Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2006. Die taz staunt über den abgrundtiefen Sadismus der "Peanuts". Die NZZ vermutet nach al-Dschasira, al-Arabiya, al-Hurra und al-Alam, dass auch France 24 politischen Zwecken dienen wird. Die Welt berichtet über neuen Ärger im Hause Suhrkamp. Die SZ findet den Dresdner Bahnhof etwas putzig.

TAZ, 17.11.2006

Martin Zeyn rühmt das Oeuvre des großen Charles M. Schulz, das nun in einer Werkausgabe gebührend gewürdigt wird: "Brutale Kinder gibt es seit dem Beginn der Comics: beim 'Yellow Kid', bei 'Max und Moritz' oder deren amerikanischem Ableger 'Katzenjammer Kids'. Überall finden sich hier Rabauken, die fies, ja brutal agieren. Charles M. Schulz' 'Peanuts' unterscheiden sich davon grundlegend... Die körperliche Gewalt in diesem Strip ist vergleichsweise harmlos: In all den 49 Jahren, in denen der Comic ab 1950 erschien, trägt niemand ernsthafte Blessuren davon. Aber der abgrundtiefe Sadismus, mit dem die Kinder psychologisch geschickt und entsprechend perfide einander quälen und erniedrigen, ist schockierend. Violet geht auf Charlie zu und lädt ihn zu ihrer Party ein. Als dieser verwirrt zusagt, weil er so viel Zuneigung nicht erwartet hat, erwidert sie: 'Ach, ich mach's doch nicht.'"

Weiteres: Harald Fricke fragt sich, warum es Klaus Wowereit so eilig hat, "die Opernstiftung gegen die Wand zu fahren: "Wer draufhaut, hat trotzdem nicht recht." Auf der Meinungsseite schreibt Ulrike Hermann in der Reihe zur Rückkehr der Klassengesellschaft: "Zum Drama der echten Unterschicht gehört nicht allein, dass sie sehr häufig Hartz IV bezieht - sondern dass sie nur andere Hartz-IV-Empfänger kennt." Besprochen werden Zack Condons "großartig verwirrtes" Debütalbum "Gulag Orkestar" und das neue Album "Studio 1" der All Saints.

Und Tom.

NZZ, 17.11.2006

"Der Kampf ums Weltbild findet heute auf dem Bildschirm statt." Weltweit zu empfangende Nachrichtensender werden zunehmend als politischer Hebel erkannt, beobachtet auf der Medien- und Informatikseite die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel zum Start des englischsprachigen al-Dschasira (hier der Bericht dazu). Die Branche floriert. "2003 wurden vor dem Hintergrund des jüngsten Irak-Kriegs in Dubai al-Arabiya und in Iran al-Alam gegründet - zwei Sender, durch die die arabischen Länder weltweit eine noch hör- und sichtbarere Stimme bekommen sollten. Die USA gingen im Gegenzug Anfang 2004 mit al-Hurra auf Sendung. 2005 haben sich die Regierungen von Venezuela, Argentinien, Kuba und Uruguay zusammengetan, um die lateinamerikanische Telesur zu gründen; im gleichen Jahr startete Russia Today ein englischsprachiges 24-Stunden-Programm aus Moskau. Und in Frankreich laufen die Vorbereitungen für einen französisch- und englischsprachigen Nachrichtensender: France 24."

Weiteres: In einer neuen, recht bissigen Studie zum deutschen Journalismus werden Deprofessionalisierung und Rechercheschwächen ebenso festgestellt wie "eine bemerkenswerte Fähigkeit der Journalisten, sich in einer bloß 'gefühlten Wirklichkeit' einzurichten", resümiert H.Sf. Gemeldet wird außerdem, dass laut modifizierter EU-Fernsehrichtlinie wahrscheinlich bald Produkte in Fernsehsendungen platziert werden dürfen und dass Windows Vista bald kommt.

Für das Feuilleton besucht Sergiusz Michalski das von Pekka Vapaavuori errichtete Eesti Kunstimuuseum in Tallinn ein gutes halbes Jahr nach der Eröffnung. Besonders die Epoche von 1900 bis 1960 hat es ihm angetan."Trotz der politischen und artistischen Randlage gelang es dem kleinen Volk in dieser Zeit in mehreren stilistischen Bereichen, so im expressiven Symbolismus, in der Neuen Sachlichkeit (Felix Randel), der Abstraktion (Arnold Akberg) und in vielen figurativen Bildern der dreißiger Jahre, ein im europäischen Maßstab sehr hohes künstlerisches Niveau zu erreichen. Die Bedrohungen der späten dreißiger Jahre und des Krieges werden in expressiven Cafeszenen und Innenraumansichten wiedergegeben, bei denen das Gefühl der bleiernen Angst gleichsam mitschwingt."

Weitere Artikel: In England ist eine Diskussion entbrannt, ob das Museum im englischen Bury mit dem Verkauf eines Werkes von L. S. Lowry seinen Schuldenberg abtragen darf, berichtet Georges Waser (Hier kann man protestieren und sich das Bild ansehen). Marc Zitzmann hat sich beim Pariser Herbstfestival amüsiert, wo er von Veteranen der Pariser Kulturelite als Handtaschenablage benutzt wurde: "O pardon, Monsieur, ich hielt sie für einen Hocker." Jan-Werner Müller kann das liberale Manifest von Bruce Ackerman und Todd Gitlin nicht hinter dem Ofen hervorlocken.

Eine Besprechung widmet sich einer Ausstellung mit Fotografien der Künstlerin und Bildjournalistin Lee Miller im Kunstmuseum Wolfsburg.

Welt, 17.11.2006

Uwe Wittstock fürchtet, dass sich die Krise im Hause Suhrkamp zu einer lebensbedrohlichen auswachsen könnte: "Ulla Berkewicz will die neuen Anteilseigner nicht akzeptieren. Im Gegenzug bezeichnet Barlach sie öffentlich als 'überfordert' und rät ihr, die Geschäftsführung in kompetentere Hände abzugeben'. An Verdächtigungen und Vorwürfen ist von beiden Seiten kein Mangel."

Eckhard Fuhr fürchtet, dass Berlin bei einer Opernschließung vor allem immense psychologische Schäden davontragen würde: "Berlin müsste sein Selbst-, vor allem aber sein Zukunftsbild korrigieren. Sein Ehrgeiz, nicht eine, sondern die deutsche Kulturmetropole zu sein, erschiene nach einer solchen symbolischen Kapitulation vor der ökonomischen und fiskalischen Wirklichkeit als Hybris. Gegen diese Wirklichkeit eine Idee von sich zu haben, ist aber das Einzige, was Berlin voranbringt."

Weiteres: Hendrik Werner möchte endlich etwas gegen die Vandalen bei Wikipedia unternommen wissen. Gernot Facius läutet das kirchliche Elisabethjahr ein. Michael Pilz unterhält sich mit dem Beatles-Produzenten George Martin, der gerade das neue Fab-Four-Album "Love" herausbringt. Besprochen wird John Adams und Peter Sellars beim Mozart-Festival "New Crowned Hope" uraufgeführte Oper "A Flowering Tree", die Ulrich Weinzierl als "E-Klasse des Genres von Andrew Lloyd Webber" bezeichnet.

FAZ, 17.11.2006

Hannes Hintermeier belegt im ausführlichen Aufmacher, dass bei Grabungsarbeiten im einzig verbliebenen Kellergeschoss des "Braunen Hauses" in München nichts Aufsehenerregendes gefunden wurde - an der Stelle der einstigen NSDAP-Zentrale soll ein NS-Dokumentationszentrum errichtet werden. Eric Pfeil durfte der Präsentation eines "neuen" Beatles-Albums zuhören, das aber nur aus neu abgemischten alten Bändern besteht. In der Leitglosse analysiert Gina Thomas die in London beschlossene höhere Steuer auf Allradwagen, mit denen laut Bürgermeister Ken Livingstone ohnehin nur "absolute Idioten" herumfahren, als einen Fall von Sozialneid. Jordan Mejias meldet, dass das Metropolitan Museum in einer Ausstellung mit Porträts aus der Weimarer Zeit auf zwei Grosz-Gemälde aus dem Moma verzichtet, weil deren Provenienz umstritten ist. Claus Peter Müller fragt: Wem gehören die Handexemplare der Grimmschen Märchensammlung. Gina Thomas berichtet über Streit um Verwaltungsreformen in der Universität von Oxford. Michel Gassmann besucht das Liszt-Haus und andere dem Komponisten gewidmete Erinnerungsorte in Weimar.

Auf der Medienseite erzählt der ZDF-Journalist Michael Schmitz, wie er sich des unbegründeten Verdachts auf Stasi-Mitarbeit erwehren musste. Und Jochen Hieber verbrachte in schonungslosem Selbstversuch einen Tag mit Sat 1. Auf der letzten Seite fordert Georg Heuberger von der Jewish Claims Conference im Interview mit Rose-Maria Gropp und Heinrich Wefing verstärkte Recherchen deutscher Museen nach der Herkunft ihrer Werke. Jordan Mejias berichtet über Streit um die Frage, wer nun eigentlich Tony Judts in New York geplanten und dann abgesagten Vortrag über die "Israel-Lobby" verhindert haben soll. Und Dieter Bartetzko porträtiert das neue Bond-Girl Vesper Lynd alias Eva Green.

Besprochen werden die Ausstellung "Asmara - Afrikas heimliche Hauptstadt der Moderne" in Berlin und Sachbücher, darunter Peter Watsons Band "Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne".

FR, 17.11.2006

Einen "Wirtschaftskrimi" beobachten Ina Hartwig und Peter Michalzik bei Suhrkamp. Die neuen Minderheitengesellschafter Hans Barlach und Claus Grossner zweifeln die wirtschaftliche Solidität des Verlags an und wollen deshalb die Bilanzen einsehen. "Sollte die 'angestellte Geschäftsführerin', wie Grossner Ulla Unseld-Berkewicz nennt, das verweigern, werden die alten und neuen Eigner auf einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung bestehen. 'Ulla Unseld-Berkewicz hat als Geschäftsführerin eine Reihe von Pflichten, wie etwa Bilanzen ordnungsgemäß zu verabschieden', sagt Grossner. Genau das allerdings sei in den vergangenen Jahren nicht geschehen. 'Warum', fragt Grossner, 'musste der Verlag letztes Jahr eine Sonderabschreibung auf Genussscheine vornehmen?' Das hieße, wagt er sich vor, Suhrkamp habe Genussscheinspekulationen getätigt und dabei eine Million Euro verloren. 'Das ist nicht im Sinne der Gesellschafter. Außerdem hat es keine Berichte an den Beirat gegeben, wie es dem Willen von Siegfried Unseld entspräche. Überhaupt hat es keine Trennung von privaten und öffentlichen Belangen gegeben.'"

Julian Nida-Rümelin
fürchtet, dass die Geisteswissenschaften durch Bologna-Prozess und Exzellenzinitiative um 600 Jahre zurückfallen. "Die Geisteswissenschaften erhalten wieder den Status der artes liberales der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität: eher propädeutisch und bildend, eher im Vorfeld als im Zentrum der universitas. Der Zustand der US-amerikanischen humanities ist jedenfalls besorgniserregend - marginalisiert und zu- gleich hochgradig ideologisiert mit umstrittenen Standards wissenschaftlicher Seriosität. So muss es nicht kommen, aber die Wahrscheinlichkeit dafür dürfte gestiegen sein."

Weiteres: In der Serie über das neue Prekariat beobachtet Harry Nutt alte Rocker am Bahnhof Zoo. Harry Nutt begrüßt in einer Times mager auch Andre Schmitz als Kulturstaatssekretär Berlins, misstraut aber nach wie vor Klaus Wowereit. Jean Nouvel erhält den Frankfurter Hochhaus Preis, für den poppigen "Torre Agbar", der laut Christian Thomas schön paradox in der "Low Kultur" gründet.

SZ, 17.11.2006

So richtig begeistert ist Christiane Kohl nicht von dem fast fertig renovierten Dresdner Hauptbahnhof. "'Wir haben das Neue und das Alte miteinander vermählt', meint (Norman) Foster zu seinem Entwurf. Allerdings ist es bislang noch nicht gelungen, die bombastische Bahnhofshalle mit der Dresdner Innenstadt zu verbinden. Der Haupteingang wird von den Dresdnern nämlich praktisch kaum benutzt. Direkt vor dem großen Bogenportal kreuzt sich die Bahnüberführung mit einer vierspurigen Durchgangsstraße - Fußgänger haben hier nichts verloren. Aber das ist vielleicht auch gut so, denn dadurch dürfte den Besuchern kaum auffallen, dass ausgerechnet an der Fassade des Hauptportals gepfuscht wurde: Statt Sandsteinplatten haben die Handwerker hier gelblich-beigen Putz auf die Wände gekleistert - als Sandsteinimitat." Das hat Methode in Dresden, so Kohl mit Blick auf den Neumarkt und die Kopien Frauenkirche, Hotel de Saxe ("von außen ein vermeintlich putziges Barockgebäude, innen jedoch ein Steigenberger von der Stange") Coselpalais und Residenzschloss.

Weitere Artikel: Jürgen Flimm, neuer Intendant der Salzburger Festspiele, stellt im Interview Pläne und Projekte für 2007 vor. Thomas Thiemeyer war bei einer Tagung über "Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinuität" in Dresden. Andrian Kreye meldet, dass Prince in Las Vegas einen eigenen Club eröffnet hat.

Besprochen werden die Beatles-CD "Love" (bravouröser Bastard-Pop, findet Johannes Waechter), Mozarts "Cosi fan tutte" im Schlosstheater Sanssouci, die Ausstellung "Portraits publics, portraits prives 1770 - 1830" im Pariser Grand Palais, Anno Sauls Film "Wo ist Fred?" mit Til Schweiger und Jürgen Vogel, ein Konzert des Pianisten Pierre-Laurent Aimard in München und Bücher, darunter Peter Esterhazys "Einführung in die schöne Literatur" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).