Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2001. Die Buchmesse hat ihre Pforten fürs Fachpublikum geöffnet - das spiegelt sich auch in den Feuilletons wieder: Die taz macht sich Sorgen um den Schwerpunkt Griechenland, die NZZ lobt die neue Übersichtlichkeit auf dem Gelände und die SZ beschreibt die Messe in Zeiten des Krieges.

FAZ, 10.10.2001

Der afghanisch-amerikanische Autor Tamin Ansary mahnt den Westen: dies sei kein Krieg um Land, sondern um Menschen. "Mir scheint, dass der Westen, der seine Raketen gerade abfeuert, im Begriff ist, diese Schlacht zu verlieren. Versetzen wir uns einmal in diesen Jugendlichen und fragen uns, was ihn mitreißt. Auf der einen Seite sieht er Bin Ladin, der nicht hinter einem Schreibtisch sitzt, sondern in einer Höhle, gekleidet im schmucklosen Gewand des strenggläubigen Muslim, der so sanft aussieht und doch so stark ist - ein Mann, der seinen Weg geht. Dieser Jugendliche stellt sich vor, dass er später einmal wie Bin Ladin wird oder . . . wie wer? Wie sieht das andere Bild aus? Ist es Bush, der im blauen Anzug das Weiße Haus verlässt? Nein. Es gibt überhaupt keine romantische Heldenfigur auf der anderen Seite."

Die deutsche Käsesituation ist miserabel, wie Michael Allmaier von einem Treffen der Slow Food-Bewegung im italienischen Bra berichtet. Franzosen, Italiener, Spanier können Dutzende von Sorten Rohmilchkäse mit den unterschiedlichsten Aromen präsentieren. Und in Deutschland? "Vier Sorten mit geschützter Ursprungsbezeichnung sind bei der Europäischen Union registriert, und man darf sie getrost als Nischenprodukte bezeichnen. Der Odenwälder Frühstückskäse etwa schaffte es gar nicht erst nach Bra, weil es nur einen einzigen Erzeuger gibt, und der kämpft gerade mit einem Schimmelproblem. Zwei andere immerhin vertreten den deutschen Käse mit eigenen Ständen. Einer davon gehört Ernst und Martina Metzger-Petersen, deren Betrieb im nordfriesischen Oster-Ohrstedt als 'einer der bekanntesten Käseerzeuger aus dem Norden Deutschlands' vorgestellt wird."

Weitere Artikel: Konstanze Crüwell bespricht Ausstellungen griechischer Kunst im Beiprogramm der Buchmesse. Dietmar Dath setzt sich mit Botho Strauß' Äußerungen über den amerikanischen Gegenschlag auseinander. Reiner Scharf stellt die drei Physik-Nobelpreisträger Eric A. Cornell, Wolfgang Ketterle und Carl E. Wieman vor. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler Gerd Voss zum Sechzigsten. Joseph Hanimann stellt das "erfrischendste, heiterste und lustigste Buch der Saison" in Frankreich vor, "La Reprise", ein spätes Meisterwerk des Nouveau Roman von Alain Robbe-Grillet (der übrigens im Nachkriegs-Berlin spielt). Jordan Mejias berichtet von New Yorker Konzerten der Berliner Philharmoniker, die ihre Solidarität erklärten: "Wie sind alle New Yorker." Matthias Ehlert schreibt zum Tod des Berliner Schauspielers Dietrich Körner. Auf der Medienseite finden wir ein Inteview mit dem 72 Jahre alten Regisseur und Schauspieler Achim Hübner, der sich seinen alte DDR-Fernsehfilme aus der Serie "Ich - Axel Cäsar Springer" noch mal ansah. Zhou Derong feiert Chinas Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft.

Ferner beruhigt uns Wolfgang Beyer vom Institut für Umwelt und Tierhygiene der Universität Stuttgart-Hohenheim im Interview mit Jörg Albrecht: "Bacillus anthracis ist ein Krankheitserreger und keine Biowaffe. Zu einer Biowaffe gehört sehr viel mehr, und ein besonders schwieriger Schritt ist der letzte, nämlich das Ausbringen." Jürgen Richter berichtet über den Stand der Sanierungsarbeitetn bei den Schwibbogenhäuser im hessischen Butzbach. Johann Schloemann stellt ein Forschungsprojekt "Berliner Klassik" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor. Christian Geyer nennt Bernd Stieglers Sachbuchprogramm bei Suhrkamp "eines der eindrucksvollsten der Buchmesse". Mark Siemons hat den Resten der Berliner Friedensbewegung beim Demonstrieren gegen den Krieg zugesehen. Gerald Siegmund bespricht Eröffnungsveranstaltungen am Wiener "Tanzquartier".

Weitere Besprechungen gelten einer Zürcher Ausstellung mit Manuskripten aus Robert Walsers "Bleistiftgebiet" und dem vierten Open-Strings-Festival in Osnabrück.

TAZ, 10.10.2001

Es hat seine Zeit gebraucht, aber dafür ist es originell ? das Plädoyer für die Analyse des Anderen von Julia Kristeva, das uns die taz kredenzt. "Dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Religion und ihrem Fundamentalismus," schreibt Kristeva, "sollte uns nicht davon abhalten, in aller Gelassenheit und ohne uns zu ereifern die Querverbindungen zwischen beiden zu untersuchen. Denn in Gedanken an ein paar Zeilen einer dieser Lehren lässt ein Terrorist ein Flugzeug explodieren, nicht in Gedanken an eine Sonate von Mozart, einen Vers von Shakespeare oder ein Gemälde von Picasso!" Und optimistisch ist die Kristeva auch: "Das Jahrhundert der Aufklärung hat durchaus seine Fortsetzung in den modernen Geisteswissenschaften gefunden, die uns dem Fanatismus gegenüber nicht so hilflos dastehen lassen, wie manche meinen. Stellen wir nicht voreilig das Licht jener Aufklärung unter den Scheffel von Toleranz und Multikulturalismus." Let's analyse!

Ferner: Gerrit Bartels prophezeit eine ziemlich politische Frankfurter Buchmesse und macht sich Sorgen um den Schwerpunkt Griechenland. Und die Literataz bringt Buchmessenbesprechungen, hergestellt u.a. von Georg M. Oswald, Claus Leggewie und Klaus Theweleit (und bald schon in unserer großangelegten Auswertung der Literaturbeilagen).

Jetzt der Tom.

SZ, 10.10.2001

Wie weit geht es bei der gegenwärtigen militärischen Zuspitzung tatsächlich um Gefahrenabwehr? fragt Gerd Krumeich und kommt zu dem Schluss, dass nach dem besonnenen Auftakt im Krisenmanagement der Amerikaner dann doch wieder die "faule Regierungsweisheit" obsiegt hat, dass Worten Taten folgen müssten: "Eine kluge und realistische Selbstverteidigungs-Strategie hätte darin bestanden, das Entsetzen über die Anschläge des 11. September wachzuhalten und gegebenenfalls mit ökonomischen und politischen Druck sanft nachzuhelfen. Die Torheit alter Machtpolitik hat stattdessen dazu geführt, dass sich die Weltfront gegen den Terrorismus, die auf diese Weise (und in der Tat mit viel Geduld) hätte gebildet und stabilisiert werden müssen, schon jetzt wieder aufzulösen beginnt."

Mögliche Gründe für die kurzlebige Weltfront zeigt der Völkerrechtler Michael Bothe auf, der die im Sinne des humanitären Völkerrechts normativen Grenzen der Angriffe gegen die Taliban herausarbeitet. Zu beachten wäre demnach, "dass nicht jeder Vorteil, der aus der Zerstörung entstehen könnte, diese Zerstörung rechtfertigt, sondern nur der 'eindeutige militärische Vorteil'. Die zweite wesentliche Grundregel ist das Verbot eines unverhältnismäßigen, eines 'übermäßigen' zivilen Kollateralschadens."

Andere Gedanken macht sich Thomas Steinfeld. Er überlegt, ob sich die Buchmesse in Zeiten des Krieges wird behaupten können und ob der Besucher unterscheiden können wird zwischen Werken, "in denen ein Vorgefühl des Ernstfalls zu spüren ist" und solchen, "die sich nun von außen ein wenig tragisches Gewicht ausleihen möchten ...um sich die handgenähten Sohlen mit Blei beschweren zu lassen." Wen er da wohl im Sinn hat? Steinfeld hat denn auch den Aufmacher der heute beigelegten Literaturbeilage nicht Christian Krachts 1979, sondern Denis Johnsons Roman "Engel" gewidmet: "Auch dieser Roman ist ein Abwehrzauber, aber ein Abwehrzauber Amerikas gegen sich selbst.")

Weiteres: Susan Vahabzadeh denkt (einmal mehr) nach über Hollywood und den Terror, Harry Lachner über Laurie Anderson auf Deutschland-Tournee, Gottfried Knapp freut sich mit Zubin Mehta und der Bayerischen Staatsoper über deren Triumphe in Tokio und Yokohama, Jonathan Fischer schreibt über Soul-Queens und den Sündenfall des Rhythm'n'Blues, Glückwünsche schließlich gehen an den Schauspieler Gert Voss zum 60.

Besprochen wird so einiges: Verdis "Otello" in Gent, die japanische Tanztruppe "Ishinha" auf Kampnagel, eine Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld über Weiblichkeit im Surrealismus, eine Foucault-Konferenz der Historiker in Hamburg, Hollywoods Version von Dürrenmatts "Versprechen", eine CD mit auf Reggae getunten nordamerikanischen Soul-Klassikern. Ferner Peter Handkes Übertragung des Briefwechsels zwischen dem syrischen Dichter Adonis und dem griechischen Historiker Dimitri T. Analis, ein Sammelband über Psychologie in der Bundeswehr und Noam Chomskys "War Against People" ? ein hochaktuelles Buch über Menschenrechte und Schurkenstaaten (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 10.10.2001

Franz Haas setzt sich mit der italienischen Debatte um den 11. September und vor allem mit einem äußerst umstrittenen Artikel Oriana Fallacis im Corriere della Sera auseinander. "Der Großteil der überlangen Schmähschrift, die demnächst als Buch bei Rizzoli erscheinen wird, ist eine vulgäre Attacke gegen die in Italien lebenden Ausländer, vor allem die aus islamischen Ländern. Im Stil unterscheidet sie sich kaum vom primitiven Ausländer-raus-Gegröle der Rechtsradikalen." Auf der Website des Corriere gibt es ein riesiges Forum zum Thema.

Und Maja Turowsjkaja schildert Reaktion aus der Sowjet..., äh, aus Russland: "Vom Mitgefühl für die 'einfachen Menschen in Amerika' (übrigens ein sowjetisches Klischee) sprechen fast alle. Dennoch neigen viele der Ansicht zu, es geschehe Amerika recht, bzw. es sei selber schuld. Die emotionalen Reflexe aus dem Kalten Krieg sind noch weitgehend intakt; zumal man mit einem reichen Nachbarn ja nie recht mitleidet ('Dem Nachbarn ist die Kuh krepiert; eine Kleinigkeit, ja, und trotzdem angenehm')."

Joachim Güntner schickt erste Eindrücke von der Buchmesse: "Kompakter ist die Frankfurter Buchmesse durch den Umbau geworden, schöner nicht unbedingt. Aber was zählt architektonische Ästhetik - die Geschmäcker sind ohnehin verschieden - gegenüber dem unbestreitbaren Plus an Fußfreundlichkeit. Die alte Halle 3 hat man abgebrochen und durch einen großen Glasbau ersetzt. Zusammen mit dem neu hinzugekommenen Forum gruppiert sich jetzt fast alles um den Innenhof der Messe, was die Wege verkürzt." Klingt doch ganz angenehm!

Weiteres: Samuel Herzog schreibt zum 100. Geburtstag Alberto Giacomettis. Marc D. Herzka stellt das Bauhaus-Zentrum in Tel Aviv vor. Besprechungen widmen sich einem Auftritt des japanischen Theaterkollektivs Ishinha in Hamburg, einer Ausstellung über Daniele Marques in der Architekturgalerie Luzern, dem 17. Deutschen Romanistentag in München, Tschaikowskys "Eugen Onegin" in Graz und Gustav Seibts Buch "Rom oder Tod - Der Kampf um die italienische Hauptstadt" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 10.10.2001

Der 11. September rückt unaufhaltsam in die Ferne. Denn erstens ist Buchmesse und zweitens gibt es immer auch andere wichtige Fragen, z. B.: War Hitler schwul? Ina Hartwig überlegt, was den Reiz einer solchen These ausmacht, wie sie der Historiker Lothar Machtan in seinem soeben erschienenen Buch "Hitlers Geheimnis" aufstellt: Obwohl sich jeder gewissenhaft Argumentierende auf glattes Eis begibt, weil "die insinuierte latente Homosexualität (...) notgedrungen mit der manifesten kriminellen Perversion des Menschenvernichters Hitler" konkurriert, so Hartwig, scheint es reizvoll zu sein, "ein Monster mit sexuellen Fantasien lächerlich zu machen." Hans Mommsen dagegen, der zum Thema befragt wurde, ist der Meinung, dass "es bei ihm (Hitler) gar keine wirklich private Zone gibt." Hitler wäre demnach so gut wie geschlechtslos gewesen und die Frage nach der Relevanz der Sexualität auf sein Handeln somit erledigt.

Fleißige Ina Hartwig: Auch der Leitartikel zur Buchmesse stammt von ihr. Glauben wir ihr, so hat die Globalisation beim Buch längst begonnen: "Die Literatur ist dabei, ihre Deutungshoheit zu verlieren, vor allem die Nationalliteratur - wie sie eben in der Idee des Länderschwerpunktes und Gastlandes verkörpert war. Schon seit längerem ist zu beobachten, dass die Belletristik durch das intellektuelle und populäre Sachbuch eine ernst zu nehmende Konkurrenz bekommen hat. Die Fragen der Zukunft - internationaler Terrorismus, Biotechnologie, die Gefährdung der Idee der Gleichheit werden als Stichworte genannt - müssen diskutiert werden, je hochkarätiger und internationaler, desto besser." Aufmacher der heute beigelegten Literaturbeilage der FR ist ein Essay von Martin Mosebach über die farbige Antike der Griechen.

Weitere Artikel: Natan Sznaider schreibt über ein frustriertes Israel, das weiterhin mit dem "kleinen" Terror leben muss, während alle Welt den großen bekämpft. Harry Nutt warnt davor, den Eventcharakter der Frankfurter Buchmesse zugunsten einer neuen Ernsthaftigkeit zu reduzieren. Marius Meller beschwört noch rasch einen "starken" Bücherherbst. Es gibt eine Kritik zu Michael Hanekes Film "Die Klavierspielerin". Und Alberto Giacometti wäre 100 geworden.