Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2005. Die FAZ macht Marketing für signandsight.com. Die FR porträtiert Dominique Marie Francois Rene Galouzeau de Villepin. In der NZZ erklärt Hermann Lübbe, warum die europäische Verfassung gescheitert ist. Die SZ will keine deutsch-französische Union.

FAZ, 10.06.2005

Die gewaltige Übermacht des Perlentauchers und die Subventionen, die er von der Kulturstiftung des Bundes für seinen englischsprachigen Dienst signandsight.com erhält, reizen das FAZ-Feuilleton immer wieder zu unerschrockener Berichterstattung. Diesmal greift es zum ungewöhnlichen Mittel der Recherche. Alle verbliebenen Kulturkorrespondenten wurden mobilisiert um herauszufinden, ob signandsight.com seine Mission nach drei Monaten in vollem Umfang erfüllt und die Weltöffentlichkeit durch die Übersetzung deutscher Feuilleton-Artikel angemessen in Schwingung versetzt. Es stellt sich dabei heraus: Das Potenzial für signandsight.com ist noch quasi unendlich! Die Spanier müssen sogar erst noch englisch lernen. Und Gina Thomas aus London seufzt: "Das Ziel, der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beizuhelfen durch die Vermittlung aktueller deutscher Themen an das englischsprachige Ausland, scheint so fern wie eh und je." Also, wir sind da optimistischer! Und wir bitten um Übersetzung des Artikels im englischsprachigen Dienst der FAZ.

Auf der Aufmacherseite berichtet Christian Schwägerl fast ehrfürchtig über einen Vortrag des indischen Finanzministers Palaniappan Chidambaram in Berlin, der sich recht frohgemut über die Zukunftschancen seines Landes äußerte: "Die Frage, ob es in Indien ein Problem mit der Auswanderung Hochqualifizierter gebe, quittierte der Minister mit einem Lächeln: Es gebe in Indien bald schon genügend Hochqualifizierte, um die Bedürfnisse Indiens, Amerikas und Europas zu befriedigen."

Weitere Artikel:Dirk Schümer schildert die Auseinandersetzungen um die italienische "Legge 40", welche den Gebrauch künstlicher Befruchtung regeln soll und stark von der katholischen Kirche mitformuliert wurde - sie steht demnächst zur Volksabstimmung. In der Leitglosse meldet Gina Thomas, dass eine Plakette an das Londoner Haus angebracht wurde, in dem Fontane einst wohnte. Andreas Rossmann meldet, dass das berühmte "Kölner Loch", das durch den Abriss der Josef-Haubrich-Kunsthalle entstand, nun doch noch durch ein neues Kulturzentrum gefüllt werden soll. Jürgen Kaube hat sich für die Reihe "Aus deutschen Hörsälen" eine Vorlesung des Darmstädter Architekturprofessors Wolfgang Lorch über "Skelett- und Holzbau" angehört. Christian Welzbacher stellt ein Wohnhaus der Architektengruppe Blauraum in Hamburg vor.

Auf der Medienseite schreibt Ahmad Taheri über die mutige Arbeit des privaten afghanischen Fernsehsenders Tolu'e, der die Islamisten des Landes durch Rockmusiksendungen und Reportagen provoziert - eine Journalistin des Senders wurde vor kurzem wegen ihrer Auftritte allerdings ermordet. Michael Hanfeld meldet, dass der erfolgreiche Fernsehproduzent Christian Popp künftig nicht mehr mit RTL, sondern mit Pro 7 Sat 1 zusammenarbeiten wird. Und Jürg Altwegg schreibt über das feierliche Gelöbnis der Pariser Zeitung Le Monde, die Bücher ihrer Chefredakteure künftig nicht mehr in seitenlangen Hymnen abzufeiern.

Für die letzte Seite hat sich Andreas Platthaus ins Pariser Centre Pompidou begeben, wo sich die Comic-Autorengruppe des Verlags L'Association, der durch Marjane Satrapis "Persepolis"-Comics zu Ruhm und Reichtum gelangte, vorstellte. Martin Kämpchen berichtet über den Film "Jo Bole So Nihaal", der in Indien Proteste von Sikhs auslöste. Und Dietmar Dath erinnert an die Jugendbuchklassikerin Louisa May Alcott, deren Bücher jetzt Eingang in die Klassikerreihe Library of America fanden.

Besprochen werden eine "Frau ohne Schatten" in Matthew Jocelyns Brüsseler Inszenierung, eine Ausstellung mit klassischer französischer Malerei aus deutschen Sammlungen im Pariser Grand Palais, Peter Lichtefelds Film "Playa del Futuro", ein "Tristan" in Sankt Petersburg und Sachbücher (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 10.06.2005

Gerrit Bartels beobachtete, wie Marcel Reich-Ranicki bei der Berliner Präsentation seiner von Uwe Wittstock verfassten Biografie einmal mehr den "publikumswirksamen Alleinunterhalter" gab. Und prophezeit, dass es eines Tages einmal die "Crux" sein könne, "dass sein Leben und die spätere Medienpräsenz seine literaturkritische Arbeit und Bücher weit überstrahlen; dass er lediglich als 'Popstar der Kritik' in die Literaturgeschichte eingeht und es 'seine populistische Lust an provokativer Grellheit und Wirkung' (Reinhard Baumgart) ist, die dem von ihm immer anvisierten großen Publikum in Erinnerung bleibt."

In der Abgesangs-Kolumne auf Rot-Grün beschwört Robert Misik heute das "Bockigkeits-Gen". "Wahlen zwischen den großen Volksparteien sind etwa so wie die Abstimmung über die EU-Verfassung: Es wird eine Frage gestellt, aber es gibt nur eine Antwort. Gerade deshalb ist es absurd, diese Absurdität auch noch zu toppen, wie das das aktuelle Setting zweifellos tut: Wir wählen, aber Merkel wird Kanzlerin! Dies allein reicht, mich wieder zum hundertfünfzigprozentigen Rot-Grünen zu machen."

Gregor Kessler porträtiert den New Yorker Queer-Folk-Cabaret-Sänger Antony und seine Band The Johnsons, die derzeit in Deutschland auf Tour sind. Tobias Rapp stellt neue Alben von Isolee, Lawrence und DJT vor.

Und hier Tom.

FR, 10.06.2005

Martina Meister porträtiert den neuen französischen Premier Dominique Marie Francois Rene Galouzeau de Villepin als "homme de lettres", der wie viele andere französische Politiker auch literarische Ambitionen hat. "Und obwohl die Veröffentlichung seiner vier Gedichtbände schon knapp zwei Jahrzehnte zurück liegt, spricht Villepin noch immer die Sprache des Dichters: soigniert, metaphernreich, man kann auch sagen geschwollen."

In einer differenzierten Kritik beleuchtet Ulrich Clewing die unterschiedlichen "Quellen der Bewunderung" für die Künstlergruppe "Brücke", deren 100. Geburtstag derzeit mit umfangreichen Ausstellungen in Madrid, Duisburg, Essen, Aachen, Neu-Ulm, Schweinfurt, Halle an der Saale, Jena, Heidelberg und Berlin begangen wird. So mögen sie zwar "geniale Tabubrecher" gewesen sein, "aber dass sie dies zur Spitze der Moderne machte, ist wohl übertrieben." "Als Kirchner seine hundertste ,Fränzi, sich die Haare kämmend' in Angriff nimmt, malt Kasimir Malewitsch in Moskau das ,Schwarze Quadrat' - das ist wahre Radikalität."

Außerdem: In Times mager berichtet Harry Nutt aus dem "Service-Dschungel" Deutschland. Besprochen wird eine Inszenierung von Tschaikowskys "Eugen Onegin" an der Komischen Oper Berlin.

NZZ, 10.06.2005

Die europäische Verfassung sei vor allem deswegen gescheitert, weil "nach Ziel und Interesse der pragmatische Sinn des europapolitischen Daueraufrufs unklar geworden ist, wir sollten uns 'immer enger' zusammenschließen", glaubt Hermann Lübbe. Die "'kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas'" von denen im Verfassungstext die Rede ist, sind nach Lübbes Auffassung mitnichten "Grund genug", Europas politische Einheit voranzutreiben. "Triebkraft dieser Einigung sind vielmehr Interessen, die Respekt verdienen, aber zum Ausgleich gebracht und damit entschiedener als bisher offengelegt sein wollen. Nur so kann der Sinn der europäischen Einigung diskutabel werden."

Jan-Heiner Tück ist erstaunt, dass Stanislaw Dziwisz entgegen der testamentarischen Anordnungen Johannes Pauls II. dessen persönliche Aufzeichnungen nicht vernichten, sondern sogar veröffentlichen will. "Die Absicht, die Vorbildlichkeit eines Lebens zu erweisen - als habe man dafür nicht genug Indizien -, soll hier offenbar eine kaum vorbildliche Praxis rechtfertigen. Manch ein Gläubiger mag sich fragen, was das Wort eines Papstes noch gilt, wenn es bereits wenige Wochen nach seinem Tod durch hohe Würdenträger der Kirche zunichte gemacht wird."

Besprochen werden die Uraufführung von Kathrin Rögglas Stück "Draussen tobt die Dunkelziffer" in einer Inszenierung von Schorsch Kamerun bei den Wiener Festwochen, verschiedene Schiller-Aufführungen im Rahmen der 13. Internationalen Schiller-Tage in Mannheim, sowie die Reihe "Verschwiegene Bibliothek" der Büchergilde Gutenberg, die literarischen Werken von zwanzig Autoren, die in der DDR aus unterschiedlichen Gründen nicht erscheinen konnten, veröffentlicht.

Auf der Filmseite schreibt Henrik Feindt über eine Ausstellung zum polnischen Experimentalfilm in Bremen. Besprochen werden Garth Jennings' "Per Anhalter durch die Galaxie", Tolga Örnek Verfilmung der Dardanellenschlacht "Gallipoli", "Crustaces et coquillages" und Doug Limans "Mr. & Mrs. Smith".

Auf der Medienseite porträtiert Mona Sarkis den syrischen Journalisten Hakam al-Baba, der "mit seinen Kommentaren ... die Staatsmedien seit Jahren durch den Kakao (zieht) - und das nicht aus dem sicheren Ausland, sondern direkt aus der Höhle des Damaszener Löwen." Dass die Regierung die Attacken mehr oder weniger toleriert, sei aber mitnichten als "Glasnost" zu missdeuten. Sarkis zitiert Baba: "'Als das Regime stärker war, wurden wir nach jedem Artikel verhört. Jetzt ist es schwächer, und wir werden nach jedem fünften Artikel verhört, so einfach ist das.'" Generell speche Baba von einer zunehmenden Unsicherheit: "'Keiner weiß mehr, wie weit er gehen kann', sagt Baba und sieht das Hauptproblem des Landes 'in einem kopflosen Regime, das nicht weiß, was es tut und wann es was wie tut'."

Eine Studie der Hochschule für Musik und Theater Hannover verteidigt das deutsche Feuilleton gegen Kulturpessimisten, die in regelmäßigen Abständen dessen Niedergang beklagen. "Die Ergebnisse zeigen, dass von einer Reduktion des Ressorts keine Rede sein kann - im Gegenteil: Die Zahl der Feuilletonbeiträge hat sich im Zeitverlauf eklatant erhöht. Überdies ist in allen vier Blättern der durchschnittliche Artikelumfang 2003 größer als 1983. In der SZ hat er sich sogar verdoppelt. Kurze Textformen gehen über die Jahre deutlich zurück, lange nehmen ebenso deutlich zu. 'Häppchenjournalismus', ein mögliches Indiz für Popularisierung, hat sich gerade im Feuilleton nicht durchgesetzt," schreiben Gunter Reus und Lars Harden, die die Studie durchgeführt haben.

In weiteren Artikeln mildert "S.B." den Schock, dass Apple zu Intel konvertiert, denn "die Gegensätze haben sich abgeschwächt, die Systeme haben sich einander angenähert", und "ras" beobachtet einen internationalen Trend zum Staatsfernsehen. Gemeldet wird außerdem, dass Frank Schirrmacher für mehr Recherche im FAZ-Feuilleton plädiert.

Tagesspiegel, 10.06.2005

Marius Meller kommentiert Michael Schindhelms gestern in der Welt erschienenes Plädoyer für die "Wiedergeburt einer nationalen Identität" in Deutschland: "Sicherheitshalber schreibt Schindhelm in seine naive Reizwortflut ein bescheidenes 'ohne die Geschichte zu relativieren' dazu. Dann kann man es ganz wiedergeboren genießen, das große Geschichtsgefühl, die Michael's Horror Picture Show: Hitler und Schiller, Buchenwald und Weimar. Bitte anschnallen, alles Große steht im Sturm!"

Welt, 10.06.2005

Die gerade in London veröffentlichte Mao-Biografie der chinesischen Dissidentin Jung Chang "könnte zum wichtigsten 'Samisdat' im modernen China werden. Wenn nicht zu einer Zäsur in der Zeitgeschichte selber", meint Thomas Kielinger. "Die eigentliche Sensation des Buches liegt in der Art, wie es Stück für Stück die heroischen Mythen von Maos Weg nach oben demontiert, angefangen mit dem 'Langen Marsch' 1934/35, der Gründungslegende des roten China. Die Sage vom heldenhaften Rückzugskampf der Roten Armee vor den Nationalisten unter Chiang-kai-sheck, das Hohe Lied von Maos Meisterstrategie - sie werden als Lüge und Erfindung entlarvt."

SZ, 10.06.2005

Die kroatische Schriftstellerin Slavenka Draculic fragt sich angesichts des Videos über die Exekutionen in Srebrenica, warum die "Opfer vor der Hinrichtung so gedemütigt" werden mussten. Ihre Analyse: "Die Hinrichtung war nicht genug. Die Soldaten wussten, dass sie ihre Opfer erschießen würden. Aber sie wollten sich durch die Erniedrigung ihrer Opfer die Absolution zum Mord geben. Der Überschuss an Brutalität war die Voraussetzung, um die jungen Männer exekutieren zu können. (...) Sie sind Feinde. Sie sind die 'anderen'. Wie sonst kann man jemanden umbringen, der einem ähnlich ist?"

Gustav Seibt kommentiert den Vorschlag des französischen Premierministers Dominique de Villepin eine "Union mit Deutschland in bestimmten ausgewählten Bereichen" ins Leben zu rufen. Sie "ist flamboyanter Begriffs-Feuilletonismus, eine allerdings doktrinär hochinteressante heiße Luft. Das immer noch zentralistische Frankreich will sich mit jenen Bereichen deutscher Staatlichkeit vereinigen, die weder der Zuständigkeit der Bundesländer noch den europäischen Kompetenzen unterliegen. Es geht also um den Kern noch bestehender bundesrepublikanischer Staatlichkeit, vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie in der Forschungs- und Sozialpolitik - in Zahlen ausgedrückt, um schätzungsweise 60 bis 70 Prozent des Bundeshaushalts. Auf Grund des gänzlich anderen staatlichen Aufbaus Frankreichs ergäbe sich ein groteskes Übergewicht der Pariser Politik, die an den napoleonischen Rheinbund und die Situation Deutschlands nach 1806 erinnert. Auch damals verblieben den mit Frankreich assoziierten deutschen Staaten nur magere innere Kompetenzen, während ihre Militärmacht sowie ihre Außen- und Handelspolitik strengen Abmachungen unterlagen."

Weiteres: Fast eine ganze Seite widmet die SZ Rainer Werner Fassbinder, der am 10. Juni 1982 starb. Zu lesen ist ein Interview, das Fassbinder wenige Stunden vor seinem Tod dem Schauspieler Dieter Schidor für dessen Film "Der Bauer von Babylon" gegeben hatte. Außerdem ein Kommentar zu "Querelle" von Wolf Wondratschek. Volker Breidecker kritisiert Pläne des hessischen Wissenschaftsministeriums, den Fachbereich Judaistik an der Frankfurter Universität zu schließen. Alex Rühle schwärmt vom Kulturprogramm zur Fußball-WM - sogar die Poster seien richtig schön. Sonja Zekri informiert über die Hintergründe des Skandals um die Veranstaltung "African Village" im Augsburger Zoo, die gestern eröffnet wurde. Und "tost" kommentiert die Forderung des neuen Generaldirektors der Berliner Opernstiftung Michael Schindhelm nach mehr "nationaler Identität": "Alle große Kunst (...) hat damit zu tun, dass sie Identitäten auflöst, anstatt sie zu fordern - eine Erfahrung, die Michael Schindhelm offenbar noch bevorsteht." Das vollständige Interview findet sich als pdf auf dieser Seite des Filmportals.

Besprochen werden die Beiträge von Tino Sehgal und Thomas Scheibitz im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig, Kathrin Rögglas Auftragsarbeit "Draußen tobt die Dunkelziffer" für das Wiener Volkstheater, Bücher, darunter ein Band über "Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären", Harry Rowohlts "nicht weggeschmissene Briefe" und der Roman "Heimspiel" von Ines Geipel (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).