Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2006. In der Welt beschreibt Michael Kleeberg das Ende der christlichen Dominanz im Libanon - mit seinen Folgen. Die taz hört Kinderrap aus Pyongyang. In der FAZ verteidigt Hans Neuenfels die charakterbildende Wirkung der Kunst gegen die charakterschädigende Wirkung von Computerspielen. Die SZ reist ins Kasachstan Deutschlands. Die Niederlage von SZ und FAZ im Prozess gegen den Perlentaucher hat zahlreiche Medienreaktionen ausgelöst. Der Perlentaucher bringt eine Presseschau.

Perlentaucher, 24.11.2006

Der Sieg des Perlentauchers in dem von FAZ und SZ angestrengten Prozess hat zahlreiche Medienreaktionen ausgelöst. Das Weblog Sehpferds sinnige Seiten schreibt: "Der Vorgang wirft viel Licht auf das Gebaren der deutschen Presse und zeigt deutlich, dass man einer deutschen Untugend verfallen ist: der Arroganz - denn sehr viele Presseerzeugnisse, unter ihnen eben auch die FAZ, haben den Anschluss zur journalistischen Realität des 21. Jahrhunderts längst verloren - und versuchen nun offenbar, auf dem Prozesswege verlorenen Boden gut zu machen." Mehr Reaktionen hier.

Welt, 24.11.2006

Nach dem Mord an dem christlichen Politiker Pierre Gemayel zeichnet der ortskundige Schriftsteller Michael Kleeberg nach, welche zwiespältigen Folgen das Ende der christlichen Dominanz im Libanon nach dem Bürgerkrieg hatte. Einerseits sei dadurch erst der Libanismus möglich geworden, der Versuch, einen Weg zwischen europäischer Kolonie, islamischer Theokratie und arabischem Despotentum zu finden. "Mit der Macht ist aber eben auch all das, was diese ungerechte Verteilung an positiven Nebeneffekten hatte, im Schwinden begriffen: die europäische Sprache, die als lingua franca das Land nach Europa hin öffnete, und damit eben nicht nur mafiöse Investoren und Bankiers, sondern auch die Aufklärung und die Idee der Freiheit, die Deklaration der Menschenrechte, die große Literatur, die Bedeutung der Bildung und den Anschluss an die Weltmoderne ins Land holte, das sich gerade dadurch positiv von allen anderen arabischen Ländern unterschied und für sie zum Luftloch nach draußen wurde."

Weiteres: Roland Pawlitschko berichtet über die Einweihung der noch von Le Corbusier entworfenen Kirche Saint-Pierre in Firminy. Wieland Freund stellt Hans-Georg Küppers vor, der als Kulturdezernent von Bochum nach München wechselt. Uta Baier spricht mit Martin Roth, dem Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, über die Ergebnisse des Raubkunstgipfels. Udo Muras liest eine Studie über den 1. FC Kaiserslautern im Nationalsozialismus. Besprochen werden eine Schau des amerikanischen Fotografen Ed Ruscha im Kölner Museum Ludwig und Amir Reza Koohestanis Stück über Selbstmordattentäter in Köln.

Gemeldet wird, dass der französische Schauspieler Philippe Noiret gestorben ist.

Auf dem Forum beschreibt Alexander Wendt, wie sich vor allem die Eliten in Deutschland gegen Einwanderer und Ostdeutsche abschotten und damit die Armut in diesen beiden Gruppen immer wieder reproduzieren. Er fordert Affirmative Actions: "Bei gleichem Talent müssen Ostdeutsche und Einwandererkinder in öffentlichen Institutionen so lange bevorzugt werden, bis ihr Anteil an Führungspositionen ihrem Anteil an der Gesellschaft entspricht... Natürlich beseitigt eine europäische Affirmative Action nicht das Unterschichtsproblem. Aber nur dann, wenn die Eliten in Deutschland bereit sind, die Glasdächer wegzuziehen, wird ein Luftzug durch das Land gehen, von dem möglicherweise auch ganz unten noch ein Hauch zu spüren ist und Vorbildwirkung ausgehen kann."

NZZ, 24.11.2006

Marc Zitzmann steht staunend vor Le Corbusiers Kirche Saint-Pierre in Firminy, die heute, 41 Jahre nach dem Tod des Architekten, eingeweiht wird: "Aus der Ferne mag sie an ein Kernkraftwerk erinnern: eine gedrungene Betonpyramide mit abgerundeten Kanten und schräg abgekappter Spitze. Aus der Nähe freilich strafen viele Details diesen ersten Eindruck Lügen."

Weiteres: Urs Hafner nimmt Stellung zu der geschichtspolitischen Debatte, die nun auch die Schweiz beschäftigt, seit Bundesrat Christoph Blocher kritisiert hat, dass das Leugnen eines Völkermords unter Strafe steht. Peter Hagmann berichtet von Neuerungen für das Orchester in Basel. Besprochen werden Uraufführungen des Royal Ballet und der Rambert Dance Company in London, das Handbuch zur sowjetischen Alltagskultur "Enzyklopädie der Banalitäten".

Auf der Medienseite fragt sich Rainer Stadler, ob die Heuschrecken in der Medienbranche wirklich eine Plage sind: "Das Interesse der Finanzbranche an der Presse kann man auch als positives Zeichen interpretieren, nämlich als Zeichen dafür, dass die seit Jahren von Einnahmenausfällen geplagten Zeitungen eine Zukunft haben. Es bleibt allerdings die Frage, ob es den Finanzgesellschaften um mehr geht als um die Aktivierung von stillen Reserven und die Ausschöpfung von unterbewerteten Medienhäusern."

Auf der Filmseite berichtet Vinzenz Hediger vom Duisburger Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms. Besprochen werden John Cameron Mitchells Hardcore-Soap "Shortbus", Michael Caton-Jones' Ruanda-Drama "Shooting Dogs" und Sydney Pollacks Porträt von Frank O. Gehry.

Berliner Zeitung, 24.11.2006

Für die Seite 3 hat Christian Esch die beiden neuen Investoren im Suhrkamp-Verlag besucht, Claus Grossner und Hans Barlach. "Hans Barlach, den sonnengebräunten Arbeiter in Kunst und Kultur, wundert es nicht, dass Ulla Berkewicz so viel Einfluss übernehmen wollte. 'Witwen sind so aufgestellt', formuliert er. Er ist ja selbst mal 'Täter' gewesen, hat 1977 die Nachlassverwaltung angetreten für das Werk des Großvaters Ernst Barlach - im Nebenzimmer stehen dessen Plastiken, ein Gekreuzigter schaut von der Wand. 'Wenn Sie die Inkarnation des Erblassers werden, sind Sie in Gefahr, die Wirklichkeit zu verlieren.' Das, sagt Barlach, 'ist ein Thema, das ich intellektuell begreife.'"

TAZ, 24.11.2006

Andreas Hartmann stellt Alan Bishop und sein Plattenlabel Sublime Frequencies vor. In Seattle entsteht Weltmusik der anderen Art, wie etwa die Compilation "Radio Pyongyang: Commie Funk and Agit Pop from the Hermit Kingdom", in der Radiosendungen Nordkoreas verwurstet werden. "'Schmaltzy Synthpop, Revolutionsrock und frechen Kinderrap' verspricht sie im beiliegenden Booklet. Das ist doch was: frecher Kinderrap aus Nordkorea, darauf hat man gewartet. Bislang wusste man nicht einmal, dass es in diesem traurigen Land überhaupt Musik jenseits von Märschen zu Ehren des großen Führers zu hören gibt, und dann gleich so etwas. Plötzlich eröffnet sich vor einem eine Welt aus wunderbar pathetischem Chorbombast und Synthiekitsch, einer Mischung aus einer Karaokeversion von Laibach und derzeit angesagtem Achtzigerjahre-Revival. Man kann auch Popmusik dazu sagen."

Die Besprechungen widmen sich Stefan Hayns Filmessay "Malerei heute", Steve Mumfords Zeichnungen "Bagdad Journal - Bilder aus dem besetzten Irak" sowie Hip-Hop-Alben von Jay-Z, the Game und Snoop Dogg.

Und hier Tom.

FR, 24.11.2006

Eine "pubertäre Schmähung" ist das Vorhaben der Architekten Coop Himmelb(l)au, die Frankfurter Großmarkthalle Martin Elsaessers "wie eine rückgratlose Leberwurst schräg durchzuschneiden", damit ihr geplantes Gebäude für die Europäische Zentralbank keine architektonische Konkurrenz hat, schimpft Hubertus von Allwörden, selbst Architekt.

Weitere Artikel: Angela Keppler, Direktorin des Instituts für Medien und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim, erklärt im Interview den Begriff "Gewalt-Kommunikation". Ventzislav Borissov und Nedjalko Nedjalkov erzählen im Interview vom Theaterprojekt "Cargo Sofia", für das sie Stefan Kaegi von Rimini-Protokoll engagiert hat. In diesem Stück kutschieren sie die Zuschauer in einem LKW durch die Stadt und erzählen ihrem Publikum Geschichten aus dem Lastwagenfahrerleben. Besprochen wird die Ausstellung "In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon: Fotos aus dem Archiv aus drei Jahrhunderten" im Schiller-Nationalmuseum Marbach.

Tagesspiegel, 24.11.2006

Peter von Becker hält es an der Zeit, den Durchbruch der drei Theatermacher von Rimini Protokoll zu verkünden. "Rimini ist das Heißeste, intelligent Überraschendste, das die internationale Theaterszene derzeit zu bieten hat. Und darum erhalten die Rimini-Köpfe Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel inzwischen Anrufe nicht nur von den großen deutschsprachigen Schauspielhäusern, sondern von Festivals, Firmen und Institutionen aus allen Kontinenten. Damit protzen sie nicht: die drei mit stillem Selbstbewusstsein begabten Mitt-/Enddreißiger, die vor zehn Jahren am berühmt berüchtigten Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft studiert haben; dort, wo jeden Morgen selbst die Post als Postmoderne klingelt."

FAZ, 24.11.2006

Der Regisseur Hans Neuenfels will gewalttätige Computerspiele im Gespräch mit Eleonore Büning nicht als Kunst verstanden wissen. "Kunst ist immer auch eine Aufforderung zur Kommunikation, während die Killerspiele eher eine Fixierung des Ichs bedeuten: Wieder und wieder wird das Ich immer nur abgespeichert - als Bestätigung von etwas, das nie in Frage gestellt werden darf." Wahre Kunst dagegen kann Jugendlichen problemlos verabreicht werden. "Zum Beispiel habe ich viele Schwierigkeiten meiner Pubertät mit Malte Laurids Brigge von Rilke und James Joyces 'Ulysses' überbrückt. Wobei die schöne Sprache vielleicht das Sekundäre war. Auch die Beatles hatten bestimmt einen edukativen Einfluß auf die Charakterbildung in diesen Jahren."

Weiteres: Der Amoklauf von Emsdetten sorgt dafür, dass Andreas Rosenfelder der Schulhof-Simulation "Canis Canem Edit" auf der ersten Seite Unbedenklichkeit bescheinigt. Jochen Hieber schreibt in gedämpftem, aber nicht konkret unglücklichen Ton über die absehbare Verpflichtung von Günther Jauch als Nachfolger von Sabine Christiansen in der ARD. Christian Geyer empfiehlt ein Gespräch von Bartholomäus Grill und Robert Spaemann über Sterbehilfe im Stern. Clemens Meyer gratuliert dem achtzigjährigen Schriftsteller Werner Heiduczek zum Geburtstag. Wolfgang Burgdorf stärkt im Zypernkonflikt der Türkei den Rücken und empfiehlt eine Kombination aus Annan-Plan und Aufhebung des Embargos.

Im Medienteil vermutet der Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, Bernd Wilms, bei Anhängern von Soap-Operas eine Angst vor guten Schauspielern. "Peter Lorre könnte tatsächlich ein Mörder sein, Philip Seymour Hoffman ein Wahnsinniger." Auf der letzten Seite kolportiert Charlotte von Frydag, dass sich Historiker nun streiten, ob die Varusschlacht wirklich an der Stelle des heutigen Kalkriese stattfand, während Andreas Rossmann Münchens künftigen Kulturreferenten Hans-Martin Küppers vorstellt.

Besprochen werden Hans Steinbichlers "aufregender" Film "Winterreise", William Forsythes zwanzigminütige Choreografie "Rong" im Bockenheimer Depot von Frankfurt, eine Ausstellung mit österreichischer Porträtmalerei des jungen 19. Jahrhunderts in der Wiener Galerie Belvedere, die Uraufführung von Caryl Churchills neuem Stück "Drunk enough to say I love you" im Londoner Royal Court, und Bücher, darunter Nicholas Shakespeares Roman "In dieser einen Nacht", Claus-Steffen Mahnkopfs "Kritische Theorie der Musik" und Lavinia Greenlaws Gedichte "Minsk" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 24.11.2006

Ruhrgebiet Kulturhauptstadt? Sonja Zekri reist ins deutsche Herz der Finsternis: "Für Unbedarfte ist das Ruhrgebiet so etwas wie das Kasachstan Deutschlands. Sie waren nie da, sind aber fest von seiner bizarren Rückständigkeit überzeugt. Und selbst unter Gebildeten herrscht oft ein zoologisches Staunen: Intelligentes Leben in einer so feindlichen Umgebung? Der Hammer! In diesen Tagen hüllt der endlose Herbst die Region in eine wunderbare giftige Wärme. Zwischen den Asphaltwüsten der Gewerbegebiete leuchten die Bäume golden wie auf einem Klimt-Gemälde - oder wie im Fieber. Das Klima ist derzeit ein wenig überhitzt zwischen Wesel und Bergkamen, jedenfalls bei allen, die mit der Kulturhauptstadt 2010 zu tun haben. Das hat wenig mit Wesel zu tun und viel mit Wien. Aber dazu später."

Kaum hat Michael Schindhelm seinen Posten als Direktor der Berliner Opernstiftung hingeschmissen, mucken die Intendanten der Opern gegen seine Reformpläne auf. Nach Andreas Homoki (Komische Oper) hat nun auch Kirsten Harms (Deutsche Oper) die Pläne kritisiert, berichtet Jörg Königsdorf. "Tatsächlich zeigen die Reaktionen der Intendanten, wie schwierig es sein wird, unter den Sparauflagen des Senats ein Konzept zu erarbeiten, das alle zufriedenstellt: Obwohl Schindhelms Papier in allen Häusern abgelehnt wird, waren die Chefs zu keinem gemeinsamen Protest in der Lage. Und das ist schon fast ein Argument für eine Generalintendanz."

Weitere Artikel: Der Papst reist nach Istanbul, um das Schisma zu überwinden, das Katholiken und Orthodoxe seit 1054 spaltet, behauptet Alexander Kissler. Volker Breidecker berichtet von einem Krach in der Stiftung der Malerin Marie-Louise von Motesiczky. Dorion Weickmann war dabei, als die PDS in Bad Frankenhausen "Kultur neu dachte". Hans Neuenfels spricht im Interview über Mozart, dessen "Zauberflöte" er in Berlin jetzt erstmals inszeniert. Und der junge polnische Theaterregisseur Jan Klata spricht im Interview über sein Stück "Transfer", eine "Collage aus den meist schockierenden Erinnerungen von Deutschen und Polen, die 1945 ihre Heimat verloren haben".

Besprochen werden Caspar David Friedrichs "Jahreszeiten" im Berliner Kupferstichkabinett, Martin Grubingers Schlagzeugmarathon in Wien, ein Beethoven-Konzert mit Andras Schiff in München, Matthias Hartmanns Inszenierung von David Harrowers Missbrauchsdrama "Blackbird" am Schauspielhaus Zürich, Milos Formans Film "Goyas Geister" und Bücher, darunter Ben Hechts Geschichten aus Deutschland 1919 "Revolution im Wasserglas" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).