Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2006. In der taz konstatiert Verleger Andreas Fanizadeh eine Renaissance von Scholle und Scholastik in den Feuilletons. In der SZ erklärt der Künstler Olaf Metzel, der gerade in Nürnberg für Aufruhr sorgt, wie man der gegnerischen Abwehr in den Rücken spielt. Die FAZ preist Alonzo Kings Tanztheater "Lines Ballet", das höfischen Stil mit dem Tanz der BaAka zu verbinden versteht. Und die Berliner Zeitung feiert das 500-jährige Jubiläum der Viadrina-Universität.

TAZ, 26.04.2006

Der Berliner Verleger Andreas Fanizadeh wirft konservativen Intellektuellen wie Botho Strauß oder Frank Schirrmacher vor, einen "ethnischen Kern der Gesellschaft zu propagieren". "In Europa wird gerade die tausendste Schlacht gegen Mobilität und Veränderung geschlagen. In deren Zentrum steht die ideologische Annahme eines 'Clash of Civilizations', einer global vorgestellten Auseinandersetzung zwischen christlichem Abend- und islamischem Morgenland. Die Debatte hat besonders unangenehme Folgen für all diejenigen, die durch Namen oder nicht restlos assimilierte Gebräuche in den jeweiligen Gesellschaften als Minderheit erkennbar sind. Der globale Kapitalismus - 'die Ordnung des Empire' (Toni Negri/Michael Hardt) - evoziert seine Wiedergänger, die Renaissance von Scholle und Scholastik ist beeindruckend."

Weiteres: Auf der Meinungsseite beschreibt der Verleger und Schriftsteller Ilija Trojanow in seinem ersten "Schlagloch" die Vergnügungsszene auf der kleinen Insel Bahrain, auf der sich am Wochenende Männer aus Saudi-Arabien "hemmungslos all dem hinzugeben, was daheim verboten ist: Kino, Alkohol, Musik, Sex". Roland Pawlitschko stellt ein österreichisches Phänomen vor, das hierzulande leider noch keine Anwendung findet: anspruchsvolle und zum Teil preisgekrönte Architekturkonzepte für Supermärkte und Lebensmittelketten in Tirol, die sogar Einfluss auf eine Gestaltung der dortigen Aldi-Filialen genommen haben. Besprochen wird die Studie "Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien" von Karin Lenzhofer (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

SZ, 26.04.2006

"Wenn man so will, ist diese Skulptur der tödliche Pass. Aus dem Fußgelenk": In einem Interview äußert sich der Künstler Olaf Metzel zum Aufruhr gegen seine Skulptur "Auf Wiedersehen", die während der WM in Nürnberg installiert werden soll: 780 Stadionsitze sollen über dem Schönen Brunnen aufgetürmt werden. Er wolle den Konflikt bis zum Ende durchstehen: "Ich habe ja früher selbst Fußball gespielt, linksaußen. Wenn ich sagte, Trainer, nimm mich raus, ich kann nicht mehr, sagte der: Du bleibst so lange drin, bis eine Ecke von rechts kommt. Die Ecken habe ich immer angetäuscht, dann in den Rücken der Abwehr gespielt, und der Ball war drin. Danach durfte ich runter."

Weiteres: Hilmar Klute kritisiert nach dem jüngsten Anschlag den "weltfremden Ägyptentourismus"; die Wirklichkeit verlange, dass man "heute wirklich anders reisen muss". Dirk Meyhöfer zeigt, wie Hamburg mit Architektursommer, Elbphilharmonie, IBA und Hafenumbau im Wettstreit der Städte auf die "Mittel der Baukunst" setzt. Andrian Kreye berichtet über ein Theaterstück von Mark Kassem über den Hitler-Neffen William Patrick, dessen Söhne wiederum ein Buch über den Vater planen. Dirk Peitz diskutiert an einem Video des Londoner Duos Coldcut urheberrechtliche Fragen des "Samplings, (Raub-) Kopierens und Collagierens von bereits existierenden Kunstwerken oder Teilen davon". Stefan Koldehoff erzählt, warum ein Gedichtzyklus von Robert Blair - bekannt unter dem Titel "Blairs Grab" - der englischen Regierung vor der letzten Wahl Angst gemacht hatte. Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus setzt sich kritisch mit dem Regelkatalog zum "Elite"-Status einer Universität auseinander und analysiert die Bedeutung der entsprechenden Bewertungskriterien und Mittelbemessungsmodelle. Gustav Seibt berichtet von einem Vortrag über die Restaurierung des Quirinals in Rom. Der Schriftsteller Andreas Neumeister engagiert sich für die von der Verbannung ins Digitalradio bedrohte br-Sendung "Zündfunk".

Auf der Literaturseite zeigt sich Schriftsteller Daniel Kehlmann enttäuscht von Stephen Kings neuem Buch "Puls": "Ein harmloser Schocker, allerdings, und dagegen ist auch nichts zu sagen. 'Puls' will nichts anderes sein, unternimmt keine literarischen Bemühungen, maskiert sich nicht als Kunst. Und doch empfindet man immer wieder Bedauern über so viele versäumte Möglichkeiten. King könnte es weitaus besser."

Besprochen werden die deutschsprachige Erstaufführung von Biljana Srbljanovics Stück "Heuschrecken" am Stuttgarter Staatsschauspiel und Bücher, darunter Klaus Heinrichs jetzt publizierte "Dahlemer Vorlesungen" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 26.04.2006

Torsten Harmsen hält die Wiedergründung der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder nach der Wende für ein insgesamt gelungenes Projekt - mit allen Problemen freilich, die eine strukturschwache Region so mit sich bringt: "'500 Jahre Viadrina' - das ist gewiss auch ein Etikettenschwindel. Denn die 180-jährige Pause wird damit einfach überspielt - ganz bewusst. Durch die Berufung auf die 500-jährige reiche Tradition will man die Region aufwerten. Seit Jahren wirkt die Universität in die Stadt - etwa durch Konferenzen, Ausstellungen oder Architekturprojekte. Vereine wie 'Spotkanie' widmen sich der Begegnung zwischen Deutschen und Polen. Frankfurter Bürger werden zu Lesungen oder Diskussionsabenden geladen. Aber immer wieder hat man den Eindruck, die Universität stehe allein."

Welt, 26.04.2006

Kai Luehrs-Kaiser bangt anlässlich eines Tantiemenprozesses in Düsseldorf um die barocke Musik. "Erhält die Sing-Akademie Recht, kommt die Zukunft der Barockmusik teuer. Dann nämlich kosten Aufführungen jener zahllosen Schätze, die 2001 bei einer spektakulären Rückführungsaktion aus Kiew nach Berlin zurückgelangten, jedes Mal viel Geld (bis zu zehn Prozent vom Bruttoumsatz). Es könnte das Ende der Wiederentdeckung unbekannter Werke von Graun, Hasse, den Bach-Söhnen und eben Vivaldi bedeuten. Und betrifft im zweiten Schritt alle Musik, deren Urheberrechte abgelaufen sind und durch Neueditionen, Komplettierungen etc. den Rang von Neuveröffentlichungen wiedererlangen können."

Selbst wenn der Komponist und frühere Intendant der Deutschen Oper Udo Zimmermann am Wochenende zum neuen Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt wird: Eckhard Fuhr sieht schwarz. "Spricht man mit Akademie-Mitgliedern über die bevorstehende Entscheidung, schlägt einem Verzagtheit, Pessimismus und manchmal auch Überdruss an Akademie-Angelegenheiten entgegen. Niemand erwartet, dass mit einem neuen Präsidenten die Frage nach Sinn und Zweck der Akademie beantwortet sei. Die Kandidatensuche hat bisher keine Figur zutage gefördert, die die gegensätzlichen Auffassungen in dieser Frage produktiv zusammenführen könnte."

Weiteres: Anlässlich der Diskussion über vier geplante Gedenktafeln zur Stasi in Berlin-Lichtenberg schildert Berthold Seewald den Bezirk, ehemalis Stasi-Zentrum und nun "das letzte soziale Bollwerk der PDS im Kampf gegen ihren demografisch absehbaren Untergang". Die 110 000 Tonnen Beton findet Dankwart Guratzsch im demnächst eröffnenden Mercedes-Benz-Museum (mehr) in Stuttgart formschön angelegt, nur die Wegeführung innen hätte er konsequenter gestaltet. Wieland Freund hält Peter Longerichs Studie über das Mitwissen der Deutschen am Holocaust für "bahnbrechend". Thomas Kielinger kommentiert Veröffentlichungspläne der amerikanischen Hitlerverwandtschaft. Stefan Krulle hat bei einem Minikonzert in Hamburg ein paar Titel aus dem neuen Album "Stadium Arcadium" der Red Hot Chili Peppers gehört.

NZZ, 26.04.2006

Georges Waser berichtet über das seiner Meinung nach überaus gelungene walisische Regierungsgebäude des Architekten Richard Rogers in Cardiff und findet darin besonders die Debating Chamber überzeugend: "Fasziniert stellt man hier fest, wie sich der durch die Decke kommende Trichter einer umgekehrten Trompete ähnlich auftut und der Kammer Tageslicht zuführt." - Fosters Reichstag läßt grüßen.

Weiteres: Roman Bucheli ist durchaus angetan von der Ausstellung zu Emmy Ball-Hennings im Museo Hermann Hesse, Montagnola ("ein konziser und detailreicher Überblick"). Norbert Frey widmet sich Peter Longerichs Studie "Davon haben wir nichts gewusst!", die der Frage der Mitwisserschaft der deutschen Bevölkerung während des Nationalsozialismus nachgeht.

Besprochen werden weiterhin: Alberto Mendez' Roman "Die blinden Sonnenblumen", Walter Kempowskis Tagebuch 'Hamit' und John Updikes Roman "Landleben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 26.04.2006

Peter Iden kommentiert den Nürnberger Protest gegen eine Skulptur von Olaf Metzel: "Wer aber sich für Metzel entscheidet, musste wissen, dass er Metzel bekommt: den ohne Frage aggressiv-provokantesten der zeitgenössischen deutschen Künstler." Sein Plan, einen Brunnen sechs Wochen lang unter hunderten von ausrangierten Stühlen aus dem Berliner Olympiastadion verschwinden zu lassen, erregt die Gemüter. Was einem seltsam vorkommen mag, denn "vom Original der ursprünglichen Anlage... kein Stein mehr erhalten, nur wenige Fragmente sind heute im Germanischen Nationalmuseum bewahrt." Insofern bestehe "eine erste Konsequenz aus der Aktion in der Stadt, die sich gern fränkische Metropole nennt, darin, dass Der Schöne Brunnen durch das Vorhaben seiner Verdeckung plötzlich als das bildnerische Ereignis verstanden wird, das er tatsächlich ist. Die Verdeckung veranlasst ein Entdecken."

Weiteres: K. Erik Franzen informiert über den Streit um die Bonner Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration", die das Thema sexuelle Gewalt im Zweiten Weltkrieg wenn auch nicht tabuisiere, ihm aber doch einen "viel zu geringen Stellenwert einräume". In Times mager enthüllt Harry Nutt Bob Dylans Playlist für die erste Radiosendung, die er künftig für den Sender XM Satellite Radio moderieren wird ("Thematisch dreht sich alles ums Wetter"). Sylvia Staude resümiert den dreitägigen "Tanzkongress" im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Stefan Keim berichtet über Schließungspläne für das Bonner Theater.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Aufnahmen von David Meisel im Fotografie Forum international in Frankfurt, Benjamin Heisenbergs Film "Schläfer" und Bücher, darunter Jean Genets letztes Prosawerk "Ein verliebter Gefangener" und ein Band von Barbara Sichtermann und Ingo Rose über Frauentypen, Männerrollen und drohende Nervenzusammenbrüche (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 26.04.2006

Jordan Mejias stellt den Choreografen Alonzo King und sein "Lines Ballet" vor, die sich erlauben, Ballett nicht für einen artifiziellen Stil zu halten, sondern für etwas Natürliches: "Was am Hof der Catherine de Medici tanztechnisch vor sich ging, wirkt gewiss bis heute nach. Zum Beispiel in der klassisch trainierten, mit Jetes und Fouettes nicht zu verschreckenden Truppe des Alonzo King. Der aber denkt gar nicht daran, die Wurzeln seiner Kunst nur durch ein armseliges halbes Jahrtausend zurückzuverfolgen. Die gleichen Drehungen und Sprünge, die einst die französische Hofgesellschaft entzückten, hat er beim zentralafrikanischen Volk der BaAka wiederentdeckt."

Weiteres: Michael Jeismann erinnert an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor zwanzig Jahren: "Im Sarkophag von Tschernobyl glühen seitdem die Illusionen einer durchherrschten Welt aus lauter Eigennutz. Wer zu ihnen zurückwill, wird verbrennen." Patrick Bahners springt Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm im Streit mit dem Generalbundesanwalt Kay Nehm zur Seite: "Ernsthaft lässt sich nicht behaupten, dass alkoholisierte Totschläger das Staatsgefüge ins Wanken bringen können." Felicitas von Lovenberg spießt in der Leitglosse auf, dass Mick Jagger und George Bush zur gleichen Zeit die gleiche Suite im Wiener Hotel "Imperial" belegen wollen. Dirk Schümer schreibt zur Einweihung des von Richard Meier umbauten Friedensaltares des Augustus in Rom. Hubert Spiegel kann gar nicht glauben, wie jung die Shakespeare-Gesellschaft in all ihren Jahren geblieben ist - für eine literarische Gesellschaft eine große Leistung. Michael Gassmann freut sich über die Eröffnung des Leipziger Musikinstrumentenmuseums. Christian Schwägerl betrachtet skeptisch die Versuche, Berliner Kiezkultur an den Bahnhof Zoo zu bringen. Lisa Zeitz zeichnet ein kleines Porträt der Fotografin Virgina Dortch Dorazio. Thomas Wagner berichtet vom Streit um Olaf Metzels WM-Skulptur in Nürnberg.

Auf der Medienseite interviewt Rainer Hermann den al-Dschasira-Produzenten Yusuf al Shouli zum Fall seines in Spanien verurteilten Kollegen Taysir Allouni.

Besprochen werden Isabel Coixets Film "Das geheime Leben der Worte" (in dem Andreas Kilb einen "Hauch von Wenders-Kino" verspürte), die Schau "Österreich 1900-2000" in der Sammlung Essl in Klosterneuburg bei Wien, Stefan Ottenis Inszenierung von Ibsens "Rosmerholm", eine Ausstellung über "200 Jahre Franken in Bayern" im Nürnberger Museum Industriekultur und Haruki Murakamis Roman "Afterdark" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).