Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2001.

FAZ, 02.05.2001

Zwei Wochen nach den blutig niedergeschlagenen Studentenproteste in Addis Abeba berichtet Andreas Obst über die Stimmung in der Stadt: "Das ist es, was die Menschen hier am meisten beunruhigt: Sie haben erkannt, dass sie vor den Trümmern ihres Staates stehen. In diesem Mai hätten die Äthiopier zehn Jahre Befreiung von der Diktatur feiern wollen, statt dessen hat die Partei des Premierministers Meles Zenawi, die das Land - so stellt sich mittlerweile heraus - nach unverhohlen stalinistischem Modell regiert, einen Kongress angekündigt, in dem die Funktionäre retten wollen, was längst nicht mehr zu retten ist."

Jens Petersen berichtet aus Italien über warnende Stimmen vor einem Wahlsieg Berlusconis: "Warnende Äußerungen der Besorgnis sind Legion. Der frühere Staatspräsident Oscar Maria Scalfaro, der Berlusconi aus intensiver eigener Anschauung kennt, sieht in der 'Entartung der italienischen Politik' eine 'Logik des Schaufensters und des Schauspiels': 'Meinem Eindruck nach hat man in der Mitte-rechts-Koalition darauf verzichtet, auch nur einen einzigen Gedanken oder eine konträre These zu formulieren.' Es handele sich um eine 'totale Kapitulation vor dem "leader"', der für alle denkt, redet und handelt. Es sei ein Zeichen für eine Demokratie in der Krise, 'wenn die Machtmittel - nicht nur die Medien - alles verwandeln können: Menschen, Politik, öffentliche Meinung und Presse.'"

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner beginnt eine Reihe über die Goethe-Institute mit dem Goethe-Institut in Budapest, Lothar Müller würdigt den verstorbenen Germanisten Erich Trunz, Klaus Englert berichtet über "Neues Bauen in Amsterdam", Ulrich Raulff gratuliert der Zeitschrift Castrum Peregrini (sie wurde im Frühling 1951 in Amsterdam gegründet und ist dem Geist Stefan Georges verpflichtet) zum 50. Geburtstag, Achim Bahnen berichtet über eine Diskussion zur Sterbehilfe in Tübingen mit Walter Jens, Hans Küng und Herta Däubler-Gmelin, und Werner Bloch beschreibt am Beispiel der Gruppe "Cubanismo" die unerwarteten Kombinationen, die sich aus der Verbindung von New Orleans-Jazz mit kubanischem Son, Guaracha, Chachacha und Danzon ergeben: "Im frechen Ernie-K.-Doe-Hit 'Mother in Law', nun als Chachacha dargeboten, klingt die fröhliche Ironie gegen die bösartige Schwiegermutter in einer unerwarteten musikalischen Spritzigkeit an."

Besprochen werden die Filme "Rembrandt" mit Klaus Maria Brandauer und "Palermo flüstert", ein Boris Godunow an der Komischen Oper, Ausstellungen der Sammlungen Grässlin und Falckenberg in den Hamburger Deichtorhallen und in Hannover, eine Ausstellung des Modellbauers Bodys Isek Kingelez im Hamburger Kunstverein und eine Ausstellung mit Porträtbüsten in der National Portrait Gallery in London.

Auf der Stilseite bespricht Andreas Rossmann die Schau "Mann und Auto" mit Fotografien von Brigitte Kraemer im Rheinischen Industriemuseum Oberhausen, und Marc Degens stellt Esther Maria Weibels Romanerstling "Darja in Digitalien" vor, in dem es um die "langjährige Internetsucht" der Autorin geht.

TAZ, 02.05.2001

Stephanie Grimm stellt in einem Überblicksartikel fest, dass in Deutschland immer mehr Autoren versuchen, ihre Biografie anhand ihrer Pop-Plattensammlung zu erzählen und macht folgende Beobachtung: "Überhaupt, Frauen. Alle diese Pop-Biografien stammen von Männern. Das wirft die Frage auf, ob Frauen ihre Popsozialisation schlicht vergessen, oder ob sie nur niemand hören will. Schließlich trägt Popmusik auch bei Frauen zur Persönlichkeitsbildung bei. Davon zeugen nicht nur die zahllosen Mixkassetten, die, liebevoll bemalt und mit aufwendigen Fotocollagen versehen, bei manchen Jungs im Regal liegen - von Boygroups und dem ganzen Programm ganz zu schweigen."

Sebastian Rudolph, Schauspieler in Christoph Schlingensiefs Zürcher "Hamlet"-Projekt, in dem auch ehemalige Neonazis auftreten, berichtet über die Arbeit in der Schweiz: "Die Reaktionen der Schweizer sind überwältigend. Die Leute strömen mittlerweile in Scharen zu den vorab bekannt gegebenen Standorten unseres Infotischs und sind durch die Medienberichte so aufgegeilt, dass sie blind jede Liste unterschreiben, die wir ihnen hinhalten. Die Zeitungen unterstützen uns auch ganz wunderbar, indem sie unsere Aktion kritisieren, aber schön die Plakate und ganzseitige Artikel abdrucken." (siehe auch unseren Link des Tages)

Weitere Artikel: Helmut Höge erzählt die Geschichte zweier türkischer Prostituierter in Berlin. Peter Fuchs liefert die 5. Folge seiner Betrachtungen über den Umgang mit Behinderten aus systemtheoretischer Sicht. Besprochen werden eine CD der Gruppe Zoot Woman und Lutz Hübners "Ausnahmezustand" und Ravenhills "Gestochen scharfe Polaroids" am Deutschen Theater Göttingen

Zum Abschluss Tom.

SZ, 02.05.2001

Konrad Lischka setzt sich mit den vieldiskutierten Thesen des peruanischen Wirtschaftswissenschaftlers Hernando de Soto auseinander, der in "The Mystery of Capital", die Unschlagbarkeit des Kapitalismus auch für die Dritte Welt behauptet. "Drei Thesen machen de Sotos Modell so reizvoll, dass Magazine wie Economist, Business Week und Forbes sich immer wieder darauf berufen. Zum einen sei der Kapitalismus a priori die beste Wirtschaftsform. De Soto widerspricht Marx in einem entscheidenden Punkt: Das Kapital konzentriert sich nicht einem Naturgesetz folgend bei einer Minderheit. Im Gegenteil: Der Kapitalismus würde die Menschen aus ihrer ökonomischen und politischen Unfreiheit befreien, fesselte ihn nicht ein unzulänglicher Staat. Zum zweiten sei die Erste Welt unschuldig an der Misere der Zweiten und Dritten. Statt koloniale Sünden mit Entwicklungshilfe abzuzahlen, sollte man den Staaten zu Gesetzesreformen verhelfen. Drittens verneint die Theorie jeden Einfluss kultureller Faktoren, was deren heikle Bewertung unnötig macht."

Niklas Maak verteidigt noch mal das Kanzleramt gegen den Vorwurf der Monstrosität: "Hier die gute bescheidene Architektur, dort das Getöse der großen Form: Solche Simpelkontraste wurden bis zur Diffamierung getrieben, wenn etwa auf dem Stern-Titelbild neben Schröder und dem Kanzleramt Adolf Hitler gezeigt und so in eine suggestive Traditionsachse gezwängt wurden. Wie unfassbar dumm diese Argumentation ist, zeigt schon ein Blick auf die virtuose Hauptfassade des neuen Kanzleramtes. Da ist nichts starr und abweisend, alles schwingt, öffnet sich als grandiose Bühne für die Politik."

Weitere Artikel: Helmut Mauro spricht mit dem Komponisten Wolfgang Rihm über Musiktheater und Instrumentalmusik. Petra Steinberger macht sich Gedanken über den 1. Mai als Tag der anarchistischen Internationale. ("Die größeren und kleineren Ausschreitungen, riots, wie sie nun an diesem 1.Mai in vielen Großstädten vor allem der westlichen Welt stattfanden, sind die hinkenden kleinen Brüder der Revolution.") Harald Staun meditiert in der Kolumne "Linksverkehr" über die Suchkriterien von Suchmaschinen (und zitiert folgende Auflösung der Abkürzung Yahoo: "Yet Another Hierarchically Ordered Ontology"). Rolf-Berhard Essig schreibt zum Tod des Goethe-Herausgebers Erich Trunz. Besprochen werden ein Symposion über die "Kunst des Ausstellens" in Stuttgart, Gerard Corbiaus Film "Der König tanzt", Egks Oper "Der Revisor" in Augsburg, eine Ausstellung über Jacqueline Kennedy in New York, eine CD mit Coverversionen von Phil-Collins-Hits, und Marivaux' "Die falsche Zofe" in Berlin.

FR, 02.05.2001

Heute bezieht Schröder sein neues Haus, und Christian Thomas versucht, den Dissens zwischen dem Kanzler und seinem Amt zu erklären: "Das neue Amt sperrt der Kanzler in einen isolierenden Baukörper. Schröder, in den letzten Jahren in dem ehemaligen Staatsratsgebäude am Schlossplatz untergebracht, was mittags den durchaus ungezwungenen Besuch beim Italiener möglich machte, bezieht nun eine Residenz auf einer Brache. An Stelle von wieselnder Urbanität nun architektonische Solitäre. Das Kanzleramt, verglichen mit dem provisorischen Amtssitz, bringt eine Zäsur mit sich, tatsächlich einen Einschnitt in nichts weniger als die Lebenswelt des Kanzlers. Auch für einen Politiker ist das nicht einfach. Der Kanzler, von heute an, wird der erste Angestellte seines Staates sein (was so neu natürlich nicht ist). Aber es wird noch viel dramatischer: der Kanzler - seit heute fungiert er als der erste Diener seines Hauses."

Der kroatische Autor Pedrag Matvejevic schildert in der "Heimatkunde"-Serie, was Heimat für Emigranten bedeutet: "Wenige Emigranten lernen in der ersten Generation die Sprache des Landes, in das zu emigrieren sie gezwungen waren. Sie fühlen sich hier als vorübergehende Gäste. Die Gruppe, mit der sie kommunizieren, beschränkt sich mehr oder weniger immer auf ihre Landsleute. Sie sind gezwungen mit ihrer Herkunftskultur zu brechen, aber es gelingt ihnen auch nicht, sich in jene neue Kultur zu integrieren, in der sie jetzt leben müssen. So schließen sich viele ein in einer Art von Subkultur."

Weitere Artikel: Franziska Meier hat beobachtet, wie Berlusconi und seine politischen Gegner den italienischen Tag der Befreiung vom Faschismus begingen. Besprochen werden Ayse Erkmens Frankfurter Kunstprojekt "Shipped Ships", Dito Tsintsadzes Film "Lost Killers", das Dokumentarfilmfestival in Nyon, die neunte Videonale in Bonn, der Boris Godunow in Bonn und die Eröffnung des Theaterfestivals Ruhr.

NZZ, 02.05.2001

Viele Buchkritiken heute in der NZZ, darunter über eine dreibändige Enzyklopädie der Päpste (die allerdings auf italienisch erschienen ist) und über Javier Marias' Essayband "Geschriebenes Leben". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Aber auch um den Buchmarkt geht es. Joachim Güntner widmet sich der "Ratgeberliteratur - als Phänomen betrachtet". Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die neue Bestsellerliste im Focus, die die tatsächlich am meisten verkauften Bücher auflistet. An erster Stelle steht dort ein Ratgeber von Iris Berben zur Faltenvermeidung. Güntner zitiert die Fachzeitschrift BuchMarkt und knüpft daran ein Bekenntnis: "'Als andere Warengruppen Stillstand oder Rückgang verzeichneten, waren für die Ratgeber stolze Zuwachsraten zu melden. Ihr Anteil am Branchenumsatz stieg seit den späten achtziger Jahren bis 1998 auf das Doppelte - auf zwanzig Prozent', schreibt Gerhard Beckmann im Märzheft der Zeitschrift BuchMarkt. Für den Ex-Verleger und Fachjournalisten Beckmann erwächst daraus die Forderung, Ratgeber endlich auch im Feuilleton zu besprechen. Doch auf die Gefahr hin, dass sein Verdikt weiter über unserem Haupte schwebt ('Die meisten Redakteure der meinungsbildenden Feuilletons lernen es anscheinend nie') - die Neigung, das Rezensentenknie vor diesem Genre zu beugen, werden wir auch künftig nicht kultivieren." Unsere Feuilletons besprechen halt lieber Bücher über den Heringhshandel in der Ostseeregion vom 12. bis 16. Jahrhundert.

Paul Jandl stellt den neuen Wiener Verlag Korrespondenzen vor, dessen Gründer Franz Hammerbacher offensichtlich das Glück hat, ein privates Erbe verzehren zu können: "Mindestens ein paar Jahre möchte man jetzt versuchen, dem raschen Sterben der Verlage zu entgehen. Und das mit Hilfe eines programmatischen Gegenmittels: durch 'Entschleunigung'. Mit aufwendiger Produktion der Bücher, von der Fadenheftung über die grafische Gestaltung bis zu einer Limitierung der Auflage, soll dem Getöse des Marktes jene Genauigkeit entgegengesetzt werden, die Franz Hammerbacher vor allem in der Lyrik zu finden meint."

Weitere Artikel: Robert Richter schildert, wie der iranische Filmregisseur Jafar Panahi auf dem Flughafen von New York verhaftet und angekettet wurde - er war auf Durchreise. Vorgehalten wurde ihm das Fehlen eines Transitvisums. Besprochen werden Verdis "Luisa Miller" in Lausanne und Mussorgskys "Boris Godunow" in Berlin.