Welt gebracht haben. Und der Journalismus war immer schon das, was sie damit finanzieren konnten."

(via 3quarksdaily) Bei Big Think erklärt Salman Rushdie in einem Video, was ihn an Videospielen interessiert, zum Beispiel an Red Dead Redemption: "Eins der Dinge, die ich daran interessant finde, ist die sehr lose Struktur des Spiels und der Einfluss, den der Spieler hat, der wählen und entscheiden kann, wie die Welt aussehen soll, die für ihn bereitgestellt wurde. Er muss nicht der großen Erzähllinie des Spiels folgen, es gibt alle möglichen Ausflüge und Abschweifungen, die er wählen kann. Man findet Minigeschichten, an denen man teilnehmen kann, statt an der großen Geschichte. Das interessiert mich wirklich als Geschichtenerzähler, weil ich immer fand, das interessanteste, was die Spielewelt und das Internet als erzählerische Technik erlauben, ist, dass man eine Geschichte nicht linear von Anfang bis Ende erzählen muss, sondern über Seitenwege. Es eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen der Leser wählen kann."

Open Culture stellt mehrere Podcasts vor, wo man berühmte Autoren berühmte Autoren lesen hören kann. Die jüngste Serie hat der Guardian zusammengestellt. Hier liest u.a. Philip Pullman Tschechow, Anne Enright Raymond Carver und William Boyd JG Ballard.

Welt, 15.12.2010

Ulf Poschardt verteidigt Stephanie Guttenberg, schon weil sie modischen Sachverstand mitbringt. Das ist in Deutschland zugegebenermaßen neu: "Selbst bei gesellschaftlichen Ereignissen wie einer Premiere in Bayreuth zeigen sich mächtige Frauen oder Frauen mächtiger Männer in Kostümen von ausgesuchter Scheußlichkeit. Kaum eine Dame schämt sich, so das Land zu repräsentieren."

Weitere Artikel: Alan Posener wendet sich gegen einen Tagesspiegel-Artikel des Siemens-Chefs Peter Löscher, der für seine guten Geschäfte in China auch die Menschenrechte preisgibt (oder vornehmer ausgedrückt: "Die Zivilisation hat mehr als ein Gesicht"). Jan Küveler folgte einer Tagung über "jüdische Rebellen" in Mainz.

Besprochen wird eine Philipp-Otto-Runge-Ausstellung in Hamburg.

NZZ, 15.12.2010

Aldo Keel erzählt von Oslos Ringen um ein Denkmal für den früheren König Olav. Der erste Entwurf musste wegen seiner Abscheulichkeit abgelehnt werden: "Ein Kritiker glaubte sich an den Duce erinnert, ein anderer deutete das Werk als 'Kreuzung von Dagobert Duck und Kim Il Sung'." Ho Nam Seelmann sorgt sich um die grassierende Computerspiel-Sucht im technik-affinen Korea. Patricia Grzonka besucht ein Museum im tschechischen Städtchen Brtnice, das an den Architekten Josef Hoffmann erinnert.

Besprochen werden eine (laut Daniel Endler etwas spannungsarme) Inszenierung des "Don Giovanni" an der Wiener Staatsoper, Martin Pollacks Buch über die große Flucht aus Galizien "Kaiser von Amerika", Harald Hartungs Gedichtband "Wintermalerei" und Michael Tomasellos Studie "Warum wir kooperieren" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 15.12.2010

Der über gewalttätige Migrantenjungs forschende Erziehunsgwissenschaftler Ahmet Toprak erklärt im Interview, warum er die "Deutschenfeindlichkeit" an Berliner Schulen für eine typische Form der Minderheitendiskriminierung hält: "Ich habe in den 80er Jahren die Hauptschule besucht, und da war es an der Tagesordnung, dass wir beleidigt und drangsaliert wurden. Knoblauchfresser, Scheißtürke, das war für uns etwas Alltägliches. Wir waren damals in der Minderheit, und es gab ein klares Machtgefälle: Die deutschen Jugendlichen hatten das Sagen. Heute ist das an manchen Schulen ganz anders, da sind die Deutschen in der Minderheit, und die Migranten fühlen sich mächtig."

Brigitte Werneburg hat sich nach Abu Dhabi einladen lassen und wirbt nun in vollendeter Hochglanzprosa für die Sharjah Art Foundation: "Sharjahs Engagement in Belangen der Kultur reicht bis in die 60er Jahre zurück, als seine Hoheit Scheich Dr. Sultan bin Mohammad al-Quasimi ein altes Fort wiederaufbauen ließ."

Besprochen wird ein Sammelband zu "Film, Avantgarde, Biopolitik".

Und Tom.

Weitere Medien, 15.12.2010

Gegen Weihnachten kommt selbst Anonymous nicht an - und darum ist die Website von Amazon nicht zu knacken, schreibt Julianne Pepitone von CNN: "Amazon, which has built one of the world's most invincible websites, is almost impossible to crash. Amazon has famously massive server capacity in order to handle the December e-commerce rush. That short holiday shopping window is so critical, and so intense, that even a few minutes of downtime could cost Amazon millions."
Stichwörter: Amazon, Anonymous, CNN

FAZ, 15.12.2010

Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, hält - bei aller Kritik an manchen Anfängerfehlern und Personenkultauswüchsen - das Prinzip Wikileaks für zweifellos segensreich. Mehr Offenheit, weniger Geheimhaltungshysterie, mehr Ehrlichkeit könne und müsse die Folge sein für eine Politik im Zeitalter der generalisierten Leak-Transparenz: "Es braucht Öffentlichkeit, die reinigende Kraft des Sonnenlichts, um Korruption, schattige Deals und ethische Verkommenheit im Zaum zu halten. Dass die traditionelle Presse, der diese Funktion eigentlich zukam, ihre Aufgabe wegen wirtschaftlicher Probleme und zu engen Kuschelns mit den Mächtigen zuletzt nur noch zögerlich erfüllt, ist bedauerlich. Durch das Aufkommen funktionierender Leaking-Plattformen haben Menschen, denen das Gewissen noch nicht abhandengekommen ist, ein Ventil für ihre Gewissensnot, ein Mittel gegen die Verzweiflung am Zustand der Welt und eine Möglichkeit, diejenigen, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen."

Weitere Artikel: Rose-Maria Gropp teilt mit, dass die Fälschungsfälle aus der sogenannten "Sammlung Jägers" sich immer noch mehren - und sehr ausführlich nimmt sie den Kunsthistoriker Werner Spies in Schutz, der mehrere falsche Max Ernste in Gutachten für echt hielt und "den Lesern dieser Zeitung seit Jahrzehnten als Kunstkritiker bekannt" ist. Ein protestantischer Gemeindepfarrer mit dem aparten Namen Jochen Teuffel geißelt die "autistischen" Freiheits-Irrlehren des offiziellen Protestantismus, rät dazu, die in Wittenberg geplanten Reformationsfeierlichkeiten für das Jahr 2017 schon mal abzublasen und fühlt sich den Katholiken näher als dem EKD. In der Glosse erinnert Patrick Bahners mit Briefzitaten daran, dass sich der adlige Minister Otto von Bismarck ganz sicher nicht von seiner adligen Ehefrau ins Feldlager begleiten ließ. Timo John besucht das restaurierte Suso-Haus in Überlingen am Bodensee. Paul Ingendaay trauert um den großen Flamenco-Sänger Enrique Morente. Auf der Medienseite erklärt Nina Rehfeld, dass es auch in den USA positive Stimmen zu Julian Assange und Wikileaks gibt. Martin Gropp schildert das gezähmte Leaks-Projekt der WAZ.

Besprochen werden Stefan Herheims Dresdener Inszenierung von Antonin Dvoraks Oper "Rusalka", David Böschs Wiener Wiederaufführung von Franz Xaver Kroetz' "Stallerhof", Ueli Jaeggis theatrale Annäherung an Texte von Gerhard Meier unter dem Titel "Amrains Welt" am Luzerner Theater, die große "Gauguin"-Ausstellung in der Londoner Tate ModernXavier Beauvois' Film "Von Menschen und Göttern" (den Bert Rebhandl für ein "großes" Werk auf der Höhe von "Nathan der Weise" hält) und Bücher, darunter Gedichtbände von Uljana Wolf und Daniel Falb (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.12.2010

Ein "Filmwunder" nennt Rainer Gansera Xavier Beauvois' Film "'Von Menschen und Göttern' (mehr hier) über einige französische Mönche, die 1995 in Algerien von Islamisten (oder dem Regime) geköpft wurden: "Großartig, wie Beauvois den Wandlungsprozess der Mönche als ein Ringen um innere Haltung beschreibt. Ausharren im klaren Bewusstsein der Gefahr. Spannend, wie er dabei das Universum der Mönche in drei Sphären gliedert: Politik, Alltag, Frömmigkeit."

Weitere Artikel: Stephan Speicher erzählt im Aufmacher eine kleine Kulturgeschichte des Steuerzahlens und verteidigt den Steuerstaat gegen Peter Sloterdijks Kritik. Jörg Häntzschel berichtet über Fälle religiös begründeter Zensur in Washingtoner Museen. Häntzschel bewundert auch eine ziemlich kühne Parkhauskonstruktion (Bilder) der Architekten Herzog & de Meuron an der Adresse 1111 Lincoln Road in Miami. Jan Füchtjohann erklärt, warum Unternehmensberatungen gern Einwanderer einstellen (weil deren Außenseiterstatus der kühlen Beurteilung der Sachlage in den Unternehmen hilft). Adrienne Braun verfolgte die erste jemals abgehaltene Tagung des Bundesverbands Freie Theater, wo man sich vor allem über die desolate Stimmung an den Stadttheatern Gedanken machte ("Die Hoffnung liegt letztlich darin, dass der finanzielle Druck der Kommunen zu einer Umgestaltung der Theaterlandschaft führt").

Besprochen werden Purcells "Dido" und Bartoks "Blaubart" unter dem Jungstar Constantinos Carydis in Frankfurt, eine Laszlo Moholy-Nagy-Ausstellung in Berlin und Bücher, darunter Friederike Mayröckers "ich bin in der Anstalt" (mehr hier).