Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2003. Die FAZ prophezeit einen Kampf der Stellvertreter Christi: Bush gegen den Papst. In der FR diagnostiziert der Philosoph Jean-Luc Nancy einen Kampf im Inneren der westlichen Zivilisation. In der SZ plädiert Wolf Lepenies dafür, mit den osteuropäischen Demokratien Europas Gewicht in der Welt zu stärken. Die NZZ berichtet vom Unsinn der Evaluation an Universitäten. Die Zeit prophezeit Verteilungskämpfe um die Ressource Jugend.

FAZ, 30.01.2003

Nach George W. Bushs Rede zur Lage der Nation (zum Nachlesen hier) bereitet Christian Geyer auf Ärger zwischen den beiden "Stellvertretern Christi" vor: Dem Papst gefalle Bushs schon länger gepflegte politische Theologie, in der sich der geläuterter Christenmensch aufmacht, das Übel zu bekämpfen und das Ferment des Bösen zu neutralisieren, nämlich überhaupt nicht: "Der Papst band sein 'Nein zum Krieg' in ein 'Ja zum Leben' ein, dessen Pointe darin besteht, in der Bewertung menschlichen Lebens keine Unterschiede zuzulassen. Das Böse beginnt für ihn dort, wo jemand als Gutgewordener 'gleichsam Leben und Tod auf Bestellung' legitimiert. Dass der Papst sein nachdrückliches Fragezeichen hinter einen Irak-Krieg in einen solchen Redekontext einband, mag für Bush der größte Stachel dieses Votums aus Rom sein. Denn es richtet sich nicht nur gegen einen aus päpstlicher Sicht verfehlten Krieg im Irak, es stellt vielmehr das Moralverständnis des Moralisten Bush bloß: als ein selektives, religiös mehr verbrämtes als begründetes."

Außerdem dürfen eine Reihe von Intellektuellen die Rede kommentieren. Hayden White etwa nennt sie "das Ergebnis von Panik und Provinzialität"), der Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht eine "Rhapsodie in Flau".

Im update erfahren wir von Joseph Hanimann, dass Frankreich künftig die Verhöhnung der Marseillaise unter Strafe stellt. Gina Thomas stellt die britische Autorin Claire Tomalin (mehr hier) vor, die mit ihrer Biografie des Chronisten Samuel Pepys gerade den Whitbread-Preis gewonnen hat. Andreas Rosenfelder war zu Besuch bei der ersten Ich-AG Nordrhein-Westfalens, bei Adrian Gratzke. Und Kurt Reumann betrachtet die neue Forschung zur Seidenstraße.

Bert Rebhandl porträtiert auf der Film-Seite die Künstlerin Valerie Export, die mit ihren Filmen ebenso gut Festivals wie das Kunstfeld bestücken kann. Das indische Bollywood boomt nicht mehr, von 132 neuen Filmen im Jahr 2002 waren sage und schreibe 124 reine Flops, berichtet Martin Kämpchen. Helfen soll den Studios jetzt die Produktion indischer Filme in englischer Sprache.

Auf der Medien-Seite kündigt Michaela Wiegel einen französischen Nachrichtensender an, ein CNN a la francais, der nach dem Willen Jacques Chiracs dem angloamerikanischen Schwergewicht in der Weltmeinungsschlacht künftig die "Nouvelles" entgegensetzen soll.

Besprochen werden die Schau "Schatzkammer Polen" im Kunsthistorischen Museum Wien, die Ausstellung "Klaus Mann et la France" im Goethe-Institut Paris, die Uraufführung von Hans Werner Henzes zehnter Symphonie mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern.

FR, 30.01.2003

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy (mehr hier) widerspricht der Vorstellung vom "Krieg der Zivilisationen", die für ihn den "Horizont der Diskussionen" um einen Krieg im Irak bildet. Vielmehr handele es sich um einen Prozess im Inneren der westlichen Zivilisation. "Sie selbst zerreißt sich... Sie produziert auf der einen Seite die amerikanische Übermacht, auf der anderen das schwerwiegende Identitätsdefizit Europas, und sie bringt unübersehbar den Widerspruch ans Licht zwischen ihrem Anspruch auf eine rational-moralische Universalität und der schreienden Ungerechtigkeit der Situationen, die durch ihre eigene Herrschaft geschaffen werden.... Nichts ist symptomatischer für diesen Stand der Dinge als die religiöse Vorstellung. Von einer Seite her taucht eine Karikatur des Islam auf, in der die seichtesten Züge der beschränktesten und naivsten Aspekte von dessen Tradition ... in Wundstarrkrampf-Steifheit erstarrt sind, von der anderen Seite will ihm die Zuversicht eines nicht minder naiven Moralismus antworten, der "in God we trust" den Rückhalt gibt, der notwendig ist, damit die Freiheit herrschen kann."

Weitere Artikel: Jochen Schimmang liefert Provinzansichten vom Wahlkampf in Niedersachsen. Ernst Piper erinnert an die sogenannte Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die sich heute zum siebzigsten Mal jährt. Rudolf Walter gibt dem Sonntag verstorbenen Philosophen Ernst Topitsch das letzte Geleit. Stefan Karl Hug erinnert an ein Urteil des Bundesgerichtshofes, der vor fünfzig Jahren die Mensur beim Fechten legalisierte. Rene Aguigah macht auf einen der bemerkenswertesten Texte aufmerksam, den die Zeitschrift Merkur seiner Ansicht nach in letzter Zeit gedruckt hat: die Annonce eines Essaywettbewerbs für Autoren, die jünger als achtundzwanzig Jahre alt sind. In der Kolumne Times Mager befürchtet Alexander Schnackenburg nach dem Rücktritt von Klaus Pierwoß von der Intendanz des Bremer Theaters den Abstieg.

Besprochen werden: die Ausstellung über das Künstlerpaar Johanna Hofer und Fritz Kortner der Berliner Akademie der Künste, die Petra Kohse als "Gemengelage von Rührung und Ratlosigkeit, Hochschätzung und Verwendungslosigkeit" letzlich misslungen findet, Steven Spielbergs Hochstaplerfilm "Catch Me If You Can" und eine Ausstellung mit 63 Farbaufnahmen der Londoner Porträt- und Modefotografin Madame Yevonde (1893-1975) im Kunstmuseum Wolfsburg.

NZZ, 30.01.2003

Die Kunsthistorikerin und Publizistin Bettina Erche untersucht die "Qualitätskontrollen", die deutschen, englischen und bald wohl auch Schweizer Universitäten in Form der "Evaluation" aufgezwungen werden. Gut gemeint, aber mit durchaus absurden Zügen, wie Erche in ihrem gut recherchierten Artikel zeigt: "Dass finanzieller Druck Anpassung erzeugt, ist evident ... Der geringe Widerstand gegen die Reform eröffnet einem neuen Professorentypus die Karrierechance. Es ist der Funktionärsprofessor, der sich nicht durch wissenschaftliche Erfolge hervortut, sondern sich durch den Eifer für Kontrollsysteme seine Stellung schafft. Das heisst, dass seine Evaluationsbefähigung bestätigt wird." Das fällt langsam auch den Verantwortlichen auf, erklärt Erche. "Der Wissenschaftsrat argwöhnt, dass die Professoren ihre Themen nach den Erfolgsaussichten bei der Evaluation wählen könnten, und hat gleich die passende Medizin parat: Evaluation des Evaluationsverhaltens! Unterstützt wird der Wissenschaftsrat durch die Deutsche Gesellschaft für Evaluation: Durch regelmässige 'Meta-Evaluationen' würden die Glaubwürdigkeit der Evaluationsergebnisse und die des neuen Berufsstandes der Evaluatoren erhöht . . ."

Weitere Artikel: Christian Gasser resümiert das 30. internationale Comic-Festival von Angouleme: "Angouleme demonstrierte beeindruckend den Stellenwert, den die Bande dessinee in Frankreich hat. Während die Comics bei uns ein Nischendasein fristen, sind sie dort nicht nur Massenunterhaltung, Avantgardekunst, Alltagskultur und Gesellschaftsphänomen, sondern auch ein ernst zu nehmender Wirtschaftszweig." Hans Künzi kündigt ein Gedenk-Kolloquium zu Ehren des Mathematikers Bartel Leendert van der Waerden (mehr hier und hier) an, das morgen in Zürich stattfinden soll.

Besprochen werden die CD-Box "Swiss Pop & Rock Anthology" (mehr hier, auch zum Hören), ein Auftritt des Cullberg-Balletts in Zug und viele Bücher, darunter Judith Hermanns neuer Erzählband "Nichts als Gespenster" und Nikolaus Glattauers Debütroman "Jakobus, Stiefsohn Gottes" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 30.01.2003

Tobias Rapp findet, dass in George W. Bushs Rede zur Lage der Nation dessen 'compassionate conservativism' als "eine Art rechter Theologie der Befreiung" eine "interessante Wiederauferstehung" gefeiert hat. "Zwischen seinen Versprechen, die Steuern weiter zu senken, ganz viel Geld für den Kampf gegen Aids in Afrika zur Verfügung zu stellen, Drogenabhängigen helfen zu wollen, und seiner Ankündigung, um Terroristen werde sich 'gekümmert werden', flocht Bush immer wieder Sätze ein wie diese: 'Der Ruf, dem wir als gesegnetes Land folgen müssen, ist es, die Welt besser zu machen.' - 'Freie Menschen werden den Gang der Geschichte bestimmen.' - 'Wir schreiten voller Vertrauen voran, denn der Ruf der Geschichte hat das richtige Land gefunden.' - 'Wir bringen Opfer für die Freiheit von Fremden. Die Amerikaner sind ein freies Volk, das weiß, dass jeder Mensch das Recht auf Freiheit hat und Freiheit die Zukunft aller Nationen ist. Das ist nicht Amerikas Geschenk an die Welt, das ist Gottes Gabe an die Menschheit.' "

Weitere Artikel: Andre Meier hat sich mit den Gemälden der Frontmaler beschäftigt, die im Auftrag von Joseph Goebbels die Niederlage von Stalingrad als Untergang der Nibelungen darstellen sollten. Philipp Bühler beklagt, dass die deutsche Verleihpraxis ebenso unergründlich ist, wie die Verzweiflung des Jet Sets, von der auch Claude Lelouchs neuer Film "And Now Ladies & Gentlemen" handelt, der in Deutschland lediglich in einer erheblich gekürzten Fassung gezeigt werde.

Auf der Internetseite gibt es ein Gespräch mit Perry Barlow ( mehr hier) zum Thema digitales Copyright. Barlow, ehemaliger Viehzüchter, Texter für die Band "Grateful Dead" und einer der Vordenker der Netzkultur, glaubt, dass sich am Ende die Freiheit der Information durchsetzen wird und warnt vor neuen, weltweiten Monopolen der Medienindustrie.

Besprochen werden: Zabou Breitmans Regiebüt "Claire - Se souvenir des belles choses", Robert Rodriguez' Film "Spy Kids 2 - Die Rückkehr der Superspione" und Michael Althens Buch "Warte, bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung ans Kino" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

SZ, 30.01.2003

Wolf Lepenies plädiert in einem Artikel dafür, dass das "Alte Europa" die "Spaltungsversuche der US-Regierung" - hier der handlungsunfähige Westen, dort die frischen Demokratien im Osten - produktiv nutzt: "Im engen Zusammenwirken mit den neuen Mitgliedsländern der Union kommt es jetzt mehr denn je darauf an, der europäischen Politik wieder zu einer stärkeren Wirksamkeit in der Welt zu verhelfen. Eine Rahmenbedingung ist der Verzicht auf einen Anti-Amerikanismus, der die Einheit Europas nicht fördern, sondern mit Sicherheit schwächen würde. Unabdingbar ist der Mut zu einer Ideenpolitik, die über die Grenzen Europas hinausreicht."

Der Historiker Tobias Jersak (mehr hier) berichtet, dass um die politische Zukunft des Irak schon 1941 gerangelt wurde: Im April begann Großbritannien einen Feldzug gegen den Irak. Hitler dachte darüber nach, die Iraker zu unterstützen, schickt letztlich aber nur den "Gesandten Grobba, eine Militärmission und zwei Flugzeugstaffeln zu je 12 Maschinen", die nicht viel ausrichten konnten. "Worum ging es in diesem Krieg eigentlich? Vielleicht erschließt sich die Antwort auf diese Frage erst aus der Zukunft der Vergangenheit: Einige Jahre später erklärte der englische Kriegspremier Winston Churchill, Hitler habe 1941 'die Gelegenheit verstreichen lassen, sich im Nahen Osten einen großen Schatz zu einem kleinen Preis zu nehmen'."

Weitere Artikel: Abgedruckt ist ein Vortrag, den der Historiker Norbert Frei zum siebzigsten Jahrestag der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten gehalten hat. Holger Liebs findet trotz des gegenwärtigen Booms der Malerei die wahre Revolution der Bilder in der Videokunst. Thomas Steinfeld hat den Pianisten Keith Jarrett interviewt, der soeben den "Polar Prize" 2003 der Schwedischen Akademie für Musik bekommen hat. Gemeldet wird, dass 41 US-Nobelpreisträger eine Erklärung veröffentlicht haben, die vor einem Präventivkrieg gegen den Irak warnt (mehr hier). Lanf. stellt kurz die britische Autorin Claire Tomalin vor, die gegen ihren Ehemann Michael Frayn den Whitbread-Preis gewonnen hat. Tomalin erhielt den Preis für ihre Biografie des Marinesekretärs Samuel Pepys (1633 bis 1703).

Der berühmte amerikanische Drehbuchautor William Goldman entdeckt Hoffnungsträger: Sandra Nettelbeck, Rob Marshall und Roman Polanski, über den er folgende Geschichte erzählt: "Ich traf Polanski einst in Robert Evans' Büro, Mitte der Siebziger. Ich arbeitete damals am 'Marathon Man'. 'Chinatown' war eben angelaufen. Wir wurden einander vorgestellt und aus welchem Grund auch immer - vielleicht weil alles irgendwie Scheiße ist - schwärmte ich nicht von dem Film, sondern sprach diese vier Worte. 'Better luck next time'." Einen Hoffnungsträger erblickt die SZ auch in der plötzlich mit Farbbildern geschmückten FAZ: "So also bewegt sich die 'Zeitung für Deutschland', die die betagte Fraktur-Schrift über Kommentaren liebt, also doch, und für die erstarrte Republik ist das ein gutes Zeichen."

Besprochen werden: Claude Lelouchs neuer Film "And Now Ladies & Gentlemen" (hier ein Interview mit Lelouch), eine Ausstellung über Fritz Kortner und Johanna Hofer in der Akademie der Künste in Berlin, das 38. Filmfest in Solothurn, der Trailer für den Film "Terminator 3" (sehen Sie selbst), Michele Reverdys neue Oper "Medea" nach Christa Wolfs gleichnamiger Erzählung an der Opera National de Lyon und Bücher, darunter Christoph Ransmayrs "Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 30.01.2003

In der Serie über das Altern Deutschlands denkt Thomas Groß über die Popkultur nach, die, selbst unfähig zu altern, die Alten in den Bann ihrer Jugendlichkeit zieht. Aber auch das ist problematisch: "In der Totalisierung von Jugend als Jugendlichkeit deutet sich auch eine Krise an. Wo alle jung sind, ist es keiner mehr und je kürzer die Zyklen werden, in denen die Kulturindustrie Klone ins Rennen schickt, desto mehr wächst der Bedarf. Anzunehmen, dass einer der bevorstehenden Verteilungskämpfe um die im Überfluss knapp gewordene Ressource Jugend ausgetragen wird."

Weitere Artikel: Auf Timothy Garton Ashs (mehr hier) hier verdienstvoller Weise übersetzten Artikel über den amerikanischen Anti-Europäismus haben wir schon hingewiesen, als er im Original erschien. Michael Naumann sieht die USA zur überwachten Gesellschaft werden, hofft aber auch, dass sie sich selbst von den Orgien der Total Information Awareness auch selbst wieder befreien werden. Christian Ankowitsch porträtiert die Europäische Kulturhauptstadt des Jahres, Graz. Jan Ross teilt mit, dass Deutschland seit Jahrhunderten eine Nation der Generationenkonflikte ist.

Besprochen werden Schreker-Opern in Frankfurt und Kiel, Steven Spielbergs Film "Catch me if you can", Lou Reeds neue CD "The Raven" und eine Carl-Spitzweg-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst.

Und so resümiert Iris Radisch Judith Hermanns neue Erzählungen im Aufmacher des Literaturteils: "Man reist, man trifft sich, man vollzieht den Liebesakt oder vollzieht ihn nicht, beides mit nämlicher Leidenschaftslosigkeit, man schweigt und raucht." Mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.

Im politischen Teil finden wir einen Essay von Adam Garfinkle, Chefredakteur der Zeitschrift The National Interest, über die "Illusion von einer gewaltsamen Demokratisierung des Irak".