Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2004. Die SZ fragt nach der Existenzberechtigung der Geisteswissenschaften. Die NZZ findet den restaurierten Paternoster Square in London eigentlich recht nett. In der FR erzählt die Schauspielerin Lotte Tobisch, wie sei einst Adorno das vollendete Glück bescherte. Es kunkelt außerdem noch recht mächtig in den Köpfen und Mägen der Feuilletons. Die taz erkennt dabei einen Gegensatz zwischen Haltbarkeits- und Zeitgeistfeuilleton.

SZ, 10.02.2004

In einem Essay denkt der Bamberger Sozialwissenschaftler Gerhard Schulze über die Existenzberechtigung der Geisteswissenschaften nach. "Es ist doch klar: Wenn die Elektronik im Auto verrückt spielt, holt man einen Techniker und keinen Literaturprofessor. Wenn es darum geht, einen Impfstoff gegen Aids zu finden, ist der Philosoph entbehrlich. Und was unterscheidet die Gentechnik von der Kirchenmusik? Gentechnik nützt der Wirtschaft und umgekehrt; Kirchenmusik bringt der Wirtschaft nichts, sie lebt bloß von ihr. Die Rolle der Geisteswissenschaften ist bestenfalls die einer Anstandsdame oder Geisha, wie man's nimmt. Dafür, dass sie nichts Nützliches beiträgt, ist sie freilich ganz schön teuer."

Klaus Harpprecht rechnet vor, dass wir eigentlich "alle Sozialdemokraten" seien. "Der vermeintliche Rückzug ist die klassische Flucht nach vorn. Der letzte Weg, der noch offen war. Vielleicht in Wirklichkeit eine Sackgasse, in der nichts mehr bleibt, als die Waffen zu strecken. Vielleicht auch der Durchbruch. Gab es eine andere Lösung? Korrekturen des Reformkurses, die den motzenden Bezirksfunktionären das Maul gestopft hätten (oder auch nicht)?"

Weiteres: Oliver Fuchs begleitet die Verleihung des Grammy (hier die Gewinner), Reinhard Schulz resümiert das Stuttgarter "Eclat - Festival für zeitgenössische Musik". Manfred Geier erklärt, worin die kritische Wende in der Philosophie Immanuel Kants wirklich bestand, und Willi Winkler rekonstruiert, warum aus Kant in einem Roman von Elias Canetti dann doch "Kein" wurde.

Lothar Müller befindet, im Fall Rowohlt-Kunkel sei Schweigen wohl eher Gold gewesen, Tobias Kniebe kommentiert reichlich desillusioniert den ersten öffentlichen Auftritt der Deutschen Filmakademie. In der Zwischenzeit räsoniert Wolfgang Schreiber über "rare geistige Lebensmittel" in Winterquartieren, "pst" erzählt die Geschichte eines verständlicherweise wahnsinnig gewordenen amerikanischen Finanzbeamten, "dice" meldet den Fund eines 1400 Jahre alten angelsächsischen Königsgrabs, und "de" berichtet über die Frankfurter Initiative gegen die Wiederwahl des Frankfurter Kulturdezernenten Hans-Bernhard Nordhoff. Auf der Medienseite geht es schließlich um die "Entdeckung" von grauhaarigen Leserschichten. Frühmerker!

Besprochen werden das Projekt "Attabambi - Pornoland" von Christoph Schlingensief im Schauspielhaus Zürich, das einzige Deutschlandgastspiel von Michail Baryschnikow in Heilbronn, eine Ausstellung "mäßig bekannter Arbeiten" von Jörg Immendorff im Kölner Museum Ludwig, der Film "The Missing" mit Cate Blanchett und Tommy Lee Jones, Filme von Robert Lepage und M. X. Oberg in der Panorama-Sektion der Berlinale und das "Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 10.02.2004

Georges Waser beschreibt den von William Whitfield, MacCormac, Eric Parry & Allies sowie Morrison restaurierten Paternoster Square in London, der nach jahrezehntelangem Architekturstreit endlich fertiggestellt wurde. Im Gegensatz zu englischen Kritikern findet Waser die neuen Bauten, die dicht neben St. Pauls Cathedral liegen, eigentlich ganz schön. Dennoch stimmt etwas nicht, wenn man dort steht, meint er: "Dieser Eindruck hat mit dem Maßstab zu tun; indem rings um den Paternoster Square zu gedrängt gebaut wurde, ging das Gefühl für den richtigen Abstand zu der gewaltigen Kathedrale verloren. Weiter ist es auch unglücklich, dass sich über der wohl schönsten Arkade der ganzen Anlage ein Gebäude erhebt, das an die Architektur im faschistischen Italien erinnert."

Roland Aegerter erinnert an den russisch-japanischen Krieg, der vor 100 Jahren begann: Mit seinem Sieg über die Russen stieg Japan zu einer asiatischen Großmacht auf. Angela Schader wirft einen Blick in die Zeitschriften Diwan und Fikrun wa Fann, deren neue Ausgaben dem Irak und Afghanistan gewidmet sind. Gemeldet wird, dass Peter Handke den ersten Siegfried-Unseld-Preis erhält.

Besprochen wird ein "Doppelabend" mit Kurzopern von Zemlinsky und Ravel in St. Gallen und Bücher, darunter Gedichte von Urs Allemann (hier) und Lars Gustafsson (hier) und Mario Vargas Llosas Roman "Das Paradies ist anderswo" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.02.2004

Die schöne Formulierung vom "Haltbarkeitsfeuilleton" findet Gerrit Bartels in seinem Text über die Buchskandale in jüngster Zeit. Es beurteile den "Gesamtzustand der Literatur unserer Gegenwart als erbarmungswürdig" und warte seinerseits "mit Büchern und Autoren auf, 'deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt'". "Es ist selbstverständlich eher unschön und ärgerlich, wenn das Zeitgeistfeuilleton jeden kleinen Debütanten überschwänglich und mit wortreichen Übertreibungen zum jeweils Allerallergrößten macht oder sich hauptsächlich durch Schnelligkeit auszeichnet - nur müsste eben das Haltbarkeitsfeuilleton dagegen einfach mal die Gstreins, Heins oder Genazinos auf ihre Aufschlagseiten setzen, so diese denn Großes in Romanform geschaffen haben. Das Problem aber: Ein großes Buch entfacht selten eine Debatte, Literatur braucht eben Zeit und kann nicht schnell reagieren. Und die Debatte ist noch immer, so widersinnig das sein mag, das liebste Kind des Haltbarkeitsfeuilletons. Her mit dem Politfeuilleton!" Aber, fragt Bartel mit Blick auf die "Haltbarkeit in der Literatur: Ist sie überhaupt eine literarische Kategorie? Muss Großes immer haltbar sein? Geht es beim Produzieren von Literatur immer gleich um den Nachruhm?"

Weiteres: Dietmar Kammerer berichtet von der ersten öffentlichen Tagung der neu gegründeten Deutschen Filmakademie in der Berliner Akademie der Künste, und Daniel Bax kommentiert die Grammy-Verleihungen. Auf der Meinungsseite würdigt Oliver Eberl den friedenspolitischen Entwurf von Immanuel Kant als "erstaunlich aktuell" und kritisiert "die Häme, mit der er zum Utopisten erklärt" werde. Auf tazzwei porträtiert Robin Alexander die Berliner Werbeagentur "Zum Goldenen Hirschen", die den Ruf hat, "Gutmenschen und die zynische Werbewelt" zu versöhnen, jetzt aber möglicherweise an der Aufgabe scheitere, "Rot-Grün in der Kanzlerdämmerung sexy zu machen". ("Der erste Job der Hirschen im Regierungsauftrag war, die Agenda 2010 mit Plakaten und Anzeigen zu popularisieren. Kann man die Einschränkung des Kündigungsschutzes witzig darstellen? Sind schärfere Zumutbarkeitskriterien sexy?") Auf der zweiten Meinungsseite erklärt Michael Streck das neue Männerbild in den USA ("Alphatiere sind out") und warum Präsidentschaftskandidat John Kerry deshalb heute "gute Chancen" habe, auch in Tennessee und Virginia zu siegen. Und die Medienseite berichtet über das Schwulen-Magazin "Du und Ich", das "Schäferstündchen" verschenkt und mit der dazu gehörigen Schlagzeile ("Zeitschrift verlost fünf Prostituierte") den Pressedienst dpa irritierte.

Besprochen werden Sebastian Nüblings Inszenierung von Schillers "Don Karlos" an den Münchner Kammerspielen und das Flüchtlingsepos "Beautiful Country" des Norwegers Hans Peter Moland mit Damien Nguyen, Nick Nolte und Tim Roth.

Und hier TOM.

FR, 10.02.2004

In einem Interview erzählt die Schauspielerin Lotte Tobisch, die jetzt ihren privaten Briefwechsel zwischen 1962 und 1969 mit Theodor Adorno veröffentlicht hat, wie sie Adorno durch eine Art Unfall kennen lernte: "Ich war beim ehemaligen Burgtheaterdirektor Josef Gielen, mit dem ich gut befreundet war, zum Mittagessen eingeladen. Er sagte mir, Adorno kommt. Ich wusste nur, dass er ein berühmter Mann ist, der sehr komplizierte Bücher geschrieben hat. Und dann stand plötzlich ein Mann in der Tür, nicht sehr groß, ein bisschen embonpoint, mit seinen riesigen braunen Augen. Er war total verschreckt, und man fragte ihn, was denn passiert sei. Er sagte: Gretelchen ist gestürzt, und ich weiß gar nicht, wie das alles weitergehen soll! Wo ist denn das Gretelchen, habe ich dann gefragt. Wenn Sie gestatten, werd' ich mich drum kümmern. Bin also zum Hotel, hab' die Gretel gepackt, bin mit ihr ins Krankenhaus, da hat sich herausgestellt: Bänderzerrung, weiter nichts. Sie hat einen Verband bekommen, und dann bin ich mit ihr im Schlepptau zurück zu Gielens. Und das war für Adorno das vollendete Glück, als ich mit Gretel hereinkam."

In Times mager wundert sich Ina Hartwig über die "Musealisierungsfunktion" des Siegfried-Unseld-Preises, der in diesem Jahr Peter Handke zuerkannt wird. Sie vermutet, dass bei der Entscheidung durchaus "eine gewisse Fassungslosigkeit" einkalkuliert worden sein mag. "Sollte Handke das Preisgeld, wie schon beim Blauen Salon Preis, spenden wollen, so können wir nur innig hoffen, dass es wieder einem afghanischen Museum zugute kommt. Aber bei einem Mann, der zuletzt über den in Den Haag der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten Milosevic empathische, um nicht zu sagen sympathetische Beiträge schrieb, bei dem kann man nie wissen."

Weitere Artikel: Ulrich von Thüna resümiert das Ophüls-Filmfest in Saarbrücken und meldet den Preisträger: "Muxmäuschenstill" von Marcus Mittermeier, "ein kurioses Stück aus Berlin, aber für einen Spielfilm doch ein bisschen dünn." Hans-Klaus Jungheinrich berichtet über das Stuttgarter Eclat-Festival für zeitgenössische Musik, und Franz Anton Cramer lobt die Tanzplattform 2004 in Düsseldorf. Auf der Medienseite stimmt Jürgen Roth ein "Lamento" über Expertenarmut und Unterhaltungsabsicht in der Radiosportberichterstattung an.

Besprochen wird eine misslungene Inszenierung von Melvilles "Moby Dick" am Freiburger Theater, und Rüdiger Suchsland informiert über Beiträge im Berlinale-Panorama, darunter "The Stratosphere Girl" des deutschen Regisseurs M. X. Oberg, der als eine Art "deutsche Variante von "Lost in Translation" beschrieben werden könne.

FAZ, 10.02.2004

Hubert Spiegel kommentiert den Streit zwischen dem Rowohlt-Verleger Alexander Fest, der sich im Spiegel sehr scharf äußerte, und seinem ehemaligen Autor Thor Kunkel, der mit einem Offenen Brief reagierte und seinen Roman "Endstufe" nochmals verteidigte (wir zitieren hier aus dem Brief). Christian Geyer schreibt eine Leitglosse über Gerhard Schröders Begriff der Arbeitsteilung. Michael Jeismann resümiert eine Tagung über den Algerien-Krieg am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Rainer Herrmann schreibt in der Reihe über die Goethe-Institute über das Institut von Kairo, das sich um den Islam-Dialog verdient macht (und zum Arabienschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse interessante Internetprojekte vorbereitet, mehr dazu hier)). Edo Reents meldet die Vergabe der Grammy-Musikpreise. Zhou Derong schildert, wie die chinesische Festlandsregierung taiwanesische Geschäftsleute vor den Wahlen in Taiwan unter Druck setzt.

Auf der Berlinale-Seite bespricht Andreas Kilb neue Wettbewerbsfilme und hebt besonders den dänischen Dogma-Film "Forbrydelser" (Verbrecher) hervor (wir berichteten). Auch Andreas Platthaus hat sich Wettbewerbsfilme angesehen, nämlich "El Abrazo Partido" aus Argentinien und "Primo Amore" aus Italien. Mark Siemons meditiert über ethnologische Aspekte am Festival. Und Andreas Platthaus schwärmt von Volker Koepps Dokumentarfilm "Dieses Jahr in Czernowitz".

Au der Medienseite schreibt Sebastian Domsch in der Reihe "Stimmen" über Computerstimmen - zum Beispiel die von HAL aus "2001". Corinna Tertel stellt die neue Zeitschrift Abenteuer Archäologie vor. Und Michael Hanfeld präsentiert die neueste Idee zur sinnvollen Gebührenausgabe beim ZDF: Thomas Gottschalk als Hausmann bei x-beliebigen deutschen Familien, und das als Show.

Auf der letzten Seite erzählt Ilona Lehnart die abenteuerliche Geschichte einiger von russischen Soldaten aus Sanssouci geraubter Gemälde. Oliver Tolmein studiert Schweizer Richtlinien zur Sterbehilfe. Andreas Platthaus porträtiert den Gitarristen John Cale, der die Musik zu einem französischen Berlinalefilm machte.

Besprochen werden zwei Canova-Ausstellungen in Possagno und Bassano del Grappo (mehr hier), Peter Weiss' "Ermittlung", chorbegleitet in der Dresdner Kreuzkirche, ein Soloabend von Mikhail Baryschnikow in Heilbronn und eine Dramatisierung des "Moby Dick" mit Dieter Laser in Freiburg.