Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2007. Die FR genoss in Thomas Pynchons neuem Roman "Against the Day" Drogen ohne Kater . In der Welt kämpfen Neo-, Erz- und Altkatholiken wie Martin Mosebach um die Wiederzulassung der lateinischen Messe (auf die dazugehörige Ignoranz der Gemeinde kann man sich ja jetzt schon verlassen). Die Zeit verkündet das Ende des amerikanischen Jahrhunderts. FAZ und NZZ haben sich ein Fernsehdrama um den abgehalfterten Tony Blair im Jahre 2010 angesehen. Die taz fürchtet, dass nun sogar die Bayern in der Berliner Republik angekommen sind. Die SZ stellt eine neue Online-Enzyklopädie über Völkermorde vor, die das Wort Völkermord nicht benutzt.

TAZ, 18.01.2007

Dirk Knipphals wertet die Machtkämpfe in der CSU als Zeichen, dass auch die Bayernpartei endlich in der Berliner Republik angekommen ist: "Stoiber ist ja nun wirklich keiner, dem man in unseren Kreisen so ein Straucheln nicht gönnen würde. Aber neben solchen niederen Motiven (gelegentlich hat man Anlass, sie auch bei sich selbst zu entdecken) ist da noch etwas. Zum einen das schiere Erstaunen darüber, dass so etwas auch bei der CSU möglich ist. Dass sich ein Landesverband der SPD oder auch der CDU komplett selbst zerlegen würde - klar, das kann man sich jederzeit vorstellen. Aber die CSU? Dieser granitharte Block?"

"Wolf Biermann wird Berliner Ehrenbürger - und das ist auch gut so", findet Stefan Reinecke auf der Meinungsseite: "Denn Biermann hat zwar ein Ego, das größer ist als das Berliner Haushaltsloch - aber damals in der DDR war er ein Held. Er sagte, was die meisten sich nicht trauten, und verkörperte wie kein Zweiter den Bruch der Intellektuellen mit der DDR."

Weiteres: Julian Weber erinnert an die Fernsehsendung "TV Party" in den späten Siebzigern, der er als Keimzelle des Musikfernsehens und "interaktives Fernsehen" bevor es das überhaupt gab, Avantgardestatus verleiht. Jetzt gibt's sie auf DVD. Besprochen werden Xavier Giannolis Film "Chanson d'Amour" mit Gerard Depardieu, Nikolas Geyrhalters Dokumentarfilm "Unser täglich Brot" (hier gibt es ein Interview mit dem Regisseur), Philip Noyces Apartheidfilm "Catch a Fire" und die Videoinstallation "Sleepwalkers" des Medienkünstlers Doug Aitken am Museum of Modern Art in New York (für Daniel Schreiber das "Kunstereignis dieses Winters").

Schließlich Tom.

FR, 18.01.2007

Elisabeth Niggemann, Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek und Vorsitzende der Konferenz der europäischen Nationalbibliothekare, begrüßt die Digitalisierung urheberrechtsfreier Werke durch Google und "wen auch immer". Denn "je mehr kulturelles Erbe auf diese Weise weltweit jederzeit genutzt werden kann, um so besser wird die bibliothekarische Dienstleistung sein. Je mehr Teilnehmer und je mehr Sprachen an den Projekten beteiligt sind, um so vielfältiger wird das Angebot sein."

Erlösung ist machbar, liest der Chicagoer Germanist Helmut Müller-Sievers in Thomas Pynchons neuem Roman "Against the Day". "Pynchon bejaht diese Frage nicht nur in seinen Figuren und in seinem ungebrochenen Glauben an die Heilkraft von Sex & Drugs & Rock'n'Roll, sondern kräftiger noch in der Gabe seines Romans selbst. Drogengenuss ohne Kater, Sex ohne schlechtes Gewissen, Henry James (das Spätwerk) lesende Hunde: natürlich ist dies ein utopischer Roman. Doch die Stunden seiner Lektüre sind real und real beglückend. Leider aber auch unwiederbringlich."

Weitere Artikel: Peter Nonnenmacher fasst britische Reaktionen auf die englische Ausgabe von Jörg Friedrichs Buch "Der Brand/ The Fire" zusammen. Bärbel Flad verabschiedet die große Übersetzerin, Hochschullehrerin und Publizistin Ray-Güde Mertin, die erst 63jährig in Frankfurt verstorben ist. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch widmet seine heutige Kolumne zur sexuellen Frage der Selfsex-Revolution. Und Harry Nutt erinnert in der Kolumne Times Mager noch einmal an Wolf Biermanns weise Vorahnung auf problematische Ehrungen, die er 1974 in seiner "Populär-Ballade" ausgedrückt hat: "Verdammt, es kotzt mich trotzdem an/Es reizt mich nicht die Bohne/ Wenn mir der deutsche Gartenzwerg/Verleiht die Dornenkrone."

Besprochen werden Robert Carsens Inszenierung von Georg Friedrich Händels oratorischer Oper "Semele" am Opernhaus Zürich, Darren Aronofskys Fantasy-Melodram "The Fountain", Marcus H. Rosenmüllers zweiter Film "Schwere Jungs", (der aus Sicht von Sascha Westphal leider an den Erfolg seines Debüts "Wer früher stirbt, ist länger tot" nicht anknüpfen kann) und Dominik Wesselys und Marcus Vetters Dokumentarfilm "Die Unzerbrechlichen".

NZZ, 18.01.2007

Georges Waser erzählt von dem Medienrummel, den das TV-Drama "The Trial of Tony Blair" in Großbritannien ausgelöst hat. Darin, wir schreiben das Jahr 2010, endet der ewige Premier nach einem Kriegsverbrecherprozess ganz unten, in einem NHS-Krankenhaus. Großartig findet Waser vor allem den Schauspieler Robert Lindsay: "Lindsays Stärke als Darsteller sind Verkörperungen von Männern auf der Grenze zwischen gesundem Verstand und Wahnsinn - wie zum Beispiel Richard III."

Besprochen werden Sonny Rollins' neuestes Album "Sonny Please", eine Ausstellung zu Kleopatra und ihre Cäsaren-Entourage im Hamburger Bucerius-Forum, die neuen Bände der Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe und Rana Dasguptas Erzählungen "Die geschenkte Nacht" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.01.2007

"Wir sind das Gegenteil von Wikipedia," zitiert Sonja Zekri den französischen Politikwissenschaftler Jacques Semelin, Initiator einer geplanten Online-Enzyklopädie über die Genozide des 20. Jahrhunderts und berichtet von Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff 'Völkermord'. "Der Holocaust war ein Genozid, ebenso wie die Ermordung der Armenier. Aber was ist mit der Auslöschung der Indianer? Was mit Darfur, wo der damalige Außenminister Joschka Fischer in eisigem Diplomaten-Deutsch 'genozidales Potential' erkannte - aber keinen Genozid? Es sind solche Fragen und ihre Konsequenzen, die die nun geplante Online-Enzyklopädie zu einem hochbrisanten historischen Onlineprojekt machen. Und es sind solche Überlegungen, die ihren Initiator Jacques Semelin dazu bewogen haben, die Webseite www.massviolence.org zu nennen: 'Wir vermeiden den Begriff Genozid', sagt Semelin, Politikwissenschaftler am französischen Studienzentrum für internationale Forschung (Ceri): 'Wir spielen ohnehin mit Dynamit.'"

Weitere Artikel: Johannes Willms berichtet von Widerständen in Frankreich, das Leugnen des türkischen Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen. In Israel hat die Arbeitspartei mit Raleb Majadele zum ersten Mal in der Geschichte Israels einen muslimischen Araber als Minister vorgeschlagen und damit eine heftige Debatte ausgelöst, die nicht frei von rassistischen Untertönen ist, berichtet Moshe Zimmermann. Andrian Kreye berichtet von einem Streit über die Bebauung der Upper East Side in New York, an dem Tom Wolfe nicht unwesentlich beteiligt ist. Und Lothar Müller geht beim Fahrradfahren in diesem warmen Januar die Frage durch den Kopf "Ist das noch Wetter, oder ist es schon Klima?"

Besprochen werden Doug Aitkens Videoprojektion "Sleepwalkers/Schlafwandler" auf der Fassade des New Yorker Museum Of Modern Art, Jacqueline Kornmüllers Inszenierung von Friedrich Hebbels "Maria Magdalena" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Xavier Giannolis Film "Chanson d'Amour" mit Gerard Depardieu (den Susan Vahabzadeh "elegant", "natürlich" und "meisterlich" findet), Gabriele Muccinos Film "The Pursuit of Happiness" mit Will Smith, (den Anke Sterneborg außerdem für diese Ausgabe interviewt hat), Dominik Wesselys und Markus Vetters Dokumentarfilm "Die Unzerbrechlichen" über die Wiederbelebung einer stillgelegten Glasbläserei im Bayrischen Wald, Harald Bergmanns Dichter-Film "Brinkmanns Zorn" und Bücher, darunter Michael Crichtons neuer Wissenschaftsthriller "Next", der heute in die Buchläden kommt und Stefan Weidners Arabienbuch "Fes" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 18.01.2007

Den ganzseitigen Aufmacher hat der Salem-Schüler Dustin Klinger geschrieben, der entgegen den Aufrufen seines Schuldirektors Bernhard Bueb zu Strenge und Selbstüberwindung ("Lob der Disziplin", Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste) eine Erziehung zu Demokratie für machbar hält. Gina Thomas glossiert den juristischen Misserfolg eines für ethnische Minderheiten ausgeschriebenen Literaturpreises in Großbritannien, der wegen umgekehrten Rassismus von den Gerichten kassiert wurde. Wolfgang Schneider verfolgte eine Lesung von Silvia Bovenschen und Ingo Schulze in Berlin. Hannes Hintermeier berichtet über einen sich abzeichnenden Kompromiss im jahrelangen Streit zwischen Verlegern und Übersetzern über deren Entlohnung (der die Zahl der Buchübersetzungen in Deutschland offensichtlich drastisch sinken ließ). Daniel Haaksman besucht das neue Lokal der Berliner Disco Cookies in Mitte.

Auf der Kinoseite erklärt der Physiker Klaus Wyborny, was bleibt, wenn man - wie er es seit den siebziger Jahren tut - Filme in hundertfacher Beschleunigung betrachtet. Verena Lueken konstatiert, dass Hollywood wieder mehr Rollen für ältere Frauen vorsieht - weil es sich bei dieser Altersgruppe wohl auch um das wichtigste verbliebene Publikum handelt. Und Andreas Klilb zeichnet amerikanische Diskussionen über eine Vergewaltigungsszene mit der 13-jährgen Schauspielerin Dakota Fanning in dem Film "Hounddog" nach.

Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld über Machtkämpfer im Spiegel. Gina Thomas stellt eine Fiktion (Trailer hier) des britischen Fernsehens vor, die einen abgehalfterten und verzweifelten Tony Blair im Jahr 2010 zeigt ("Die neue Präsidentin Hillary Clinton erwidert Blairs Anrufe nicht. Schlimmer noch: Um ihre Wiederwahlchancen nicht durch Loyalität zu einem alten Weggefährten ihres Mannes zu beeinträchtigen, schlägt sie sich auf die Seite derer, die Blair als Kriesgverbrecher vor den Haager Strafgerichtshof stellen wollen").

Auf der letzten Seite erinnert Bernd Noack ohne erkennbaren Anlass an die Theaterarchitekten Fellner & Helmer, die um 1900 ganz Europa mit ihren Prunkbauten vollstellten und dabei nach dem im Wiener Ringtheater im Jahr 1881 auch die Sicherheitsvorschriften revolutionierten. Christian Geinitz porträtiert den sächsischen Prinzen Alexander, der sich bedroht fühlt seit ein Zweig seiner Familie ohne sein Zutun Porzellan aus den sächsischen Sammlungen zurückfordert um es zu verhökern. Und Mark Siemons schreibt über eine regierungsamtlich initiierte chinesische Klassikeredition, die in mehreren Sprachen den Rest der Welt an die Kultur des Landes heranführen soll.

Besprochen werden eine Video-Installation Doug Aitkens' an und im New Yorker Moma, der Film "Chanson d'amour" mit Gerard Depardieu, Berlioz-Opern in Augsburg und Gelsenkirchen und ein Auftritt der Band Shitdisco in Hamburg.

Im Leitartikel auf Seite 1 beschreibt Regina Mönch noch einmal den rot-roten Sumpf der Ignoranz, der Wolf Bierman fast die Berliner Ehrenbürgerschaft verweigert hätte.

Zeit, 18.01.2007

Thomas Groß hat sich unter Pekings Jugend gemischt, die sich in Karaokebars und Großraumdiscos amüsiert, chillt und chattet, aber nur wenige Nonkonformisten hervorbringt. "Vielleicht ist der chinesische Pop dieser Tage tatsächlich nur der Begleitsound zum permanenten Schnurren der Wirtschaft. Vielleicht steht China der wahre Rock 'n' Roll auch noch bevor."

Ein wenig unappetitlich findet Thomas Assheuer das lateinamerikanische Gebräu aus "Populismus und Nationalismus", auf dem die neuen Galionsfiguren der internationalen Linke, Chavez und Lula, surfen, doch fest steht für ihn: "Das amerikanische Jahrhundert, die schlagende Verbindung aus Demokratieexport und Neoliberalismus, geht zu Ende, bevor es recht begonnen."

Weiteres: Tilman Spengler hat sich mit Gerhard Schröder dessen Porträt von Jörg Immendorff angesehen, das demnächst die Kanzlergalerie bereichern wird: "Das Bild könnte eine Banknote schmücken, eine hohe Banknote, ausgegeben von einem sehr, sehr verlässlichen Kreditinstitut. 'Stark', sagt Schröder." Mit Blick auf die französische Debatte um die Expansion des Louvre wundert sich Michael Mönninger über die Stimmen, die den Staat gern auf den vornehmen, aber bitte nur kostenlosen Kulturexport verpflichten wollen: "Wenn er das für Geld tut, gilt er als Kartoffelhändler." In der Leitglosse fragt Jens Jessen, an wen sich Dani Levy und Rolf Hochhuth mit ihren Hitler-Satiren eigentlich wenden. Volker Hagedorn bemerkt hohe Nutzerzahlen beim Mozart-Portal DME.Mozarteum.at, das alle Partituren des Komponisten online gestellt hat. Gert Kähler sieht in der neu gegründeten Bundesstiftung Baukultur vor allem eine verpasste Chance. Stefan Koldehoff berichtet, dass nun auch ein Spitzweg-Gemälde zum Restitutionsfall geworden ist. Konrad Heidkamp schreibt einen Nachruf auf die beiden Jazzmusiker Alice Coltrane und Michael Brecker.

Besprochen werden Clint Eastwoods "großartige" Filme über den Pazifikkrieg "Flags of our Fathers" und "Letters from Iwo Jima" (Jerome Charyn liefert die Rezension!) Marcus H. Rosenmüllers "Schwere Jungs", Kammersymphonien von Nikolai Roslavet, Klaus Kinskis "Jesus Christus Erlöser" als Hörbuch und Klaus Doldingers "Tatort"-Musik als moderner Klassiker.

Auf der Literaturseite unterhält sich Ursula März mit der Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders über Schriftsteller-Porträts. In einem Interview im Politikteil sieht der frühere polnische Außenminister und jetzige EU-Abgeordnete Bronislaw Geremek vor allem eine Aufgabe für Europa: "Wir müssen uns um das Glück der Menschen kümmern."

Welt, 18.01.2007

Im Aufmacher bekennt Paul Badde, dass ihm der "leidenschaftlich" geführte Streit über die Wiederzulassung der lateinischen Messe angesichts der "immer leerer werdenden Kirchen Deutschlands" etwas abstrakt vorkommt. Abgedruckt ist ein Manifest des Bonner Universitätsdozenten Heinz Lothar Barth für die Wiederzulassung. Und der Altkatholik Martin Mosebach behauptet im Interview: "Es geht um eine Renaissance, nicht um eine Restauration." Uta Bauer berichtet von einem Streit in Wuppertal über den Kulturpreis der Stadt: dessen Namensgeber Eduard von der Heydt war nämlich Mitglied der NSDAP. Hendrik Werner meldet, dass Ian McEwan einen Bruder hat, von dessen Existenz er über 50 Jahre lang nichts wusste. Johanna Schmeller stellt Bertha Leverton vor, die heute im Jüdischen Museum Berlin über Kindertransporte jüdischer Kinder nach England sprechen wird.

Besprochen werden Michael Crichtons Thriller "Next", der Film "Chanson d'Amour" mit Gerard Depardieu, Ryan Murphys Verfilmung von Augusten Burroughs Erinnerungen "Krass", der Film "Das Streben nach Glück" mit Will Smith, Darren Aronofskys Film "The Fountain" und der Film "Wer Feuer sät..." mit Tim Robbins.