Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2001.

TAZ, 16.05.2001

Das Getümmel um Godards Film "Eloge de l'amour" in Cannes schildert Katja Nicodemus: Nur 200 von 600 Journalisten durften ihn sehen, er wurde aus reinem Sadismus in einem zu kleinen Saal gezeigt. "Dabei ist 'Eloge de l'amour' der schönste und selbstironischste Godard-Film seit langem. Eine musikalischer Diskurs über Politik und Widerstand, über das Kino und die Voraussetzungen des Filmemachens. Wieder gibt es keine Figuren, sondern Menschen, an die sich bestimmte Fragen und Literaturzitate anlagern. Unter anderem ein Mann, auf der Suche nach einem 'Projekt', das mal eine Kantate für Simone Weil ist, mal ein Film, mal ein Roman, mal ein Theaterstück. Bei Godard ist der Ton so klar, dass man beim Klavier den Anschlag hört, und das Schwarzweiß der ersten Hälfte war wie eine Erholung nach den 'atemberaubend beschissenen Bildern' (ein Kollege) von Sean Penns Thriller 'The Pledge', der kurz davor zu sehen war." (Da wollen wir aber doch noch Wilfried Wiegand Artikel über Penn in der FAZ zitieren: "Penns Film ist dicht wie eine Partitur, ein glänzend beobachtetes Detail reiht sich an das nächste, unentwegt fallen ihm originelle Kameraperspektiven, Überblendungen und Schnitte ein." Ja, was denn nun?)

Weitere Artikel: Dokumentiert wird ein Kapitel aus Andreas Dörners Buch "Politainment - Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft", das in diesen Tagen bei Suhrkamp erscheint. Brigitte Werneburg meldet: "Die geisteswissenschaftlichen Auslandsinstitute kommen in dieser Legislaturperiode unter das Dach einer öffentlich-rechtlichen Stiftung." Kolja Mensing bespricht neue Bücher, darunter Nika Bertrams "Kahuna Modus". Und Maxi Sickert gratuliert Klaus Doldinger zum 65.
Zum Abschluss Tom.

FAZ, 16.05.2001

(Wir wissen nicht, ob der folgende Link funktioniert. Heute morgen stand er unter der richtigen Überschrift, förderte aber einen alten Artikel von Mark Siemons zu Tage - eine seltene Gelegenheit, denn an sich ist das FAZ-Archiv kostenpflichtig. Also:)

Im Interview mit Jordan Mejias erklärt sich der Technologiekritiker und Politikberater Jeremy Rifkin gegen eine Patentierbarkeit von Genen, denn "das hieße, dass jeder, der das Patent auf ein Gen erhält, nur weil er seinen Nutzen beschrieben hat, Geld von allen Firmen verlangen könnte, die das Gen zu Forschungszwecken verwenden, wie auch vom Entdecker der Proteine, die das Gen kodiert. Einige wenige würden also den gesamten Prozess kontrollieren." Mit der Folge, so Rifkin, dass der Test eines nicht patentiertes Gen "fünfzig Dollar kosten (mag), ein Test für ein patentiertes Gen dagegen zweieinhalbtausend." Dokumentiert wird hier auch ein "Vertrag über das gemeinsame genetische Erbe der Erde".

Ebenfalls Jordan Mejias denkt über Gore Vidal und Timothy McVeigh nach, der Vidal bekanntlich zu seiner jetzt verschobenen Hinrichtung einlud. Die Kritik der Öffentlichkeit an Vidals Kontakt zu McVeigh mag Mejias nicht nachvollziehen. "Was einen Essayisten, Romancier und chronischen Provokateur an einem dem Tod geweihten Verbrecher fasziniert, sollte eigentlich niemanden überraschen, zumal keinen Bürger des Landes, das dem Outlaw in allen nur denkbaren Varianten einen Ehrenplatz in seiner Mythologie zuweist und es dabei auch an literarischen Denkmälern nicht fehlen lässt. Vidal, der angekündigt hat, gleich nach geglückter Gifttransfusion einige Hochglanzseiten von Vanity Fair vollzuschreiben, bewegt sich da auf Pfaden, die ihm weitaus ambitionierter schon Truman Capote und Norman Mailer gewiesen haben." Wir haben dem Thema neulich einen Link des Tages gewidmet.

Weitere Artikel: Michael Hanfeld berichtet, dass der RTL-Film "Die Todesstrafe" über einen Deutschen im amerikanischen Gefängnis nun doch heute abend läuft – ein öffentlich-rechtlicher Journalist, der über ein ähnliches Thema recherchierte, hat von der Klage gegen den Film aus finanziellen Gründen abgesehen. Dokumentiert wird ein Kapitel aus einem Roman des kürzlich gestorbenen Dirigenten Giuseppe Sinopoli über sein Verhältnis zu Wagners "Parsifal" (der Roman erscheint im Juni bei Claassen). Wilfried Wiegand berichtet aus Cannes unter anderem über den neuen Film von Sean Penn, der auf Dürrenmatts Roman "Das Versprechen" beruht. Alexandra Kemmerer hat einer Tutzinger Tagung über Stiftungen in der Bürgergesellschaft zugehört. Und auf der Stilseite meditiert Walter Seitter über Verpackung aus medientheoretischer Sicht. Ferner schreibt Dieter Bartetzko zum achtzigsten Geburtstag von Winnie Markus, Eduard Beaucamp gedenkt des DDR-Realisten Wolfgang Peuker und Christopher Schmidt berichtet über Theaterstücke, die in Ingolstadt zum Angedenken an Marieluise Fleißer in Auftrag gegeben wurden.

Besprochen werden eine Koltes-Inszenierung in Stuttgart, Schulbauten des Architekten Michael Körner in Gunzenhausen, eine Ausstellung des Elfenbeinschatzes der Schweriner Museen, Reinhard Febels Musik-Installation "Besuchszeit" in der Bundeskunsthalle Bonn und die China-Oper "Mudan Ting" bei den Wiener Festwochen.

SZ, 16.05.2001

Harald Staun prophezeit, dass der Büroschluss demnächst wegglobalisiert wird. "Darum werden die Computer der Zukunft zwar Tausende von neuen Funktionen besitzen, aber eine wird ihnen fehlen: der Ausschalter." Dies, so Staun, wird das Verhältnis von Mensch und Maschine irgendwann umkehren: "Wie die Betriebssysteme der nächsten Jahre, so wird auch der Mensch in Zukunft ständig aktualisiert werden können, ohne dass er es überhaupt merkt."

In einem zweiten Artikel zum Thema Internet beschreibt Konrad Lischka die Internetadresse der US-Firma Futurefeedforward, die die Menschheit regelmäßig mit Nachrichten aus der Zukunft versorgt. Da geht es beispielsweise um einen Mikrowellenstrahl, der Urheberrechte schützen soll: "'Seitdem unser Schutzsystem existiert kann man zwar immer noch Mickey-Mäuse kaufen, für die keine Lizenzgebühren gezahlt wurden ? aber sobald man mit ihnen nach draußen geht, macht es thhhhhht, und sie sind verschwunden.'"

Wolf Lepenies schreibt über zwei Helden und ihre Kriegsverbrechen: Senator Kerrey, der in Vietnam ein Massaker an Frauen und Kindern befehligt hat und General Aussaresses, der kürzlich ganz zwanglos über seine Foltermethoden in Algerien plauderte. In beiden Ländern "lehnen Politiker eine neue 'Aufarbeitung' der Geschichte ab." In beiden Ländern wird aber auch "die Justiz wohl weitgehend machtlos bleiben. Sollte sich Kerreys Version des Massakers von Thranh Phong ? trotz gegenteiliger Aussage eines Mitglieds seiner Einheit ? bewahrheiten, wird man ihn schwerlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen können. Ähnlich liegen die Dinge in Frankreich." Es gibt übrigens noch eine Verbindung zwischen den beiden Fällen: "In Fort Bragg in North Carolina wurden von 1960 bis 1963 die 'Special Forces' vor ihrem Einsatz in Vietnam von einem französischen Offizier instruiert, der wenige Jahre zuvor im Kampf gegen die algerischen Aufständischen eine 'Spezialeinheit' befehligt hatte. Es war Paul-Louis Aussaresses."

Weitere Artikel: Katajun Amirpur berichtet, dass die iranische Justiz in den vergangenen Tagen vierhundert Internet-Cafes geschlossen hat. Arnd Wesemann beschreibt die Tanz-Szene in Berlin. Wolfgang Schreiber war bei der Trauerfeier für Giuseppe Sinopoli in der Dresdner Semper-Oper. Und ein Autor mit dem Kürzel "wink" beschreibt, wie die Besucher der Vermeer-Ausstellung in New York im Metropolitan Museum gefangen gehalten wurden. Grund war ein Stau: "Statt im Frühling zu perambulieren, sich den ersten Sonnenbrand zu holen oder wenigstens gediegen Kaffee an einem See zu trinken, stellen sich die New Yorker zwei Stunden lang an und warten kunstsehnsüchtig darauf, ein rosafarbenes Cocktailkleid oder einen Pelzmantel aus somalischem Leopard betrachten zu dürfen. Kennedy! Jackie! Durch mehrere Galerien, über den Balkon und bis hinunter zum Eingang staut sich eine vierreihige Besucherschlange. Es muss wohl Kunst sein."

Besprochen werden die Marino-Marini-Aussstellung "Die Spur der Farbe" in der Neuen Pinakothek in München, Shakespeares "Kaufmann von Venedig" und Goldonis "Diener zweier Herren" bei den Ruhrfestspielen, Wolf Gaudlitz' Film "Palermo flüstert", Markus Bundis Roman in Kurzschrift "AusZeiten" und Moses Rosenkranz' Kindheitserinnerungen (siehe auch unsere Bücherschau des Tages). Tobias Kniebe hat in Cannes erste Ausschnitte aus dem "Herrn der Ringe" gesehen und versichert: "ja, die Sagenwelt von J.R.R. Tolkien war wunderbar präsent in ein paar kurzen Ausschnitten. Und ja, die ersten Fanberichte im Internet sind wahr: Das alles sieht wirklich atemberaubend aus; und wenn auch der Rest so wird wie die so genannte 'Mines of Moria'- Fluchtsequenz, die in voller Länge gezeigt wurde, dann kann George Lucas endgültig in Rente gehen."

FR, 16.05.2001

Georg Klein, Schriftsteller, schließt die "Heimatkunde"-Serie der FR ab. Es geht um Heimat in der Fremde. Er hat in Fuerteventura ein schwäbisches Ehepaar (Vertriebene aus Ostpreußen eigentlich) kennengelernt, das sich nun ganz auf den Kanaren niedergelassen hat, dort aber einem deutschen Singkreis angehört: "Wir Kurzzeiturlauber waren uns nicht ganz sicher, wieso diese beiden schwäbischen Ostpreußen, warum diese deutschen Zahnärzte im Exil so beklemmend rührend auf uns wirkten. Meine Frau meinte, es seien die goldfarbenen Trainingsanzüge mit dem Zeichen eines amerikanischen Sportartikelherstellers gewesen, in denen die beiden über den abendlichen Strand joggten."

Eine Glosse über den annoncierten Bestseller der Saison, Dietrich Schwanitz' Buch "Männer" legt Hilal Sezgin vor: "Sein Gedanke folgt dem Gesetz der Einzahl. Seine singuläre Dummheit ist die der Wiederholung, der Häufung all dessen, was wir schon wissen - und von dem wir auch schon wissen, dass es falsch ist. Frauen sind anmutig. Männer sind grob. Frauen jagen nach der Liebe, Männer jagen nach - na, raten Sie mal! Schon Grönemeyers Männer-Lied kann man kaum mehr ohne Ermüdung hören; doch Schwanitz singt dies Lied ohne Melodie und Ironie und ohne Pointe. Jeder seiner Witze stirbt den kleinen Tod a la praecox: nach kurzem, fieberhaften Anlauf zu schnell gekommen." Was Frauen natürlich nie passieren könnte.

Und noch eine Glosse, diesmal über die deutsche Frau: Petra Kohse denkt nach über die Frage, was sie nur mit den dreißig Mark mehr Kindergeld machen soll, die sie kriegen soll, und kommt auf Barabara Vinkens Buch "Die deutsche Mutter" zu sprechen, denn "in diesem Buch die eigene Geworfenheit in objektivierender Weise beschrieben zu sehen, tut gut". Die Lektüre lohnt nach Kohse doppelt: "Zum einen macht die Hamburger Romanistikprofessorin darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang von Mutterschaft und sozial-ökonomischer Deklassierung ein struktureller ist und als deutscher Sonderweg kulturgeschichtliche Gründe hat. Zum anderen lässt sie trotz aller Angriffe auf die patriarchalische Familienpolitik unserer Gesellschaft keinen Zweifel daran, dass es letztlich die Frauen selbst sind, die diesen Verhältnisse zustimmen."

Weitere Artikel: Peter Körte erzählt, wie sich die Berlinale auf dem Festival von Cannes vorstellte (fernab vom Getriebe, man musste erst den Vorortzug nehmen). Christian Schlüter hat eine Berliner Veranstaltung über Philosophie in der Stadt besucht. Besprochen werden der Film "Die Einsamkeit der Krokodile", Jürgen Goschs "Hamlet"-Inszenierung in Düsseldorf, die neue CD von Depeche Mode, eine von Andreas Meck erstellte Aussegnungshalle in München-Riem und eine Retrospektive von Marcel Broodthaers Brüsseler Palais des Beaux-Arts.

NZZ, 16.05.2001

Christoph Egger berichtet aus Cannes über den einzigen Schweizer Beitrag im Wettbewerb, Godards "Eloge de l'amour": "In erster Näherung lässt sich zu diesem vielschichtigen, nicht leicht zugänglichen Werk sagen, dass es zweifellos der schönste Film des diesjährigen Programms ist: von jener dunklen, geheimnisvollen Schönheit, die die Dinge von innen heraus zum Leuchten bringt, in gesättigtem Schwarzweiß die Szenen, die wir nachträglich als die 'Gegenwart' erkennen, in Farben wie von geschmolzener Lava das, was als erst gefrorene Einstellung unvermittelt zu 'leben' beginnt und sich als die Vergangenheit, der Ort der Erinnerung, des Gedächtnisses, der Archive, mithin der Geschichte konkretisiert. Um diese Bilder legen sich die Klänge von Ketil Björnstads und David Darlings 'Epigraphs', und wie eine Offenbarung fährt Karl Amadeus Hartmanns 'Funebres' in sie hinein. 'Die Dinge sind da', heißt es einmal, 'weshalb sie erfinden?'"

Oliver Herwig hat auf einem Kolloquium über die Ethik des Cyberzeitalters in Rotis dem berühmten Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum zugehört: ". Als 'Computermensch', wie er sich selbst bezeichnet, beurteilt Weizenbaum die Zukunft skeptisch: Das Internet sei die größte 'Zerstörung der Geschichte'. Was dort nicht vorhanden sei, habe keine Chance auf Bestand. Eine weitere Prognose ließ aufhorchen: 'In den nächsten fünf Jahren wird der Computer aus unserem Bewusstsein verschwinden', erklärte Weizenbaum, der seit einem halben Jahrhundert mit Rechenmaschinen arbeitet. Niemand werde sich dann noch fragen, wie ein Computer funktioniere, er werde einfach da sein, überall."

Weitere Artikel: Marion Löhndorf liefert einen Bericht vom Berliner Theatertreffen. Besprochen werden Erkki-Sven Tüürs Oper "Wallenberg" in Dortmund, das 13. Bodenseefestival, John Bartons Stück "Tantalus" in London und einige Bücher die anderswo allerdings schon längst abgefeiert wurden, darunter Hans Ulrich Gumbrechts Buch über das Jahr 1926 und Ulrich Woelks Roman "Liebespaare".