Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2006. In der NZZ beschreibt der ukrainische Essayist Mykola Rjabtschuk, wie Tschernobyl für ihn das Ende der Sowjetunion einläutete. Die Welt stellt den ersten 9/11-Blockbuster vor. Die Berliner Zeitung fragt, warum in Deutschland Filmfirmen subventioniert werden. In der taz erzählt Wladimir Kaminer, wofür man in Deutschland wirklich starke Nerven braucht. Die SZ warnt nach dem rassistischen Überfall in Potsdam vor einem Entrüstungsmaximalismus. Die FAZ stellt die "Generazione 1000 Euro" vor. FR, SZ und FAZ bewundern Christoph Nels "Parsifal"-Inszenierung in Frankfurt.

NZZ, 25.04.2006

Für den ukrainischen Essayisten Mykola Rjabtschuk war Tschernobyl der Anfang vom Ende des Sowjetimperiums: "Trotz allem ordnete die Führung an, den 'Internationalen Tag der Solidarität mit den Werktätigen in der ganzen Welt' am 1. Mai in der üblichen Weise mit einer Massenparade zu feiern - als ob nichts geschehen wäre. Es war ein veritables 'Gastmahl zur Zeit der Pest', ein klarer Beweis der inneren Dekadenz des Sowjetsystems und eine grausige Prophezeiung seines unausweichlichen Zerfalls ... Für die Bewohner der Ukraine, also sowohl für die Russen als auch für die Ukrainer, war die Katastrophe ein klares Zeichen dafür, dass sie im selben Boot saßen und dass Moskau nicht nur eine fremde, sondern auch eine feindliche Hauptstadt für alle war."

Weiteres: Georges Waser berichtet von der "Amarna Princess", einem der ägyptischen Zeit der Tutanchamun-Dynastie zugeschriebenen Alabastertorso, von dem zu vermuten steht, dass es sich um eine schnöde Fälschung ("mit einem ungefähren Datum von 2003 A. D.") handelt. Sieglinde Geisel blättert in der Kulturzeitschrift "Sinn und Form", Christoph Funke widmet sich einigen ambitionierten Theater-Projekten zu Brechts 50. Todestag im August ("Es geht um Spaß am Denken").

Besprochen werden u.a. Sandor Marais Verhaltenslehre "Schule der Armen", Daniel Banulescus literarische Abrechnung mit dem Ceausescu-Regime "Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer" und Dietmar Daths Briefroman "Die salzweissen Augen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 25.04.2006

In den USA läuft in dieser Woche mit Paul Greengrass' "United 93" der erste Hollywoodstreifen über den 11. September an. Nach der diesmal schnelleren Literatur macht sich nun der Film an die Geschichtsarbeit, schreibt Wieland Freund. "In Amerika bleibt es dem Kino vorbehalten, die Katastrophe als Mythos nach Hause zurückzuholen, sich die entwendeten Darstellungsmuster wieder zu eigen zu machen, und die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Im Jahr Fünf nach den Anschlägen löst sich Hollywood aus der Schockstarre. Und für den Verarbeitungsprozess ist es am Ende wichtiger, daß es die Filme gibt, als was sie erzählen. Mit 'United 93' und 'World Trade Center' beweist sich Amerika als Amerika. Filmkritiker sprechen deshalb in diesen Tagen allen Ernstes vom '9/11-Blockbuster'."

Weiteres: Lutz Hübners Theaterstück "Ehrensache", das auf einem realen Fall basiert, darf in Hagen wegen einer Klage der Mutter des Opfers nicht aufgeführt werden, berichtet Stefan Keim, der das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vorschnell findet. Ein "Staatsstreich" hat in den vergangenen Jahren in Russland stattgefunden, meint der Schriftsteller Viktor Jerofejew in Anspielung auf Wladimir Putin, und erschöpft sich in seiner Umschreibung des Vorgangs mit Bildern von Wetterumschwüngen und Dauerregen. Constanze Klementz hält die wissenschaftlichen, sozialen und politischen Erwartungen, die auf dem Tanzkongress an das Metier gerichtet wurden, für künstlerisch kontraproduktiv. Berthold Seewald verbindet die Beschlagnahmung mutmaßlicher Raubkunst in der Villa der ehemaligen Getty-Kuratorin Marion True auf Paros und einem Haus auf Schinoussa. Eckhard Fuhr schwärmt von Gaston Phoebus' mittelalterlichem "Buch der Jagd", das jetzt für 6980 Euro als Faksimile zu haben ist.

Für das Magazin begleitet Jens Hartmann die Frau von Michail Chodorkowski beim Besuch ihres Mannes im Straflager JaG 14/10 in Krasnokamensk.

Besprochen werden Jürgen Goschs "großartig schiefgegangene" Inszenierung von Maxim Gorkis "Nachtasyl" am Hamburger Schauspielhaus und Christoph Nels Version von Wagners "Parsifal" an der Frankfurter Oper.

Berliner Zeitung, 25.04.2006

Birgit Walter berichtet über die versteckte Subventionierung der Filmbranche durch die staatliche Arbeitslosenversicherung, die seit Einführung der Hartz-Gesetze die Mehrheit der Schauspieler benachteiligt, die Produktionsfirmen aber begünstigt: "Der Schauspieler ist abhängig von Produktionsstäben, die ihren Spardruck ungehemmt an ihre Klientel weitergeben, kleine Gagen und Sozialabgaben drücken. Trotzdem wird in Deutschland weiter Klein-Hollywood gespielt, sind Tagesgagen von 12 000 Euro keine Ausnahme, wird Star-Gebaren finanziert ('Herr X. fährt nicht Taxi, der Fahrer seiner Limousine hat bitte 20 Jahre unfallfreies Fahren nachzuweisen.') Das richtige Hollywood glänzt natürlich mit anderen Gagen und Marotten, es lässt sich seinen Apparat aber auch nicht vom Staat in Stellung halten. Insofern ist nicht einzusehen, warum die Zumutungen der neuen Hartz-Gesetze allein die Künstler treffen, in keinem Punkt aber die Produktionsfirmen. Selbst öffentlich geförderte Filmproduktionen sind nicht an soziale Bedingungen für die Beschäftigten geknüpft."

TAZ, 25.04.2006

Der Autor Wladimir Kaminer erzählt von der Mühsal, vor dem Berliner Theatertreffen als Juror für den Stückemarkt 557 Dramen zu lesen: "Man muss starke Nerven haben, um wenigstens eins ganz durchzulesen. Theaterstücke bestehen in der Regel nur aus Dialogen, die sich über mehrere Seiten hinziehen und oft keinen Sinn ergeben. 'Margot: Zieh! Zieh! Heinz: Ja ja. Margot: Zieh! Moritz: Stirb! (Orgasmus). Tot. Heinz: Gut. Margot: Danke. Heinz: Schon gut. Margot: Gut. Ja. Wie geht es dir?' und so weiter und so fort. Natürlich ergeben sich irgendwann aus diesen Gesprächen Handlungen und manchmal sogar interessante Geschichten, doch bis dahin dauert es."

Weiteres: Hortense Pisano stellt nach einem Besuch der Ausstellung "Jugend von heute" in der Frankfurter Schirn fest, "dass die Jugend in der Schirn kein gutes Bild abgibt". Christian Broecking stellt den Berliner Trompeter Axel Dörner vor, der mit dem SWR-Jazzpreis ausgezeichnet wird. Ganz vorbildlich findet Andreas Merkel, wie es die Zeitschrift Der Freund in ihren acht Ausgaben geschafft hat, "die Welt durch gnadenlose Affirmation und gepflegten Ennui vom Leib zu halten".

Besprochen werden Rudolf Thomes Film "Du hast gesagt, dass du mich liebst" und zwei Hamburger Premieren: Andreas Kriegenburgs "Die schmutzigen Hände" und Jürgen Goschs "Unten (Nachtasyl)".

Und Tom.

FR, 25.04.2006

Einen Durchbruch hat Hans-Klaus Jungheinrich bei der neuen "Parsifal"-Inszenierung an der Frankfurter Oper anzuzeigen. Regisseur Christof Nel habe hier sein "Meisterstück" abgeliefert, schwärmt Jungheinrich: "Eine Interpretation, die, kühn jüngere Traditionen verlassend, die Rezeption der Weihe- und Erziehungsoper in Neuland vorantreibt. Und dabei auf ein äußerst wichtiges, aber oft vernachlässigtes Grundmotiv Wagners rekurriert: auf die Reaktivierung und Restituierung des Mitleids. Nicht vergessen, aber fürs erste beiseite gelegt ist mithin die Gralsgemeinschaft als faschistoider Männerbund. In Nels Ritterschaft herrschen allerwegen Mitleid und Zuwendung in vielen auffälligen Details, nicht zuletzt bei der sorgenden Pflege um den moribunden Schmerzensmann Amfortas."

Weiteres: Der Erziehungswissenschaftler und Philologe Markus Messling kritisiert das "Bündnis für Erziehung", das Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit den christlichen Kirchen plant. "Wir brauchen keine Rückbesinnung auf diese historisch problematischen Werte, sondern eine Rückbesinnung auf unsere politisch-liberale Kultur." In Times mager imaginiert Ursula März aus aktuellem Anlass Familienanrufe ins Grab.

Besprochen werden Jürgen Goschs mittlerweile dritte Inszenierung von Maxim Gorkis "Nachtasyl" und Andreas Kriegenburgs Version von Sartres "Schmutzigen Händen", beide in Hamburg.

SZ, 25.04.2006

Ijoma Mangold warnt nach dem rassistischen Überfall von Potsdam vorsichtshalber vor einem "Entrüstungsmaximalismus" und beschwichtigt: "Es werden vermutlich auch künftig Menschen dunkler Hautfarbe als 'Scheißnigger' beschimpft werden, schön ist das nie, aber trotzdem ist Deutschland ein Ort, wo Menschen mit fremden Gesichtern gut leben können. Die andere Seite der Ausländerfeindlichkeit ist nicht die Ausländerliebe, sondern die Verlässlichkeit, dass die Mehrheitsgesellschaft und ihre staatlichen Institutionen fremdenfeindliche Ressentiments politisch nicht decken."

Franziska Augstein besucht den linken Publizisten Tariq Ali, der in seiner schriftstellerischen Freiheit vom Klassenfeind gerade arg drangsaliert wird: "Wenn George W. Bush Iran angreift, dann durchkreuzt er Tariq Alis Arbeitspläne. Ali arbeitet an einem neuen Roman. Belletristik kann er aber nur schreiben, wenn die Weltpolitik Ruhe gibt. Tut sie es nicht, macht sie Ali zum politischen Publizisten."

Weitere Artikel: Alexander Menden informiert, dass Tony Blair nicht nur den Rückhalt in seinen eigenen Reihen verliert, sondern auch in den "chattering classes". Eva-Elisabeth Fischer berichtet vom Tanzkongress "Wissen in Bewegung" in Berlin. Dorion Weickmann berichtet vom Symposion "Unternehmen, Staat und Globalisierung" im Wissenschaftszentrum Berlin.

Besprochen werden Christoph Nels "Parsifal" in Frankfurt (dem Wolfgang Schreiber für alles Musikalische "lautstarke Ovationen" spendet), die Schau "Das frühe Porträt" im Kunstmuseum Basel, zwei Ausstellungen zur Aufklärung in Paris, Richard Linklaters Baseballfilm-Remake "Die Bären sind los" und Bücher, darunter Kurt Vonneguts "Mann ohne Land" und Ute Scheubs Suche nach dem Nazi-Vater "Das falsche Leben (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 25.04.2006

Auf der Medienseite berichtet Kerstin Holm, dass sich in Russland die Gasprom Media, eine Tochter des Erdgasmonopolisten Gasprom, "die wichtigsten nichtstaatlichen Medien insbesondere aus dem Gussinski-Erbe einverleibt hat". Mit den erwartbaren Folgen: "Die Nachrichtenpräsentation der elektronischen Gasprom-Medien lässt sich als appetitlich verbrämte Kopie der staatlichen Informationspolitik beschreiben. Dissidenten sprechen von einer verordneten Diät von Pseudonachrichten, auf denen, statt echter Problemkost, die Bevölkerung herumkauen soll. Am Wochenende demonstrierten in Moskau, Sankt Petersburg, Nischni Nowgorod, Irkutsk und in anderen sibirischen Städten Umweltschützer und besorgte Bürger gegen den geplanten Bau einer Ölleitung am Baikalsee entlang bis an den Pazifik. Die russischen Medien verschwiegen das Ereignis, einschließlich Internetdienste und die nichtstaatliche Nachrichtenagentur Interfax."

"Generazione 1000 Euro"
ist der Titel eines italienischen Romans, der im Internet steht und dort ein "sehr aktives Blog" auslöste, berichtet Dirk Schümer. "Das Erkennungsmerkmal der 'Generazione mille Euro' - im Jargon mit 'G 1000' abgekürzt - besteht in einer modernen Mischung aus Unsicherheit, schlechter Bezahlung bei hochqualifizierter Tätigkeit und immensem Druck mit bis zu zwölf Stunden Dienstzeit. Claudio etwa, der nette Ragazzo aus dem Roman, arbeitet europaweit als Experte für Handy-Reklame, doch er kann sich mit dem winzigen Gehalt seines Jahreskontraktes oft nicht einmal die Telefonkarten für Firmengespräche leisten, geschweige die schleppend erstatteten Spesen für Geschäftsreisen vorstrecken."

Weitere Artikel: Im Leitartikel surft L.J. auf Fataawa, einem vom Leipziger Imam Hassan Dabbagh empfohlenen Informationsportal für Muslime: "Musikinstrumente sind generell von Übel, 'Singen ist ein Teil der Falschheit'. Vielleicht ein Grund, die Kinder nicht nur vom Biologie-, sondern auch vom Musikunterricht abzumelden?" Christian Geyer versucht mit Carl Schmitt und Gero von Randow die Situation im Iran zu deuten: Laut Schmitt sind die Amerikaner so elastisch, dass ihnen alles zuzutrauen ist. Laut Randow, der gerade das Buch "Die iranische Bombe" veröffentlicht hat, sind die Iraner so weit von der Atombombe entfernt, dass ein Angriff nicht gerechtfertigt wäre. Da die Amerikaner laut Schmitt aber so elastisch sind, kümmert sie das möglicherweise nicht. Heinz Berggruen erzählt, wie er den spanischen Kulturattache in den Fünfzigern kennenlernte. Alexandra Kemmerer berichtet von einer Rede, die der europäische Kulturkommissar Jan Figel zum Lob der Mehrsprachigkeit in Regensburg hielt - nach längerem Drängen auf Deutsch statt Englisch. Wiebke Hüster zerlegt mit spitzen Fingern die Vorträge beim Berliner Tanzkongress "Wissen in Bewegung". Klaus Ungerer erzählt in einer Gerichtsreportage von einem alten Mann, der unter grauenhaften Umständen in einem Pflegeheim starb.

Auf der letzten Seite porträtiert Julia Bähr Folkpop-Sängerin Sophie Auster, Tochter von Siri Hustvedt und Paul Auster, die gerade ihre erste CD herausgebracht hat (Hörproben hier). Jürg Altwegg meldet, dass in Frankreich, das den Völkermord an den Armeniern offiziell als Genozid anerkannt hat, zwei Mahnmale eingeweiht wurden. Und Holger R. Stunz erzählt die Geschichte der Schwetzinger Festspiele, die als nationalsozialistische Konkurrenz zu Salzburg geplant waren.

Besprochen werden die "albtraumhafte" Deutung des "Parsifal" durch Christoph Nel in Frankfurt, die Aufführung von Meike Haucks "Hund frisst Gras" und Biljana Srbljanovics "Heuschrecken" in Stuttgart, eine Ausstellung mit Spritzdekor-Keramik in Karlsruhe und ein Konzert der schottischen Band Mogwai in München.