Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2002. Die NZZ erzählt die Geschichte des chinesischen Marshalls Zhang Xueliang, der 1936 General Tschiang Kai-schek festnehmen ließ. In der FAZ feiert Mario Vargas Llosa den Kritiker Marcel Reich-Ranicki für seine Autobiografie. Die FR fordert eine neue Vertriebenendebatte. München ist pleite, klagt die SZ.

NZZ, 26.07.2002

Matthias Messmer erzählt die Geschichte des chinesischen Marshalls Zhang Xueliang, der 1936 für den sogenannten Xi'an-Zwischenfall verantwortlich war. Der damals 38-jährige Zhang Xueliang ließ damals anlässlich einer militärischen Besprechung General Tschiang Kai-schek kurzerhand festnehmen, weil dieser "lieber zuerst den Kommunisten den Garaus machen als die Japaner bekämpfen wollte". Nur durch die "Vermittlung Zhou Enlais und Meiling Songs, der Ehefrau Tschiang Kai-scheks, erlangte dieser die Freiheit wieder und ließ sich - zumindest vorübergehend - zum gemeinsamen Bündnis mit den Kommunisten überreden". Zhang Xueliang wurde 50 Jahre unter Hausarrest gestellt. Jetzt wurde an der Columbia University der Öffentlichkeit die "Peter H. L. Chang and Edith Chao Chang Collection" zugänglich gemacht, die Aufschlüsse geben soll über "seine Rolle während des Xi'an-Zwischenfalls wie auch über andere Zusammenhänge, die das Denken und Wirken maßgeblicher Politiker jener Zeit und somit die moderne chinesische Geschichte beeinflusst haben". In der Kollektion findet sich u.a. ein "knapp 5000 Seiten umfassendes Interview, das von zwei Historikern mit dem Marschall in den neunziger Jahren geführt, jedoch bis anhin geheim gehalten wurde".

Weitere Artikel: Joachim Güntner kommentiert das Karlsruher Urteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft. Brigitte Neumann und Udo Taubitz haben den britischen Kinderbuchautor Philip Pullman (mehr hier), der gerade den renommierten Whitbread Award erhalten hat, in Oxford besucht. Auf Deutsch erschien von ihm "Das Bernstein-Teleskop". H. T. W. meldet, dass die English National Opera derzeit führungslos ist.

Besprochen wird eine Ausstellung über Matisse und Picasso in der Londoner Tate Modern.

FAZ, 26.07.2002

Mario Vargas Llosa (mehr hier) hat Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" gelesen und war so begeistert, dass er - wie aus heiterem Himmel - der FAZ eine Hommage an den Kritiker geschickt hat. Sein Eindruck bei der Lektüre: "Wenn er über Gedichte, Theater, Romane oder Musik spricht, werden seine Seiten emotional, füllen sich mit Großherzigkeit, mit Sympathie und Begeisterung. Wenn sie dagegen um Menschen kreisen, werden sie kalt, bisweilen eisig, und sind oft von einer verletzenden Strenge, die an Grausamkeit grenzt."

Hussain Al-Mozany beschreibt, wie Saddam Hussein in der gesamten arabischen Welt Gefolgsleute finanziell belohnt: So hätten in Jordanien einige Journalisten inzwischen ihr Geld direkt von der irakischen Botschaft in Amman erhalten. Sie trauten sich seitdem eher, die jordanische Regierung zu kritisieren als den irakischen Diktator. Und auch für palästinensische Selbstmordattentäter gelten besondere Tarife. "Der Familie eines Selbstmordattentäters, der sich und seine Opfer in die Luft sprengt, werden 30 000 Dollar übergeben, zumeist am Tag seiner Beerdigung. Wenn aber ein Freischärler im Nahkampf mit der israelischen Armee ums Leben kommt, erhalten seine Angehörigen lediglich 2000 Dollar. Für jede von den Israelis zerstörte Wohnung gibt es ebenfalls 2000 Dollar Entschädigung."

In der Reihe "Darf Preußen sein?" beschwört der amerikanische Historiker David Clay Large ("Berlin. Eine Biografe") die Wiederbelebung des preußischen Geistes: "Aber wenn der Namenswechsel auch nur einen kleinen Teil der Tugenden wieder lebendig machte, für die Preußen einst bewundert wurde - Disziplin, harte Arbeit, Sparsamkeit und Ehrlichkeit seiner Führungsschicht -, so wäre dies nur zum Vorteil für Berlin und Brandenburg."

Weitere Artikel: Frank Pergande widmet sich dem Denkmalschutz in Brandenburg, den tausende verfallende Schlösser und desinteressierte Touristen vor Probleme stellen. Patrick Bahner porträtiert den Richter am Obersten Gerichtshof der USA und Jesuitenschüler Antonin Scalia. Gina Thomas wünscht sich für und von Michael Boyd, dem neuen Chef der Shakespeare Company. Michael Althen gratuliert Blake Edwards zum achtzigsten Geburtstag. Siegfried Stadler freut sich, dass nun endlich bekannt ist, wo der Schatz von Sangershausen gefunden wurde. Horst Rademacher erklärt, warum bei steigenden Temperaturen die Monsunwinde zunehmen. Und "L.J." meldet den Tod des rechtsradikalen Autors William Luther Pierce, "einer der heftigsten Hassers und einer der bestgehassten Männer" der USA.

Auf der Medien-Seite erklärt ein gnadenloser Cord Riechelmann, warum wir dem Affen auch in Vorabendserien keinen Zucker geben sollen: "Ohne Anwendung von Gewalt ist nämlich mit Menschenaffen nicht gut Filmedrehen." Michael Henfeld hat sich Michel Friedmans Gespräch mit Ariel Sharon angesehen.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Gene(sis): Contemporary Art Explores Human Genomics" in Seattle, der Schau "Oskar Kokoschka und das moderne Bildnis" in der Hamburger Kunsthalle, einer Ausstellung über Albrecht Daniel Thaer in Celle und Bücher: Jeanette Wintersons Roman "Das Powerbook" und Jochen Beckers Großstadtanthologie "bigness - Kritik der unternehmerischen Stadt" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 26.07.2002

In der FR nehmen die beiden Historiker Eva Hahn und Hans Henning Hahn Fäden der schon abgeklungenen Vertriebenendebatte wieder auf und erklären den gestern wie heute gehandhabten politischen Missbrauch der Erinnerung an Flucht und Vertreibung als Integration individueller Erinnerungen und familiärer Formen des Erinnerns in "politisch determinierte Formen des kulturellen Gedächtnisses des verlorenen 'deutschen Ostens'". Gedächtnisformen, wie die Hahns schreiben, die nicht mit den Erinnerungen der Nachbarvölker korrespondieren, die das Erinnerte nicht multiperspektivisch darstellen und der zerstörten Multikulturalität nicht gerecht werden. "In der Bundesrepublik steht bis heute eine offene, politischem Druck widerstehende Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit und ihren Erinnerungen an die Vertreibung aus."

In einem anderen Beitrag entdeckt Christian Schlüter Berlin als Experimentierfeld symbolischer Politik. "Hier wird immer noch viel genörgelt, das Unbehagen an allem und jedem gehört zu den bevorzugten Verkehrsformen, kulturkritische Ambitionen aber sind kaum noch - nicht einmal mehr beim sprichwörtlichen Taxifahrer - auszumachen." Beweggründe gäb's ja genug (Stichworte: Flierl-Haushalt, Shoah-Denkmal), aber: "Die hauptstädtische Repräsentationskultur, das unbezwingbare Bedürfnis nach ihr haben einen Preis: Erfolg ist vergänglich, symbolische Politik kennt nur den schnellen Erfolg, und der ist besonders vergänglich - ein guter Grund, Politikberater aufgepasst, ein Plädoyer für noch mehr symbolische Politik."

Weitere Artikel: Am Rande des Architektur-Weltkongresses in Berlin trifft Christian Thomas lauter erbärmlich demoralisierte Architekten. Karin Ceballos Betancur nimmt uns mit auf Exkursion nach San Blas, dem Künstlerviertel der peruanischen Backpacker-Hauptstadt Cuzco. "Times mager" folgt dem längsten Autostrich der Welt von Bratislava bis nach Brescia in Italien, und dpa meldet, dass die russische Staatsanwaltschaft den Schriftsteller Wladimir Sorokin (mehr hier) wegen angeblicher Pornografie in seinem Werk bedrängt!

Besprechungen widmen sich Jake Kasdans ehrgeizigem Teenagerfilm "Nix wie raus aus Orange County", einem Sommer-Album der "Gitarrenfrau" Gemma Hayes ("Night On My Side"), einer Schau über ressourcenschonendes Bauen in Skandinavien (mehr hier), zu sehen in den Nordischen Botschaften in Berlin und Tobias Rehbergers Ausstellung "Geläut bis ich's hör" im ZKM Karlsruhe.

TAZ, 26.07.2002

Bruce Springsteens Soundtrack zum 11. September ("The Rising") nimmt sich Thomas Winkler in den Tagesthemen vor. Musikalisch ist die Scheibe zwar nicht der Rede wert, als großes Wundpflaster aber taugt sie dafür um so besser. Springsteen schlüpft in alle Rollen, die die Katastrophe zu bieten hat, fühlt mit der hinterbliebenen Familie, mit der Soldatenbraut, deren Mann im Krieg gegen den Terror kämpft, und nimmt - das ist doll - schließlich sogar die Gestalt eines Selbstmordattentäters an. "Vor allem aber werden auf 'The Rising' Denkmäler gesetzt: Den Feuerwehrleuten, die ins brennende World Trade Center stürmen, um Hilfe zu leisten ('Into the Fire'); den verzweifelten New Yorkern, die in den Stunden nach dem Unglück orientierungslos durch die Straßen ihrer Stadt taumeln und in einen leeren Himmel starren ('Empty Sky'); dem unbekannten Broker, der unter den Trümmern begraben liegt ("Nothing Man"); und natürlich der Stadt selbst, die sich mit Hilfe des Herrn wieder aus den Ruinen erheben möge ('My City Of Ruins')."

In der Kultur klärt Julia Grosse am Beispiel der Essener "Kokerei Zollverein" mit ihrem Jahresprojekt "Campus 2002", was ein Museum heute sein kann (ein Ort für Hip-Hop-Konzerte etwa). Arno Frank stellt das neue Album der legendären Flaming Lips vor ("Yoshimi Battles The Pink Robots") und Thomas Winkler bespricht Neues vom Ex-"Hüsker Dü"-Gitarristen Bob Mould ("Modulate", mehr zu Bob Mould hier).

Schließlich TOM.

SZ, 26.07.2002

Nach Frankfurt und Berlin ist jetzt auch München pleite. Gut so, meint allerdings Gerhard Matzig. Wenn nämlich die "unheimliche Hauptstadt des Geldes" schon keines mehr hat, denkt er sich, wird ja vielleicht endlich Alarm ausgelöst und darüber nachgedacht, was aus den zerrütteten Finanzen unserer Städte werden soll. Und nicht nur aus den Finanzen. "Es geht um viel mehr: um die Zukunft der Stadt und ihrer Kultur. Es geht, man muss das Pathos nicht fürchten, um unser Dasein, dessen zivilisatorisch-kulturelle Begründung und Ausformung nicht nur von 'Bund' oder 'Ländern' abhängt. Unser Schicksal ist vor allem mit jenem der 'Stadt' verbunden. Untrennbar und seit jeher. Die Frage nach den Finanzen der Städte ist also mit Geld allein gar nicht zu beantworten. Das öffentliche Bewusstsein von Not und Notwendigkeit muss noch dazukommen."

Weitere Artikel: Holger Liebs stellt uns die reichsten Kunstsammler der Welt und ihre Vorlieben vor (man bevorzugt Zeitgenössisches). Uwe Mattheiss erklärt, warum die Salzburger Festspiele Elfriede Jelineks Stück "Macht nichts" nicht zeigen (das Bühnenbild zu groß, die Köpfe zu klein). Frank Ebbinghaus freut sich über die Edition der Briefe des Generals von Scharnhorst. Joachim Riedl erzählt den Kunsthandels-Krimi um das teuerste Gemälde der Welt, Peter Paul Rubens' "Massaker der Unschuldigen". Fritz Göttler gratuliert dem Regisseur Blake Edwards zum 80., Andrian Kreye trauert um den National Alliance-Gründer William Pierce und Claus Koch liefert seine "Noten und Notizen".

Besprochen werden Jake Kasdans Film "Nichts wie raus aus Orange County", eine Schau über die Kalaschnikow im thüringischen Suhl, das neue Album "Risky Business" des unkonventionellen Jazz-Trios "Der Rote Bereich", eine Ausstellung mit wieder entdeckten New-York-Fotografien von George Grosz im Berliner Haus Huth, ein Beitrag zur politischen Philosophie Derridas in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Philosophie, ein etwas disparat geratener Bildband von Thomas Struth, Paul Austers Roman "Das Buch der Illusionen" sowie ein erfrischendes (wenn auch schon drei Jahre altes) Buch über die Krise der amerikanischen Kultur (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).