Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2001.

Zeit, 03.05.2001

Ein finsteres Interview über den Zustand des Theaters gibt der Opernregisseur Peter Konwitschny dem Zeit-Redakteur Claus Spahn: "Die Rolle des Theaters in unserer Gesellschaft wird immer dürftiger. Es wird eigentlich nicht mehr gebraucht und nicht mehr gewollt. Es sind, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nur noch wenige Menschen, die überhaupt ins Theater oder in die Oper gehen, und von denen interessiert sich vielleicht noch ein Drittel für die wirkliche Substanz in den Werken." Schuld hat (wie im Zeit-Feuilleton eigentlich nicht anders zu erwarten) der Kapitalismus: "Ich finde nach wie vor die Theorie von Marx richtig, dass der ganze Schlamassel da ist durch das Privateigentum an Produktionsmitteln."

Einen melancholischen Nachruf auf die modernde DDR-Hinterlassenschaft am Alexanderplatz schreibt die Berliner Schriftstellerin Ricarda Bethke: "Also weg damit? Weg mit solchen Monumenten der Bedürfniskalkulation? Einfach abreißen, so wie man nach 1870/71 in Paris die ehemals aufständischen Wohnviertel in Teilen abgerissen hatte, um die breiten Boulevards bauen zu können? Weg die Häuser und Bewohner?" Nun fand die Haussmannisierung von Paris eigentlich vor der Commune statt, und die Commune selbst hatte immerhin das Pariser Stadtschloss, die Tuilerien, abgerissen!

Weitere Artikel: Gustav Seibt kommentiert die Einrichtung einer "Ethikkommission" für strittige Fragen in Raub- und Beutekunstdebatten. Ulrich Stock gratuliert der Zürcher Jazzpianistin Irene Schweizer zum Sechzigsten. Peter Kümmel ist nicht zufrieden mit Peter Steins Inszenierung von Botho Strauß' "Pancomedia" in Berlin ("Stein hält nicht viel von den Leuten, aber er heiligt das literarische Wort – es ist auf fatale Weise wichtiger als die Figur, die es sagt.") Besprochen werden Installationen von Olafur Eliasson in Bregenz, Andrea Breths Inszenierung des "Käthchens" an der Burg, die neue CD von Janet Jackson, die Filme "Rosetta" und "Almoust Famous" und das Düsseldorfer Konzert der Geigerin Hilary Hahn (über die wir übrigens neulich einen Link des Tages brachten).

Aufmacher des Literaturteils ist ein Essay über die "Hirnforschung und ihre Bedeutung für die Kunst" von Lars Gustafsson. Er nimmt dabei Bezug auf ein bisher nur auf englisch erschienenes Buch von Semir Zeki: "Inner Vision – An Exploration of Art and the Brain" (Oxford University Press).

TAZ, 03.05.2001

Filmseiten in der taz. Besprochen werden die Filme "Rosetta", "Almoust Famous" und "Das Frühlingstreffen der Feldhüter". Außerdem geht es um Fotobände der Fotografen Thomas Wrede und Marc Räder, die sich mit der Architektur von Freizeitparks und Suburbs auseinandersetzen (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr) und um neue Projekte des DJs Tim Simenon.

Auf der Internetseite berichtet Niklas Hablützel vom Angriff chinesischer Hacker auf die Websites amerikanischer Ministerien: "In der Nacht zum Mittwoch waren 340 Websites beim hessischen Provider ICC plötzlich nicht mehr erreichbar. Das System läuft unter WindowsNT, und gelegentliche Abstürze wären daher noch vergangene Woche kaum eine Nachricht wert gewesen. Heute ist alles anders. Der hessische Provider hängt an den Leitungen des US-amerikanischen Netzwerkbetreibers 'WorldCom' - und die Logfiles weisen aus, dass die Rechner von Peking aus mit böswilligen Abfragen von Daten lahm gelegt worden sind. Das Ziel der Angriffe war nicht Hessen, sondern es waren die USA, hat der Firmensprecher erkannt: Plötzlich scheint eingetreten, wovon bisher nur Geheimdienstfetischisten und Verschwörungstheoretiker raunten: der Krieg im Cyberspace." Und Wired fragte gar: "Is this World Cyber War I?"

Schließlich Tom.
Stichwörter: DJs, Freizeitpark, ICC

SZ, 03.05.2001

Oha! An sich ist das Münchner Feuilleton bisher nicht dadurch hervorgetreten, dass es sich zentrale Kulturinsitutionen des Bundes ausgerechnet nach Berlin wünschte! Und doch hält Johannes Willms ein Plädoyer für eine Deutsche Nationalbibliothek in Berlin. Sie soll auf den Schlossplatz (während der Scharoun-Bau der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz zu einer Art Centre Pompidou umfunktioniert werden soll): "Die Errichtung einer architektonisch anspruchsvollen Nationalbibliothek auf der Wüstung des Berliner Schlossplatzes wäre nicht nur aus sachlichen Gründen geboten, sondern entspräche in iedealer Weise der repräsentativen Wirkung wie dem symbolischen Überschuss des Ortes. In dem zu errichtenden Gebäude ließen sich auch unschwer die bedeutenden, bislang aber der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Lehr- und Kunstsammlungen der Humboldt-Universität angemessen unterbringen..." Einverstanden ? aber nur wenn das Ding nicht aussieht wie das Stadtschloss, das Kanzleramt oder die Pariser Nationalbibliothek!

Weitere Artikel: Die Filmseiten präsentieren eine Kritik des Films "Almoust Famous" sowie ein Interview mit dem Tierfilmpionier Hans Hass, dessen Filme auf dem Münchner Dokumentarfimfestival zu sehen sind. Ferner berichtet Alexander Menden über das Jahrestreffen der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Sibylle Berg gedenkt in der Reihe "Das war die BRD" des Trainingsanzugs, und Eva Marz hat einer Tutzinger Tagung über Marketing beigewohnt, wo sie jede Hoffnung auf einen "Ort außerhalb der Warenlogik" leider begraben musste. Besprochen werden Joseph Haydns Oper "L'anima del filosofo" in Schwetzingen und Olafur Eliassons Installationen im Kunsthaus Bregenz.

FR, 03.05.2001

Anatolij Koroljow erzählt, wie er in der russischen Provinz vergeblich versuchte, eine aktuelle Zeitung zu ergattern: "Es gibt weder eine Lokalzeitung noch ein Radio. Wer lesen will, muss zu den Zeitungen aus Pskow greifen. Doch die streifen die echte Situation in der Provinz selten, weil sie unter der Kontrolle des Bürgermeisters oder Gouverneurs stehen. Die Moskauer Journalisten sind ohnehin vorwiegend mit ihrer eigenen Elite beschäftigt. Die endlose Fläche Russlands und ein Großteil seines Lebens findet ohne jede Öffentlichkeit im vollen Schweigen des Feudalismus statt. Stattdessen klopfen die Spechte und knarren die Fuhrwerke. Dieses Land geht niemanden an. Das Dasein in der Provinz entbehrt der Spannung, der Gesprächsgegenstände. Zeit verläuft anders. Genauer gesagt: Sie steht wie Wasser im Sumpf. Ich habe diese Sumpfkraft am eigenen Leibe gespürt. Schon am dritten Tag des Pskower Lebens fing ich an, spät aufzustehen. Ich trank mehr Bier und suchte nicht mehr nach Nachrichten."

Gunhild Kübler hat sich mit mehreren israelischen und palästinensischen Autoren über die Rolle der Literatur unterhalten. Während die einen beklagen, dass die jungen Autoren auf Unterhaltung setzen, meint etwa David Grossman, Literatur "habe keine Aufgaben. 'Man soll sie nicht unter Erwartungsdruck setzen. Es gibt auch in dieser Situation Liebende, die ihre Intimität bewahren wollen, gerade im Protest dagegen, wie unser Gefühlsleben heute von der Realität konfisziert wird. Denn wir leben ja gar nicht. Wir überleben nur von einer Katastrophe zur nächsten. Wer im KZ sitzt hat nur diese Option. Aber wer 200 Atombomben hat und auch dann nur aufs Überleben hofft, macht einen tragischen historischen Fehler. In dieser Situation Gegenbilder zu erfinden, das ist die politische Dimension eines Buchs, das sich aufs Private konzentriert. Es erinnert daran, dass es Alternativen gibt.'"

Roman Arens berichtet über eine von Györgi Konrad veranstaltete Balkankonferenz in Budapest. Hier traf sich die "Gruppe 99", ein lockerer Zusammenschluss von Autoren des ehemaligen Jugoslawien. Konrad, der gehofft hatte, etwas "Großartiges" zu hören, wurde enttäuscht: "Obwohl Serbiens Diktator Milosevic inzwischen im Gefängnis sitzt, stellte Filip David in der Experten-Runde fest: 'Ich bin pessimistischer denn je in den vergangenen dreizehn Jahren.' Eine solche Einschätzung nach dem Ende der langen Jahre unter Milosevic möge vielleicht bizarr erscheinen, so David, 'aber wir haben nicht mehr genug Kraft für wirkliche Veränderungen.'"

Besprochen werden Cameron Crowes Film "Almost Famous", der an den Rockkritiker Lester Bangs erinnert, der Film "Rosetta" von Luc und Jean-Pierre Dardennes, Haydns Oper "Orfeo" in Schwetzingen und ein "Wallenstein" am Bayerischen Staatsschauspiel, inszeniert von Anselm Weber.

NZZ, 03.05.2001

Wenigstens eine der großen Zeitungen war beim taz-Kongress dabei, der am Wochenende in Berlin unter dem Titel "Wie wollen wir leben?" stattfand. "Wie wir leben wollen, ist die große Frage aller Politik, die den Namen verdient, und es ist tröstlich, dass jemand sie wieder zu stellen wagt. Tröstlich ist auch, dass sich eine Zeitung immer noch unverdrossen als links bezeichnet, nachdem es nun ein Jahrzehnt lang opportun war, die Linke totzusagen." Ja, Tröstung war's, die die Abgesandten der bürgerlichen Institute von der taz immer wieder ersehnten!

Besprochen werden die Ausstellung über Jacqueline Kennedy in New York, die CDs "Hot Shot" von Shaggy und "All for You" von Janet Jackson, ein Ballettabend in Stuttgart und einige Bücher, darunter Patrick Roths Triptychon "Die Nacht der Zeitlosen".
Stichwörter: Berlin, Stuttgart, TAZ, Zeitungen

FAZ, 03.05.2001

Im Interview mit den strengen Moralisten der FAZ-Redaktion verteidigt Kanzler Schröder seine Einrichtung eines Ethikrats für die Biopolitik und seine pragmatische Sicht der Dinge. Er will "zunächst einmal wissen, und zwar hinreichend sicher wissen, was denn die Forschungswege sind. Erst dann können wir abwägen: Gefährdung auf der einen Seite, therapeutischer Nutzen, aber eben auch ökonomischer Nutzen auf der anderen Seite. Nach dem, was ich darüber weiß, wird die Biotechnologie neben der Informations- und Kommunikationstechnologie eine der Schlüsseltechnologien dieses Jahrhunderts sein. Und auch die Frage, welche Entwicklungsperspektive ein Land hat, ist jedenfalls von hoher sozialethischer Bedeutung. Ob man es sich leisten kann, bestimmte ökonomische Chancen in einer solchen Schlüsseltechnologie - unterstellt, sie ist eine -, nicht zu nutzen, ist eine Frage, die keineswegs unethisch ist."

Zum Dossier gehören zwei Artikel auf der Aufmacherseite des Feuilletons. Christian Geyer kritisiert, dass der Ethikrat "natürlich vom Parlament, nicht aber vom Kanzler (hätte) berufen werden müssen". Und Christian Schwägerl stellt fest, dass es eine Wende in der Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft gebe, da sie nun "deutschen Wissenschaftlern die Forschung an Embryonen ermöglichen (will), um der Züchtung von Ersatzgewebe für Schwerkranke näherzukommen."

Dirk Schümer berichtet von den Dreharbeiten an der Verfilmung von Rolf Hochhuths "Stellvertreter". Die Vatikan-Szenen drehte Regisseur Costa-Cavras ausgerechnet in Bukarest in Ceaucescus ehemaligen Regierungspalast: "Auch dieser Diktator ließ sich von den Emblemen des römischen Imperiums verführen, zog ein Labyrinth von Raumfluchten mit Akanthus, Marmorvasen, Putti und vergoldeten Kapitellen hoch, das man für die Staffage des Vatikans nur noch mit den passenden Barocksesseln und Kruzifixen möblieren musste. Die Rumänen, die für die Dreharbeiten immerhin ihren aktuellen Parlamentssitz hergaben, kennen die raren Vorzüge dieses Ortes genau. Wenn euch die Miete zu teuer ist, so ließen die Autoritäten Costa-Gavras vorab wissen, dann bittet doch beim Vatikan um eine Drehgenehmigung..."

Weitere Artikel: In der Leitglosse wird die Entstehung der Buchhandelskette Thalia glossiert, die mehrheitlich zum Douglas-Konzern gehört und mit mehr als einer halben Milliarde Mark zum größten Akteur auf dem deutschen Buchmarkt wird ? vor Bertelsmann. Jordan Mejias war bei der "Helmut Lachenmann Week" in New York dabei ? der Komponist scheint allerdings nur ein schütteres Publikum vorgefunden zu haben. Kristina Maidt-Zinke berichtet von der Jahrestagung der Shakespeare-Gesellschaft, Stefanie Peter von einem internationalen Kolloquium zur Vertreibung und Gina Thomas über das Aus für Norman Fosters Neubau des Wembley-Stadions. Ferner schreibt Bernfried Schlerath zum Tod des Indologen Paul Thieme, Walter Hinck gratuliert Dieter Borchmeyer zum Sechzigsten, und Robert von Lucius hatte das Privileg, den Festakten zum fünfzigsten Geburtstag der deutsch-schwedischen Handelskammer beiwohnen zu dürfen.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite schildert Thomas Steinfeld anhand von James Fenimore Coopers "Lederstrumpf" die Geburt des Westerns.

Besprochen werden der Film "Almoust Famous", Haydns Oper "L'anima del filosofo" in Schwetzingen, eine "Tosca" in Kassel, ein "Idiot" in Bochum, eine Ausstellung von Schülern des berühmten Düsseldrofer Kunstprofessors Fritz Schwegler in Kleve und eine Ausstellung über die Fotografie der neunziger Jahre in Kiel.