Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2006. In der FAZ appelliert Andrej Dinko, der Chefredakteur der inzwischen verbotenen weißrussischen Zeitung Nascha Niva, an die Solidarität des Auslands. In der taz tanzt das auf sich selbst geworfene Subjekt, welches zugleich mehrere Berufe ausführt. Die SZ lässt auf einer abgelegenen griechischen Kykladeninsel einen Antiken-Schmugglerring auffliegen. Die NZZ begleitet die Briten auf der Suche nach Britishness.

NZZ, 21.04.2006

Die Briten machen sich gerade mächtig Gedanken über das "B-Wort" - Britishness, berichtet Susanne Ostwald. Anlass war Schatzkanzler Gordon Brown, der seine Landsleute aufforderte, mehr Nationalstolz zu zeigen, indem sie ihre Gärten mit dem Union Jack beflaggen und einen Nationalfeiertag einführen. "Einige Kritiker verwiesen darauf, dass die meisten Länder an ihrem Nationalfeiertag die Unabhängigkeit von britischer Kolonialherrschaft feiern, weswegen Browns Vorschlag einen gewissen Hautgout habe. Andere merkten an, dass die Nationalfeiertage in Amerika und Frankreich Revolutionsgedenktage seien, und derlei habe es in der britischen Geschichte, die sich ihrer evolutionären Entwicklung rühmt, nicht gegeben. Vielleicht, so spottete ein Leser des Guardian, sollte man zuerst eine Revolution anzetteln und anschließend deren letzten Tag zum Feiertag erheben."

Weitere Artikel: Andrea Köhler berichtet von Aufregungen über eine Skulptur von Britney Spears, die der Bildhauer Daniel Edwards "splitternackt und hochschwanger auf allen vieren verewigt hat - der Kopf des Kindes steckt schon zwischen ihren Beinen". Die Skulptur ist Teil einer Antiabtreibungskampagne. Barbara Villiger Heilig stellt die Pläne von Markus Luchsinger für das Churer Stadttheater vor.

Besprochen werden ein Konzert des Orchestre de la Suisse romande mit Marek Janowski, eine Ausstellung über Museumsarchitektur in Düsseldorf und Wilhelm Kienzls "Evangelimann" an der Wiener Volksoper.

Auf der Filmseite stellt che. das Programm der 12. Visions du reel in Nyon vor. Besprochen werden Dagmar Knöpfels Film über die tschechische Schriftstellerin Bozena Nemcova, eine Reihe mit den Filmen von Guy Debord im Stadtkino Basel und die Filmromanze "Stesti - Something Like Happiness" von Bohdan Slama.

Auf der Medien- und Informatikseite blickt Heribert Seifert auf 60 Jahre Zeit und Welt zurück. Beide Zeitungen haben sich in den letzten Jahren erneuern können, meint Seifert. "Ein neues Publikum hat die Chance, die beiden Zeitungen nach ihrer heutigen publizistischen Leistung und nicht mehr nur nach dem Gewicht ihrer überkommenen Markenidentitäten zu beurteilen."

Weiteres: Stefan Krempl stellt in einem anschaulichen Bericht aus der Diskothek Berghain eine Software der Berliner Firma Ableton vor, die DJs das Mixen erleichtert. Und Sabine Pamperrien fragt, ob die Medien einen Verhaltenskodex für Terrorismus-Berichte brauchen.

TAZ, 21.04.2006

Die taz druckt den Vortrag, den die Hamburger Soziologin und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein auf dem Berliner Tanzkongress gehalten hat. Klein weist auf die gesellschaftliche Vorreiterrolle des Tanzes auch in neoliberalen Zeiten hin. "Die Figur des flexiblen, auf sich selbst geworfenen Subjekts, das mehrere Berufe ausführen wird, hat in dem freischaffenden Tänzer bereits seinen Prototypen gefunden."

Desweiteren fragt sich Gerrit Bartels, warum Hubert Winkels Kommentare zur neuesten deutschen Literatur gerade jetzt wieder beworben werden. Für die Tagesthemenseiten berichtet Barbara Bollwahn aus Guben, wo Gunther von Hagens Leichen plastinieren lassen will.

Besprochen werden die Wolfsburger Ausstellung "ArchiSkulptur" über die Verbindungen zwischen Skulptur und Architektur sowie drei neue Folk-Platten.

Und Tom.

Welt, 21.04.2006

Selbst wer Yves Klein, Lucio Fontana oder Otto Piene kennt, erlebt die Ausstellung zur Künstlergruppe Zero im Düsseldorfer Museum Kunst Palast nicht als "staubbeladenes Deja vu", versichert Marion Leske. "Auch muss niemand Düsseldorfer Lokalmief fürchten. 'Zero' zeigt die internationale Avantgarde der sechziger Jahre. Weitgehend unbekannt ist dabei hierzulande der Anteil der Japaner, die eine anregende und durchaus eigenwillige Komponente ins Spiel brachten. Sie mögen es häufig gern farbiger als ihre europäischen Zero-Kollegen und sorgten für Aha-Effekte. Besonders wirkungsvoll ist Yayoi Kusamas surreal anmutendes Ruderboot mit seinen seltsamen weißen Ausstülpungen, aber auch Atsuko Tanakas 'elektrisches Kleid' macht staunen."

Weitere Artikel: Lars-Broder Keil erzählt, wie der Regisseur Kurt Maetzig im April 1946 in seinem Film "Einheit SPD-KPD" den Prozess der Zwangsvereinigung als freiwilligen Zusammenschluss inszenierte. Andre Heller spricht im Interview über den Fußball und die Deutschen: "Da kommt wieder diese Rückkehr des Verbissenen, des Nichtselbstironischen, des Unsinnlichen." Den Kommunalen Kinos werden immer mehr Mittel gestrichen, in Frankfurt konnte dieser Trend beendet werden, berichtet Hanns-Georg Rodek. Die Stadt hat sich verpflichtet, auch nach Vertragsablauf 2011, wenn über die Fördersumme neu verhandelt wird, in keinem Fall zu kürzen. Bas. meldet, dass die indische Anwaltskammer beschlossen hat, "auf die traditionellen Ehrbezeugungen im Gerichtssaal künftig verzichten. 'My Lord' und 'Your Lordship' seien 'Relikte der kolonialen Vergangenheit'." Vbl. gratuliert dem Schauspieler Hans-Peter Minetti zum Achtzigsten.

Im Magazin erzählt Elisalex Clary, dass Julia Roberts in ihrem ersten Broadwaystück "steif wie ein Laternenpfahl" agiert und damit hartgesottene New Yorker Theaterkritiker in Verzweiflung stürzt: "Ich heiße Ben, und ich bin ein Juliaholic", bekannte ein unglücklicher Ben Brantley in der New York Times in seinem Verriss.

Besprochen werden ein neues CD-Set mit amerikanischen Aufnahmen der Beatles (Uwe Schmitt ist entsetzt: "Plötzlich sind die Beatles bieder wie ihre Strickkrawatten und ihr Schwiegersohngrinsen auf dem Cover."), die CD "Queer Noises 1961-1978", ein Konzert Jessye Normans in der Berliner Philharmonie und der Debütroman von Owen King, jüngster Sohn von Stephen King.

SZ, 21.04.2006

Auf einer griechischen Kykladeninsel ist ein Antiken-Schmugglerring aufgeflogen, der Verbindungen nach England und Amerika hat, berichtet Susanne Bausinger. "In einer abgelegenen Villa auf Schinoussa entdeckten Polizisten vor wenigen Tagen antike Kunstgegenstände, die teils aus Raubgrabungen stammen, teils aus Auktionen: Einige der Objekte waren in Containern mit der Aufschrift 'Sotheby's' und 'Christie's' verpackt. Zudem fand man ganze Alben mit den Fotos antiker Kunstgegenstände sowie eine Bildhauerwerkstatt für Marmorskulpturen, in der offenbar Fälschungen hergestellt wurden... 99 Objekte sind nach Piräus und in die Athener Museen gebracht worden, darunter mykenische Amphoren, zwei Sphingen aus Granit, ein ägyptischer Alabasterkrug, korinthische Säulenkapitelle, byzantinische Ikonen sowie die römische Kopie einer lebensgroßen marmornen Aphrodite, möglicherweise ein Werk von Praxiteles (mehr), ein Stück von unschätzbarem Wert."

Andrian Kreye animiert eine New Yorker Ausstellung mit Fotografien afrikanischer Künstler zu einem Hinweis auf die Frische afrikanischer Gegenwartskunst. "In der Musik limitiert das in Afrika nach wie vor dominierende Medium der Musikkassette den Einsatz all jener Klangeffekte, die die westliche Popmusik bestimmen. Das kulminiert in der Musik der Gruppe Konono Nr. 1, die in den Vergnügungsvierteln von Kinshasa ihre traditionellen Daumenkinos über billige Mikrofone so weit verstärkt, bis ein scheppernder, psychedelischer Klangteppich entsteht, den ihre Plattenfirma mangels Etiketten einfach Kongotronics nannte. Ähnlich hat sich das Klangbild des kongolesischen Soukouss-Stils dem blechernen Klang der afrikanischen Auto- und Transistorradios angepasst; Stars wie Papa Wemba oder Koffi Olomide konzentrieren die Wirkung ihrer Hits auf spitze Gitarrenläufe und treibende Marschtrommeln. Mit Erfolg - Soukouss ist die erste panafrikanische Popkultur." (Hier was zum Hören)

Weitere Artikel: Sonja Zekri resümiert eine Berliner Pressekonferenz der iranischen Anwältin und Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi, die an die Reformierbarkeit des Irans glaubt, vor einem Angriff warnt und die Selbstbestimmung der iranischen Frauen herbeisehnt. Wong Kar-Wai wird den Vorsitz des Filmfestivals von Cannes übernehmen, meldet Susan Vahabzadeh. Alexander Menden weiß von einer Initiative des Guardian, der die riesige Kunstsammlung der Queen der Öffentlichkeit zugänglich machen will. Wolfgang Schreiber schreibt zum Tod des Experimentalmusikers Hans Peter Haller.

Auf der Medienseite porträtiert Judith Raupp die holländische Direktorin des Schweizer Fernsehens Ingrid Deltenre.

Besprochen werden eine aufschlussreiche Ausstellung mit Zeichnungen von Al Taylor in der Münchner Pinakothek der Moderne, Jan Müller-Wielands Oper "Der Held der westlichen Welt" am Kölner Opernhaus in der Inszenierung von Karoline Gruber, Reto Fingers Stück "Fernwärme" am Staatstheater Stuttgart, Keith Warners Inszenierung der "Götterdämmerung" im Londoner Covent Garden, der Auftakt der Deutschlandtournee der Sopranistin Jessye Norman in der Berliner Philharmonie, Mark Mylords schwarze Filmkomödie "The Big White", und Bücher, darunter ein Roman und Kurzgeschichten von Richard Yates sowie Pierre Vidal-Naquets Untersuchung des Mythos von "Atlantis" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 21.04.2006

Die Erziehungswissenschaftlerin Maureen Maisha Eggers erklärt nach dem Potsdamer Überfall auf Ermyas M. im Gespräch mit Abini Zöllner, warum schwarze Männer besonders oft angegriffen werden. "Es gibt eindeutig rassistische Projektionen auf schwarze Menschen, die sich auf das Geschlecht reduzieren. Das hat vor allem mit einer Sexualisierung von schwarzen Körpern zu tun. Schwarze Männer werden mit solchen Attributen wie 'gefährlich' und 'potent' wahrgenommen und gelten als Bedrohung. Etwa im Sport oder auch im Film gibt es eine spezifische Obsession mit der Virilität schwarzer männlicher Körper." Zöllner schildert außerdem neue Reaktionen auf den Vorfall.
Stichwörter: Sport, Maisha

FR, 21.04.2006

Klaus Walter feiert den Reggae- und Industrial-Musiker Kevin Martin als wahren Repräsentanten des postkolonialen Englands. "Die Musikpresse ignoriert solche Phänomene, sie ignoriert auch Leute wie Kevin Martin nach Kräften. Stattdessen konstruiert sie ein eigentliches, also weißes England zwischen Oasis und Arctic Monkeys."

In der Kolumne über sein Fachgebiet widmet sich der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch diesmal der Liebe. Karin Ceballos Betancur porträtiert den spanischen Schriftsteller Sergio Pitol, der heute mit dem mit 90 000 Euro dotierten Cervantes-Preis ausgezeichnet wird. In Times mager vermutet Christian Schlüter, dass Ursula von der Leyen mit ihrem christlichen "Bündnis für Erziehung" die christlichen Werte instrumentalisieren will. Tim Gorbauch spricht mit dem Generalmusikdirektor Paolo Carignani über die bevorstehende "Parsifal"-Premiere an der Oper Frankfurt.

FAZ, 21.04.2006

Auf der Medienseite appelliert Andrej Dinko, der Chefredakteur der inzwischen verbotenen weißrussischen Zeitung Nascha Niva an die Solidarität des Auslands und beschreibt eine Politik, die jede Besinnung auf weißrussische Sprache und Identität unterdrücken will: "Die letzte unabhängige Tageszeitung in weißrussischer Sprache wird geschlossen. Das letzte weißrussischsprachige Gymnasium wird geschlossen. Radio und Fernsehen boykottieren Rockgruppen, die in weißrussischer Sprache singen. Die Auflösung des Schriftstellerverbandes ist eingeleitet. (...) Man will dem weißrussischen Volk eine einheitliche sowjetische Identität aufzwingen. Es geht heute nicht mehr nur um die Rettung der Nascha Niva oder der unabhängigen Presse. Der Fortbestand der weißrussischen kulturellen Identität steht auf dem Spiel."

Nach einer Welle kollektiver Schuldzuweisungen und der Urteilskritik zum Berliner Ehrenmordprozess legt Mechthild Küpper im Feuilleton-Aufmacher ein Wort für die Familie Sürücü und den Freispruch für die beiden älteren Brüder des Täters ein: "Selten hat eine Kammer die strafrechtlichen, rechtsstaatlichen, gesellschaftlichen und moralischen Ebenen eines Mordfalls so sorgsam geschieden, hat so penibel argumentiert, ohne es doch an eindeutigen Worten fehlen zu lassen. Selten hat es ein Gericht so wenig verdient, dass sein Urteil so respektlos kommentiert wird, als hätten es Stümper gesprochen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse fragt sich Mark Siemons, ob das Gastgeschenk des gerade in den USA weilenden chinesischen Präsidenten Hu Jintao an George W. Bush - eine Prachtausgabe von Sunzis "Kunst des Krieges" - ironisch gemeint sei. Jonathan Fischer schreibt über die HipHop-Mode der "Grillz", also der mit Diamanten besetzten Zahnspangen, die Zehntausende kosten, bei der Nahrungsaufnahme aber hinderlich sein sollen. Regina Mönch beobachtet, wie das Skelett des in Abriss befindlichen Palastes der Republik immer durchsichtiger wird. Hannes Hintermeier schildert, wie das einjährige Papstjubiläum Benedikts XVI. in seinem Heimatflecken Marktl begangen wird. Anne Bogdanski stellt eine Internetseite vor, auf der man per Infrarot-Webcam die Geburtsvorbereitungen eines Schwarms von Fledermäusen beobachten kann."hd." führt in das Programm der Wiener Festwochen ein. Axel Michaels berichtet über Einflussnahme hinduistischer Lobbies bei kalifornischen Schulbuchkommissionen. Gemeldet wird, dass im Wettbewerbsprogramm von Cannes deutsche Filme fehlen.

Auf der Medienseite gratuliert Mechthild Küpper dem gar nicht mehr so Neuen Deutschland zum Sechzigsten. Auf der letzten Seite beschreibt der chinesische Autor Yu Hua im Gespräch mit Mark Siemons, wie sich die Verheerungen der Kulturrevolution bis in die heutigen chinesischen Seelen auswirken. Andreas Kilb korrigiert das von ihm in dieser Zeitung jüngst für wahr gehaltene Gerücht, der einstige hessische Kultusminister und Vorkämpfer für die Gesamtschule Ludwig von Friedeburg habe seine eigenen Kinder in einer vornehmen Privatschule untergebracht. Und Martin Kämpchen porträtiert die indische Menschenrechtlerin Medha Patkar, die sich mit einem Gandhischen Protestfasten zur Zeit gegen Staudammprojekte in ihrer nordindischen Heimat einsetzt.

Besprochen werden ein Konzert Jessye Normans in Berlin, der Film "Mord und Margeritas" mit Pierce Bosnan, eine Ausstellung des Präraffaeliten Simeon Solomon in der Münchner Villa Stuck, Schostakowitsch-Aufführungen in Moskau und Neuerscheinungen aus der akademischen Welt, darunter eine bisher nur auf englisch erschienene Neuausgabe der völkerrechtlichen Studie "From Apology to Utopia" von Martti Koskenniemi.