Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2001. Besinnliche Überlegungen nach den Terrorattentaten: In der Süddeutschen Zeitung erklärt Jens Bisky seine Angst vor der Todessehnsucht der Islamisten. Die Frankfurter Rundschau stellt fest, dass die Zerstörung von Städten in einer religiösen Tradition steht.

NZZ, 26.09.2001

Was denken die arabischen Intellektuellen über den "Krieg gegen den Terrorismus"? Der libanesische Dichter Wadih Saadah hat für die NZZ Stellungnahmen gesammelt und die Meinungen zusammengefasst: "Sie sehen die gezielte Aktion gegen Usama bin Ladin und den globalen Terrorismus lediglich als Vorwand zur Festigung der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung der USA. Wie ein nicht unbeträchtlicher Teil der Zivilbevölkerung islamischer Länder halten sie es für praktisch unmöglich, dass eine ausländische Terrororganisation in der Lage gewesen wäre, Amerika an derart vitalen Punkten zu treffen. Eine Unterwanderung des amerikanischen Geheimdienstes, des Pentagons und der Flughafenbehörden wäre ihrer Ansicht nach unabdingbar gewesen, um die Anschläge zu realisieren; die Drahtzieher müssten demzufolge innerhalb Amerikas über ein beträchtliches Mass an Einfluss und Verbindungen verfügt haben. Auch die Tatsache, dass noch vor irgendwelchen Abklärungen eine islamistische Organisation hinter den Attacken vermutet wurde, traf auf arabischer Seite eine empfindliche Stelle."

Der amerikanische Journalist James Traub stellt fest, dass die New Yorker seit der Katastrophe anders miteinander umgehen und fragt sich: "Wie lange kann diese seltsame Stimmung von Traurigkeit, Wut, Höflichkeit und erhabenem Ernst anhalten? Kein echter New Yorker erwartet, dass unsere neue soziale Zartheit in dem frenetischen und von brutalem Konkurrenzdenken geprägten Umfeld überleben wird, zu dem wir alle zurückzukehren hoffen."

Weitere Artikel: Paul Jandl schreibt über die Eröffnung des Leopold-Museums und des Museums moderner Kunst im Wiener Museumsquartier. Besprochen werden eine Ausstellung mit dem Pisaner Altarwerk in der National Gallery in London, die Uraufführung des Forsythe-Balletts "Woolf Phrase" in Frankfurt, eine Ausstellung der Sammlung Jean Planque im Kunstmuseum Winterthur und Bücher, darunter Walter Rauschers Doppelbiografie über Hitler und Mussolini (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 26.09.2001

Christian Broecking ist für die Jazzkolumne extra nach Marbach/ Neckar gefahren, wo er alte Nummern des "Merkur" und den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno, Hans Paeschke und Joachim Ernst Berendt ausgegraben hat, um uns Adorno als Apologet des autonomen Kunstwerks und der Avantgarde gegenüber dem Jazz zu präsentieren: "Der Jazz ist schlecht, konterte Adorno dort (im Merkur) das von Berendt favorisierte Protestimage des Jazz, weil der Jazz die amerikanischen Schwarzen in die Schranken kollektiver Identität verweise ... Jazz könne vielleicht gerade noch der Sehnsucht der Fans nach etwas anderem genügen, die Schwarzen jedoch nur beleidigen, da er sie zur ständigen Erinnerung ihres Sklavendaseins zwinge ... und vom musikalischen Material her gäbe es am Jazz eh ganz und gar nichts Modernes zu dechiffrieren." Ts, ts. Und der Groove, Theodor?

Ferner im Blatt: Thomas Girst sorgt sich um die New Yorker Kunstszene, die eine Phase der Neuorientierung durchmacht, Cristina Nord berichtet vom schwullesbischen Filmfestival Lissabon, Tobias Rapp hat R. Kelly in Berlin erlebt ("kreisch, seufz"). Und Kathrin Röggla erzählt in bewährter radikaler Kleinschreibung von der Gedenkfeier im New Yorker Yankee-Stadion, wo Domingo, die Clintons und alle, die sonst noch da waren (viele waren's ja nicht), sich möglichst normal gaben, denn "normalität wollen wir doch wieder erleben".

Und Tom.

FAZ, 26.09.2001

Christian Schwägerl entwickelt die heutzutage auch nicht mehr unrealistische Vision einer Terroraktion mit todbringenden Bakterien. Man mietet ein Flugzeug, das sonst Insektizide versprüht, bläst die Bakterien über eine Großstadt in die Luft: Eine Million Tote. Die Erzeugung solcher Bakterien ist allerdings schwierig, weiß Schwägerl. Aber er weiß auch: "In der Natur des metzelnden Hollywoodfilms wie des metzelnden Selbstmordattentäters liegt die kompetitive Steigerung."

Gerade Hollywood kann damit nicht mehr umgehen, berichtet Verena Lueken: "'Produktionskoma' nennt das Branchenmagazin Variety die Stimmung auf den Studiogeländen in Hollywood und fügt hinzu, diese Starre sei die tiefste, an die sich die Studioverantwortlichen erinnern könnten."

Die Medienseite bringt einen Artikel von Chris Cramer, Präsident von CNN-International, der die im Internet verbreitete Behauptung, die Bilder der feiernden Palästinenser seien zehn Jahre alt, als Cybertorrismus ansieht, der inzwischen zum Alltag gehöre. "Und auch vor solchen Angriffen aus dem Cyberspace können wir uns nur schwer schützen." Michael Hanfeld erzählt an gleicher Stelle, dass nun (zum Beispiel bei "Panorama") die Theorie verbreitet wird, diese Bilder seien inszeniert.

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko porträtiert Minoru Yamasaki, den 1986 verstorbenen Architekten des World Trade Centers. Horst Rademacher erklärt, dass man die Wucht der Attentate mit Seismographen messen konnte. Von Dirk Schümer erfahren wir, dass die Sekte der Assassinen bereits im 11. Jahrhundert Selbstmordattentate verübte. Zhou Derong resümiert Reaktionen chinesischer Intellektueller. Anne Zielke sieht mit dem World Trade Center unsere Denkmodelle zerbrechen.

Kultur: Eleonore Büning ist nach Paris gereist, um Bob Wilsons "Winterreise"-Spektakel mit Jessye Norman zu sehen. Michael Gassmann betrachtet die teilweise kuriose, heute nutzlos gewordene Architektur der Botschaftsbauten in Bonn, die er dem Denkmalschutz anempfiehlt. Siegfried Tielbeer schreibt zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Halberstadt. Michael Adrian resümiert eine Tagung über Religion und Politk im Westen und der islamischen Welt.. Gerd Reollecke setzt seine Serie über die Urteile des Bundesverfassungsgerichts fort. Auf der Stilseite stellt Johan Schloemann ein Streichholzmuseum im schwedischen Jönköping vor.

Besprochen werden ein "Kaufmann von Venedig" in der Comedie francaise, eine Retrospektive von Christo und Jeanne-Claude in Berlin, Alfred-Brendel-Konzerte in Frankfurt, ein "Don Giovanni" als Commedia dell'Arte in Vicenza, eine Ausstellung über Thomas Bernhard in München und ein Tanzabend mit Merce Cunningham in Berlin.

SZ, 26.09.2001

Jens Bisky erklärt, warum Hans-Georg Gadamer Angst vor dem Islam hat: "In der fremden Kultur des Islam werde die Grundlage, der Tod, anders interpretiert, sagt Gadamer und berührt damit einen für sein Denken entscheidenden Punkt: Die Arbeit am eigenen Tod dürfen wir nicht mehr leisten. Uns hat Christus den Tod abgenommen. Angesichts islamistischer Attentäter, die, wie verzerrt auch immer, die Arbeit am eigenen guten Tod reklamieren, sagt Gadamer: 'Mir wird ganz schauerlich.'"

Patrick Krause schwärmt vom Leben in einem Kölner Bauhaus-Haus: "Ich wohne 'Im Park'. So schlicht und puristisch wie die Adresse gibt sich auch das Gebäude. Das ist natürlich topschick, und gerne lade ich alte Werberkollegen aus den achtziger Jahren, die es längst zu etwas gebracht haben, zum Brunch oder anderen komischen Dingen ein, um zu beobachten, wie sie blass um die Nase werden, selbst wenn sie längst über Lofts in New York oder Büroräume in Gehry-Gebäuden verfügen." Soo topschick scheint es dann aber doch nicht zu sein, Krause spricht von der "rigiden Geometrie" seines "Zuckerwürfels", von fotografierenden Touristenkolonnen. Und ausgehen will er jetzt auch nicht mehr.

Weiteres: Lothar Müller über das neu eröffnete Berend-Lehmann-Museum in Halberstadt, Johan Sjerpstra berichtet von Pleiten, Pech und Pannen bei der Einführung neuer Internet-Adressen, Gottfried Knapp erzählt, wie in München die Akademie der Schönen Künste schikaniert wird, Reinhard J. Brembeck porträtiert den Naxos-Chef Klaus Heymann. Und erstaunt lesen wir, dass George W. Bush kürzlich "in Begleitung eines Buches" gesehen ward.

Besprochen werden: Schuberts "Winterreise" in Paris, neu erfunden von Jessye Norman, Bob Wilson, Yves Saint-Laurent. Dostojewskis "Schuld und Sühne" am Neumarkt Theater Zürich, "Bier für Frauen" von Felicia Zeller im Mainzer Theater. Jede Menge U-Musik, von Harnoncourts "Aïda" über Bachs "Chaconne", verrätselt, bis Gerard Griseys "Quatre chants pour franchir le seuil". Und Bücher: Roland Jacquards Biografie Osama bin Ladens (bislang nur auf Französisch erhältlich), Stephen Hawkings "Das Universum in der Nußschale" und "Das 20. Jahrhundert-Projekt" von Ingeborg Breuer (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 26.09.2001

Sodom und Gomorrha, Babylon, New York: Christian Thomas stellt fest, dass die Zerstörung von Städten durchaus so etwas wie eine religiöse Tradition darstellt, insofern als dem Reich der Götter mit der Stadt eine unberechenbare Konkurrenz erwuchs: "Die Stadt, das größte Gesamtkunstwerk, das die Menschheit fertiggebracht hat, stellt für jedweden Fundamentalismus eine Provokation dar ... Der Terroranschlag galt nicht nur dem 'frevelnden', dem 'ungläubigen' Manhattan, sondern er war eine Tat, um die Zumutung des unpassenden Bildes zum Einsturz zu bringen. Da sich die Komplexität Babylons nicht denken lässt, bedarf es seiner Zerstörung, der Vernichtung seines Eigensinns." Ikonoklasmus im 21. Jahrhundert.

Moshe Zimmermann, Professor für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, kann den Ereignissen vom 11. September offenbar etwas Positives abgewinnen. Im Kriegszustand, schreibt er, befindet sich der Westen schon lange (da ist er wieder, der "Krieg der Kulturen"), seit 14 Tagen weiß er es auch: "Es gibt klare Lager, und es gibt Krieg." Für Zimmermann gibt es eigentlich bloß ein Problem: "Als Teil der sich freiheitlich nennenden Welt muss man darüber nachdenken, welchen Charakter dieser Krieg erhalten darf und ob bei der Wahl der Feinde wirklich präzise genug vorgegangen wird." Soviel zur Klarheit.

Zum selben Themenkomplex ferner: Ursula März spricht über Bewältigungsstrategien zwischen Ratio und Ritual und Ulrich Speck wirft Stöcke in eine Deutungsmaschinerie, die seit zwei Wochen auf Hochtouren läuft, ohne wirklich voranzukommen.

Kritisch gesehn werden: Lars von Triers "Dancer in the Dark" und Jon Fosses "Da kommt noch wer" zum Saisonstart im Düsseldorfer Schauspiel, Nick Hamms Teenie-Thriller "The Hole" und die Edith-Wharton-Verfilmung "The House of Mirth" von Terence Davies sowie eine Tagung über Religion und Politik in Hannover.