Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2004. In der FR erinnert der chinesische Arzt Jiang Yanyong an das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens und warnt: Zu viel Stabilität führt ins Chaos. Auch die taz erinnert an das Jahr 1989 in China. In der SZ prophezeit Mario Vargas Llosa die Niederlage George Bushs im November. Die NZZ kennt Marlene Dietrichs Rezept für einen idealen Eintopf: Verzichten Sie auf weiße Rüben!

FR, 04.06.2004

Die FR übernimmt von der März-Ausgabe des deutschsprachigen China-Dienstes Sju Tsai einen Brief von Dr. Jiang Yanyong an die chinesische Führung. Der renitente ehemalige Chirurg eines Pekinger Krankenhauses hatte mit seinen Aussagen im vergangenen Frühjahr den SARS-Skandal ins Rollen gebracht, nun fordert er eine Neubewertung der Vorgänge auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor fünfzehn Jahren. "Am Abend des 3. Juni hörte ich die pausenlosen Radiomeldungen, dass die Bewohner nicht auf die Straßen gehen sollten, und gegen 22 Uhr dann im Norden fortgesetztes Schießen automatischer Gewehre. Wenige Minuten danach meldete sich mein Pager. Die Notaufnahme rief mich, und ich machte mich sofort auf den Weg dorthin. Ich werde niemals vergessen, was ich bei meinem Eintreffen dort zu sehen bekam: Auf der Pritsche lagen bereits sieben junge Menschen, die im Gesicht und am ganzen Körper blutverschmiert waren. Bei zweien von ihnen zeigte das Elektrokardiogramm bereits keinen Ausschlag mehr. Sie waren tot." Sein Appell: "Die Stabilität, die alles niederdrückt, wird nur zu größerer Instabilität führen. Seit vielen Jahren ist es doch so, dass immer am Vorabend des 4. Juni einige Leute wie auf glühenden Kohlen sitzen und einer eingebildeten Angst erliegen. Sie wissen dann gar nicht mehr, wie viele Kräfte sie mobilisieren sollten, um ja zu verhindern, dass etwas geschieht. Jahr für Jahr."

Weitere Artikel: Im Feuilletonaufmacher versucht Ursula März den Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre unter dem Medienphänomen heraus zu bergen, das "mimetisch, inszenatorisch" "die kulturelle Krankheit der Gegenwart" demonstriert. Ina Hartwig stellt kurz den Schriftsteller Wilhelm Genazino vor, der dieses Jahr den Büchnerpreis erhalten wird. Wie seine Kollegen nimmt auch Stefan Keim die Eröffnung des Alfried-Krupp-Saals in Essen (hier die ersten Veranstaltungen) wohlwollend zur Kenntnis. In Times mager hält Harry Nutt eine Grabrede auf die Rechtschreibreform, die 2005 verabschiedet werden soll.

Außerdem: Als Reaktion auf die aktuelle KESS-Studie (was das ist) plädiert der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck auf der Meinungsseite für eine frühere Einschulung, flächendeckende Ganztagsschulen und eine bessere Lehrerausbildung.

Besprechungen widmen sich der "triumphalen" Uraufführung von Dea Lohers neuem Stück "Das Leben auf der Praca Roosevelt" in Hamburg sowie den Wiener Festwochen, die sich unter dem Titel "Februar 1934. Das Wörterbuch des Schweigens" mit dem Austrofaschismus beschäftigen.

Welt, 04.06.2004

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler erklärt zum einen, dass vor allem der Dilettantismus der USA Schuld an den Problemen im Irak ist: "Nicht an der fehlenden UN-Resolution, wie manche in Deutschland meinen, sondern an politischen und technischen Fehlern ist das Nation-Building im Irak gescheitert. Man hat sich alles zu leicht vorgestellt und offenbar mit der Härte eines aus dem Untergrund organisierten Widerstands nicht gerechnet." Und dann fügt er hinzu, dass die Probleme der USA auch die Probleme Europas sind: "Einige kontinentaleuropäische Staaten sind deshalb zu dem Ergebnis gekommen, das Problem des Nahen Ostens sei für sie unlösbar. Dieser Weg war für die USA angesichts ihrer Position als Weltordnungsmacht jedoch ungangbar. Der Nahe Osten hat sich für sie inzwischen zu einem Problem ausgewachsen, das dem Europas im 20. Jahrhundert vergleichbar ist: Es ist ein weltpolitisches Schlüsselproblem, ein definitives Scheitern lässt sich regional nicht begrenzen. Insofern ist der Irak auch ein europäisches Problem."

Tagesspiegel, 04.06.2004

Der US-Politologe Andrei S. Markovits erklärt uns die unterschiedliche Bedeutung des D-Day im Gefühlshaushalt der Amerikaner und der Europäer: "Während ich meine Gymnasialzeit zwischen Wien und New York aufteilte - bis ich Europa 1967 endgültig verließ - , war nichts gespaltener als die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und besonders des D-Day. Alle meine amerikanischen Freunde wussten darüber Bescheid und sprachen davon, aber kein einziger meiner österreichischen Freunde. Als ich nach einem Sommer in New York mit einem Brettspiel namens 'D-Day' nach Wien zurückkehrte, weigerten sich alle meine Klassenkameraden, es mit mir zu spielen." Die Haltung der Verlierermächte begann sich erst in den 80ern zu wandeln: "Seltsamerweise war es eine grüne Minderheit, am prominentesten verkörpert durch Joschka Fischer, für die der D-Day im Lauf der Achtziger dann doch emotional bedeutsam wurde. Und zwar weniger als Teil der Besatzung denn als Teil der Befreiung."

TAZ, 04.06.2004

Die taz ist ganz auf China eingestellt. Susanne Messmer schlendert durch den Dashanzi District, das neue Kunstquartier Pekings. "In Dashanzi haben sich fast zehn Galerien und fünfzig offene Ateliers angesiedelt, Modewerkstätten, in denen man sich Seidenkleider auf den Leib schneidern lassen kann, Werkstätten für Kerzenhalter und anderes Kunsthandwerk. Die zahlreichen Cafes, Clubs und Bars sorgen dafür, dass es in Dashanzi auch nachts hoch hergeht. Nirgendwo in Peking scheinen sich zur Zeit Kunst und Kommerz höflicher die Hand zu reichen - und nirgendwo in Peking scheint das kommunistische China weiter weg." Politischer gibt sich Georg Blume, der in seiner Tagesthemen-Reportage wissen will, was übriggeblieben ist vom Tiananmen-Gefühl.

Weitere Artikel: Im Feuilleton erfährt Gerrit Bartels im Literarischen Colloquium Berlin, dass beim 28. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb trotz Kritik erstaunlich viel beim Alten bleiben wird. Er würdigt zudem den Autor Wilhelm Genazino, "genauer Kenner der Angestelltenwelt" und frisch nominiert für den Georg-Büchner-Preis. Tobias Rapp stellt mit glühenden Ohren das Elektropunk-Duo "Mediengruppe Telekommander" vor. Reinhard Kahl rät auf der zweiten Meinungsseite zu mehr Lässigkeit in punkto Rechtschreibung. "Ob 'achtmal' nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?" Und Michael Braun sympathisiert kurz mit Italiens chancenloser, aber charismatischer "Partei der Schönheit". Auf der Medienseite macht uns Klaus Raab schließlich mit Oliver Mielkes unkonventioneller Produktionsfirma Entertainment Factory bekannt.

Eine einsame Besprechung widmet sich der Kölner Band Workshop und ihrer neuen Platte "Yog Sothoth", die sich durch die vergangenen 30 Jahre der Underground-Szene wühlt.

Und TOM.

SZ, 04.06.2004

Abu Ghraib und Gaza hängen zusammen, behauptet der Schriftsteller Mario Vargas Llosa im Aufmacher des Feuilletons. Er erinnert aber auch daran, dass Israel und die USA demokratisch sind und etwa Abu Ghraib Folgen haben wird. "Obwohl bisher nur sieben Soldaten und Polizisten verurteilt wurden - ein lächerliches Bauernopfer für etwas, das offensichtlich eine generelle Praxis der Erpressung und des Weichklopfens von Gefangenen war, um ihnen Informationen abzunötigen -, sind bis jetzt auch viele Köpfe von Generälen gerollt, inklusive dem von General Sanchez, dem Chef der alliierten Streitkräfte im Irak. Es ist sehr wahrscheinlich und fast sicher, dass die Folterungen in Abu Ghraib eine Niederlage Bushs bei den Wahlen im November bewirken werden. Mehrere hundert im Irak zu unrecht Inhaftierte wurden frei gelassen, und das verhängnisvolle Gefängnis von Abu Ghraib wird bald abgerissen. Das alles mag nicht genügen, um den Schaden wieder gut zu machen, aber nichts davon wäre passiert im Regime von Saddam Hussein oder in irgendeiner anderen Diktatur."

Weitere Artikel: Die SZ druckt den Brief des Präsidenten der Akademie für Sprache und Dichtung, Klaus Reichert, in der er die Kultusministerkonferenz zu einer Wiederaufnahme der gescheiterten Verhandlungen über einen Rechtschreibfrieden anhält. "tost" gibt Schützenhilfe und erregt sich über die "Dummheit" der Kultusminister bei der Affäre. Thomas Steinfeld stellt den Schriftsteller Wilhelm Genazino vor, der den diesjährigen Georg-Büchner-Preis erhält.

Außerdem: Christoph Nix, Intendant des Staatstheaters Kassel, erklärt, warum das ansässige Staatsorchester nicht die "Internationale" spielen will (hier kann man sie trotzdem hören). Tobias Moorstedt rätselt, warum gebleichte Zähne so wichtig geworden sind. Siegfried Stadler referiert die Streitereien um den Neubau des Leipziger Kunstmuseums und mahnt zur Eile. Karin Steinberger erzählt, wie der erstaunlich freche Streifen "Reza, die Eidechse" im Iran Fuore machte, um schließlich von den Hardlinern abgesetzt zu werden. Nicht einzusehen ist leider, wer dem Schriftsteller Yaak Karsunke zum Siebzigsten gratuliert. Thomas Meyer berichtet von einer Stuttgarter Tagung, die einen klischeefreien Einblick in das jüdische Alltagsleben bot. Und Jens Malte Fischer schreibt zum Tod des "großen Bassisten" Nicolai Ghiaurov.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs "entschieden zu lange" Inszenierung von Dea Lohers neuem Stück "Das Leben auf der Praça Roosevelt" am Thalia Theater Hamburg, Friedrich Schenkers "Johann Faustus" auf das Libretto von Hanns Eisler in Kassel, die Bayerische Landesausstellung "Franken im Mittelalter" im Pfalzmuseum Forchheim, und Bücher, darunter Alexander Ikonnikows Roman "Liska und ihre Männer", Marlene Streeruwitz "intelligente" Erzählung "Jessica, 30". Neuer Kinder- und Jugendliteratur ist eine eigene Seite gewidmet (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 04.06.2004

Im französischen Radio laufen zur Zeit bislang unbekannte Interviews mit Marlene Dietrich, die der Journalist Andre Parinaud im Jahr 1963 führte, berichtet Marc Zitzmann. Darin geht es unter anderem um den idealen Eintopf: " Jahrelang habe sie nach dem Rezept für den idealen Eintopf gesucht, experimentiert, vieles verworfen und endlich herausgefunden, was der Perfektion im Wege gestanden sei: die weißen Rüben!"

Weitere Artikel: Roman Hollenstein unternimmt einen Rundgang durch "Wiens blühende Architekturbiotope". Martin Meyer hat sich Zürcher Rezitals von Krystian Zimerman und Mikhail Pletnev angehört. Franz Haas berichtet vom internationalen "Festival der Literaturen" in Rom. Renate Klett resümiert ein internationales Theaterfestival in Quebec.

Auf der Filmseite werden der neue Harry-Potter-Film von Alfonso Cuaron und der Film "Stupeur et tremblements" von Alain Corneau besprochen. Und Georges Waser schickt einen Hintergrundbericht über "neue und alte Probleme der britischen Filmproduktion".

Auf der Medien- und Informatikseite greift Andrea Köhler noch einmal die Selbstkritik der New York Times in der letzten Woche auf: "'Hat die Presse aufgehört, George Bush zu unterstützen?', fragt etwa der Times-Kolumnist Paul Krugman in einem Kommentar von letzter Woche. Was die New York Times betrifft, so lautet die Antwort eindeutig: ja! So hat sich der Ton gegen den Kurs der Regierung auf allen Feldern in einer Weise verschärft, die deutlich vor Augen führt, wie lange der Präsident auch in der sonst nicht unkritischen Times mit Samthandschuhen angefasst wurde." Und "ras." kommentiert: "In europäischen Augen erscheint das Vorgehen der New York Times fast schon selbstquälerisch. Angesichts der verbreiteten Praxis des Vertuschens ist es aber ebenso ein Beweis für das ständige Ringen um glaubwürdige und genaue Berichterstattung - und ein Beweis für Erneuerungskraft." (Alle Links zu diesem Thema finden Sie hier.)

FAZ, 04.06.2004

Hubert Spiegel holt schon mal das Laudatorenbesteck aus der Schublade ("So entschlossen unentschlossen, so gezielt absichtslos, so dauerhaft dem Provisorischen zugeneigt, so hartnäckig dem Beiläufigen verbunden"), um Wilhelm Genazino zu gratulieren, dem der mit 40.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis zugesprochen wurde. Jordan Mejias bereitet uns auf die Verleihung der Tony-Theaterpreise in New York vor - nominiert ist unter anderem Doug Wrights Stück "I am my own Wife" (offizielle Website), ein Einpersonenstück über das Leben des Berliner Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf. Felicitas von Lovenberg führt in den Briefwechsel Flauberts mit den Brüdern Goncourt ein, den die FAZ als Feuilletonroman vorab drucken wird. Dietmar Dath würdigt in der Leitglosse den Schriftsteller Ray Bradbury, der sich überhaupt nicht freute, dass Michael Moore in seinem "Anti-Bush-Dokumentarkracher" "Fahrenheit 9/11" seinen berühmten Titel "Fahrenheit 451" aufgegriffen hat. In einer Meldung wird die Parole die kulturkonservative Parole "Reform ablehnen!" ausgerufen - hingewiesen wird hier auf letzte Scharmützel unterschiedlicher Akademien gegen die Rechtschreibreform. Der Schriftsteller Martin Mosebach zeichnet liebevoll die antiken Traditionen nach, die unter den würdigen Gewändern der katholischen Kirche allenthalben hervorlugen. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Sängers Nicolai Ghiaurov

Von Norbert Niemann wird die Erzählung "Hinweg" abgedruckt, die demnächst in einer Anthologie erscheint. Und Caroline Neubaur resümiert eine Tagung der Deutschen psychoanalytischen Vereinigung in Ulm

Auf der Medienseite weist Eva-Maria Lenz auf eine Beckett-Reihe im Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks hin.

Auf der letzten Seite würdigt Niklas Maak die Arbeit des deutschen Forums für Kunstgeschichte, das an der hübschen Place des Victoires in Paris residiert. Andreas Rossmann resümiert eine Diskussion über das deutsch-schweizerische Verhältnis in Oberhausen und stellt fest, dass sich das Schweizerdeutsche auf dem Weg zur eigenen Sprache befinde. Und Wolfgang Günter Lerch porträtiert Cornelius Bischoff, der unter anderem die Werke Yasar Kemals aus dem Türkischen übersetzte.

Besprochen werden die Uraufführung von Dea Lohers Stück "Das Leben auf der Praca Roosevelt" im Hamburger Thalia Theater, eine Ausstellung des Malers Peter Kogler im Kunstverein Hannover, ein Konzert der Band "The Crash" in Frankfurt und Richard Pearces Blues-Film "The Road To Memphis".