Heute in den Feuilletons

Die dritte Etappe der Befreiung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2010. Verliert Irland seine Seele an Deutschland?, fragt die SZ. Aber Colm Toibin macht sich da im Guardian keine großen Sorgen und singt eine Hymne auf die EU. Die FAZ berichtet über grauenhafte Zustände in russischen Kinderheimen und Repression gegen Journalisten, die dies anprangern. Robert Darnton träumt im Blog der NYRB von einer Digital Public Library of America. Die Menschenrechtlerin Mina Ahadi wendet sich gegen das iranische Staatsfernsehen und deutsche Journalisten, die sie für die Lage der gekidnappten deutschen Journalisten verwantwortlich machen. Und es lebe Cee-Lo Green!

Aus den Blogs, 24.11.2010

Der iranische Menschenrechtsbeauftragte Mohammad Javad Larijani (ja, der existiert!) hat erklärt, es gebe eine gute Chance, dass Sakineh Ashtiani nicht hingerichtet wird - nachdem er im Juli noch die Steinigung gerechtfertigt hat. Armin Arefi kommentiert in La regle du jeu: "Die im Juli lancierte Kampagne zur Rettung Sakinehs hatte also Einfluss auf Teheran. Sie trägt Früchte."

Der Buch-Historiker Robert Darnton träumt im Blog der New York Review of Books von einer Digital Public Library of America (DPLA). Und Google könnte helfen: "It has digitized about two million books in the public domain. It could turn them over to the DPLA as the foundation of a collection that would grow to include more recent books - at first those from the problematic period of 1923-1964, then those made available by their rights holders. Google would lose nothing by this generosity; each digitized book that it made available could, if other donors agree, be identified as a contribution from Google; and it might win admiration for its public-spiritedness."

Weitere Medien, 24.11.2010

Mina Ahadi, die sich mit ihrer Organisation Stop Stoning Now gegen die Steinigung von Frauen im Iran einsetzt, wendet sich in einer Presseerklärung gegen Artikel in der Presse (etwa in der Zeit, hier), die ähnlich wie das iranische Fernsehen Ahadi die Schuld an der Verhaftung zweier deutscher Journalisten im Iran geben: "Mitte September 2010 rief mich ein Journalist an, der einen Beitrag über Sakineh Ashtiani und ihre Kinder schreiben wollte. Er stellte sich mir als Mitarbeiter der BamS vor und bat mich, den Kontakt nach Iran herzustellen, was ich auch tat. In der Folge rief er mich mehrfach an, um mich über praktische Aspekte seiner geplanten Reise zu befragen. Dabei habe ich ihn selbstverständlich über die speziellen Sicherheitsprobleme in Iran informiert." Mehr dazu hier: "Logik der Beschwichtigung".

Ok, das ist nicht ganz neu, sondern wurde bereits 20000000mal angeklickt, aber Hits leben von Wiederholung (und das alles um zu sagen, dass "Please" ja noch viel besser ist). Es lebe Cee-Lo Green!


Stichwörter: Iran, Ahadi, Mina, Mina

Welt, 24.11.2010

Max Müller von der Band Mutter erklärt im Interview über das neue Album der Band und die Distinktionsfallen von Pop und Kunst: "Die Zeit, in der wir leben, ist völlig aus den Fugen. Die Menschen schmücken sich mit der zur Schau gestellten Ausdifferenziertheit ihres Geschmacks. Ob sich jemand ein Bild von Otto Muehl an die Wand hängt oder nicht - es ist alles erlaubt. Es ist ein Paradoxon: Man darf in der Kunst alles, aber mehr denn je geht es den Menschen um Anerkennung. Sie machen Kunst, aber sie wollen gefallen, sie versuchen sich selbst zu begrenzen, um kategorisierbar zu bleiben. Alles, was nach Kunst aussehen will oder nach Popmusik klingen will, ohne eine unbedingte, angreifbare Wahrhaftigkeit mitzubringen, macht mich aber misstrauisch. Ich habe im Zweifelsfall stets lieber den Dilettanten zugehört, die aber unbedingt etwas mitzuteilen hatten."

Weiteres: Paul Jandl porträtiert Thomas Kapielski, der gerade mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet wurde, als "Berliner Gesamtkunstwerk". Besprochen werden ein Band über die einstige Chefredakteurin der amerikanischen Vogue Diana Vreeland, die Aufführung von Francesco Cileas Oper "Adriana Lecouvreur" mit Angela Gheorghiu und Jonas Kaufmann in London, Doug Limans Agentenfilm "Fair Game", drei Architekturausstellungen in Berlin und der Ballettabend "Mein Ravel" in München.

TAZ, 24.11.2010

Philip Gessler berichtet über die heikle Lage der Katholiken in China, die auch noch gespalten sind: in romtreue Untergrundkirche und vom Staat anerkannte offizielle Kirche. Die Untergrundkatholiken landen auch heute noch schnell im Gefängnis, wenn sie zu sichtbar werden. "Noch immer wird die katholische Kirche in China verfolgt - wenn sie sich nicht den Regeln des Regimes beugt. Da sind etwa die Bischöfe von drei Diözesen in der Provinz Hebei: Su Zhimin sitzt seit 1996 im Gefängnis, Shi Enxiang seit 2001. Im Polizeigewahrsam starb Bischof Han Dingxiang am 9. September 2007. Einiges spricht dafür, dass der Siebzigjährige den Folgen von Folter erlegen ist. ... Warum sind die Bischöfe Su, Shi und Han so unbekannt? Ein Grund ist, dass ein großer Teil der chinesischen Katholiken nicht öffentlich auftritt, weil man sich als Teil einer Untergrundkirche versteht, die seit Jahrzehnten existiert. In der vergangenen Woche hat sich die Lage für die Verfolgten wieder zugespitzt. Peking und Rom schauen gebannt auf die katholische Kirche im Reich der Mitte."

Weitere Artikel: Isabel Metzger stellt die neue eröffnete Ausstellung im Oberlandesgericht Nürnberg über die Nürnberger Prozesse vor. Heute vor 19 Jahren starb der Queens-Sänger Freddie Mercury, die taz druckt aus diesem Anlass eine Hommage an den Sänger aus dem Nachlass der im Juni gestorbenen Popjournalistin Ingeborg Schober. Rudolf Walther berichtet über eine Diskussion zur Frage "Gibt es eine Moral der Banken?" in Frankfurt.
 
Und Tom.

NZZ, 24.11.2010

Marion Löhndorf trägt britische Reaktionen auf die bevorstehende Hochzeit von Prince William und Kate Middleton zusammen. Einige Mitglieder der Brautfamilie werden angeblich nicht zur Hochzeit eingeladen, sie seien nicht gesellschaftsfähig: "'From Pit to Palace' ('Vom Schacht in den Palast') titelte die Times mit mäßigem Feingefühl" über Kate. Annett Baumast berichtet über die Tagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Zürich. Peter Hagmann meldet die Eröffnung des Lucerne Festivals mit einem Konzert von Bernard Haitink.

Besprochen werden eine Bronzino-Ausstellung im Florentiner Palazzo Strozzi, ein Ballettabend zu Musik von Maurice Ravel in München und Bücher, darunter Mathias Enards Roman "Zone" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

FR, 24.11.2010

Die Germanistin Hannelore Schlaffer greift in den Feministinnenstreit Schwarzer versus Schröder ein und rekurriert zudem auf Elisabeth Badinters Buch "Der Konflikt - Die Frau und die Mutter", um alle drei aufzuklären, dass sie falsch liegen. Macht aber nichts, denn "inzwischen ist eine dritte Etappe der Befreiung angebrochen, in der die Töchter der Feministinnen nicht die Emanzipation verraten, sondern sie genießen."

Weitere Artikel: Harry Nutt kommentiert in Times mager einen bürokratischen Erlass, der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Auswärtigen Amt stark verkürzt: alle Ahnenporträts von Repäsentanten der großartigen Behörde von vor 1951 werden auf Weisung Westerwelles schlicht abgehängt.

Besprochen werden der Film "Fair Game", der eine Diplomatenaffäre um den beginnenden Irak-Krieg aufgreift, Henzes Oper "Gisela" in Dresden, eine Installation Michael Elmgreens und Ingar Dragsets im ZKM Karlsruhe, Marius von Mayenburgs Stück "Perplex" in der Berliner Schaubühne, Frank Castorfs Inszenierung von Walter Mehrings "Kaufmann von Berlin" an der Volksbühne und Hilary Mantels Roman "Wölfe" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 24.11.2010

Die EU verliert ihre Seele, fürchtet Thomas Steinfeld im Aufmacher des Feuilletons. Irland könnte seine Seele an Deutschland verlieren, fürchtet auf den vorderen Seiten Derek Scally, Deutschland-Korrespondent der Irish Times. Hans-Peter Kunisch wiederum zitiert einen wunderbaren Artikel des irischen Schriftstellers Colm Toibin (der auch gut über Sex schreibt) im Guardian, der von diesem ganzen Angstgerede nichts mehr hören will: "In meinem Leben passierten zwei Dinge, für die ich immer noch eine Art Ehrfurcht empfinde. Das eine ist das Karfreitags-Abkommen, das andere die Europäische Union. Ersteres erlaubte Kompromisse und Nuancen in Irland in Sachen Identität und Selbstbestimmung. Man konnte plötzlich britisch in Irland sein, oder beides, irisch und britisch, oder nur irisch. Es war plötzlich vorstellbar, das Geschichte ebensoviel Schatten wie Substanz hat und das nichts einfach ist in unserem Geschichte. Irische und britische Politiker und Beamte hatten das Karfreitags-Abkommen mit Kreativität und Offenheit ausgehandelt. Die EU hat nicht nur für Straßen und andere Infrastruktur in Irland bezahlt, sie hat das Land für die Welt, die es umgibt, geöffnet. Je mehr ich durch meine Reisen über das heutige Deutschland herausgefunden habe, desto mehr bewunderte ich es und fing an zu hoffen, dass einige seiner besten Eigenschaften auch auf Irland austrahlen."

Camilo Jimenez berichtet in einer Randspalte von John Wares BBC-Film (mehr hier) über skandalöse saudische Lehrbücher für muslimische Schüler in Großbritannien: "Er ließ einen jungen Muslim mit einer versteckten Videokamera zu einem saudischen Kulturhaus in London gehen und die Bücher ausleihen. Das Video zeigt, wie der junge Mann mit dem Finger auf Stellen in arabischer Schrift deutet und erklärt: 'Hier steht: Juden sehen wie Affen und Schweine aus.' Auf den Seiten anderer Bücher bekommen Kinder die Aufgabe, alle 'tadelnswerten' Eigenschaften von Juden aufzulisten. Und weitere Texte befassen sich mit Strafen: Homosexualität sei auf jeden Fall mit dem Tod zu ahnden ..." (Hier der erste, hier der zweite Teil des Films bei Youtube)

Weitere Artikel: Till Briegleb würdigt die Kiez-Produktionen des Berliner Volkstheaters Heimathafen Neukölln. Der Schauspieler Samuel Finzi spricht im Interview über seine Jobs in Werbespots.

Besprochen werden das neue Album von Kanye West (Jens-Christian Rabe würdigt ausführlich die einzigartigen Fähigkeiten dieser multiplen Persönlichkeit), Hans Werner Henzes Opernmärchen "Gisela" in Dresden, Doug Limans Film "Fair Game" über die Affäre um die CIA-Agentin Valerie Plame und Essays von Gabriel Tarde, dem "Großvater der poststrukturalistischen Philosophie".

FAZ, 24.11.2010

Von einer ganzen Reihe neuer haarsträubender Fälle, in denen in Russland kritische Journalistinnen und Journalisten mit Macht und/oder Gewalt mundtot gemacht wurden, berichtet Kerstin Holm. Der aktuellste Anlass für den Artikel ist das Aus für eine Fernsehsendung der Journalistin Anna Urmanzewa. Sie hatte berichtet, dass Waisenkinder häufig in die Psychiatrie abgeschoben und dort systematisch geistig zugrunde gerichtet werden: "Die russische Kinderpsychiatrie produziere gezielt 'menschliches Gemüse', sagte Anna Urmanzewa in ihrer Sendung im Moskauer Kanal TVZ. Denn einem Kinderheimzögling, der die Schule abschließt, muss laut Gesetz staatlicher Wohnraum zu Verfügung gestellt werden - ist er ein hilfloser Pflegefall, dann jedoch nicht. Seine Invalidenrente wird überdies automatisch an das betreuende Personal ausgezahlt."

Weitere Artikel: Christian Geyer möchte die Aussagen des Papstes zur Legitimität der Kondomverwendung keineswegs unterschätzen, weil er dem "Prinzip der Güterabwägung" und damit der "faktischen Freigabe" des Kondoms darin sehr nahe komme. Aus Anlass eines kleinen Nacktfotoskandals um eine - nach Veröffentlichung gefeuerte - Tänzerin des Wiener Staatsopernballetts beklagt Wiebke Hüster die öfter zu bemerkende Nähe von Tanz und Nachtclub. Dazu passend geißelt in der Glosse Niklas Maak die Performancekünstlerin Vanessa Beecroft, die nackte Frauen mitten in Voyeurismus-Diskurse stellt, gerne auch in Diensten von Louis Vuitton. Auf der DVD-Seite gibt es den Oscar-Preisträger und demnächst seinen Achtzigsten feiernden Jean-Luc Godard in 24 kurzen Häppchen als Durchgang durchs Werk. In den Geisteswissenschaften berichtet Thomas Thiel von einer Tagung zur Privatsphäre im Internet, die zum Ergebnis kam, dass manche Selbstentblößung durch den Einsatz von "Masken" kompensiert wird.

Besprochen werden Marius von Meyenburgs Inszenierung seines neuen Stücks "Perplex" an der Berliner Schaubühne (Irene Bazinger amüsiert sich bestens) und Frank Castorfs Walter-Mehring-Vierstünder "Der Kaufmann von Berlin" (außer Sophie Rois goutiert Bazinger daran nichts), Arvin Chens Filmkomödie "Au Revoir Taipeh" und Bücher, darunter eine Ausgabe der Briefe von Adolph Menzel (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).