Magazinrundschau

Braten und Schnaps

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag.
14.02.2014. Bei edge.org schlägt Kevin Kelly Transparenz für alle vor, auch für die NSA. Die NYT schildert die letzten Tage Philip Seymour Hoffmans. Bei Eurozine beschreibt Volodymyr Yermolenko das Paradox im Herzen der ukrainischen Rebellion. Der New Statesman besucht eine Ausstellung über die Arbeiter-Spartakiade. Mediapart sucht 50 Millionen Euro von Gaddafi und findet sie bei Sarkozy. In Aeon philosophiert Aaron Ben-Zeev über die romantische Liebe.

Edge.org (USA), 03.02.2014

Wenn Evgeny Morozov den Typus des permanenten Technotrolls verkörpert, der jeden Elan herunterredet, dann ist Kevin Kelly der Typus des permanenten Technovisionärs, der den Fortschritt stets auf dem Weg zum Gutem sieht - und ehrlich gesagt: Er liest sich weit anregender. In Edge antwortet er ausführlich auf eine ganze Menge Fragen und weicht auch der großen, von Sascha Lobo benannten narzisstischen Kränkung durchs Netz nicht aus. Das Netz will kopieren, sagt Kelly, und das Netz will beobachten. Beides gehört zu seinen innersten Regungen und lässt sich nicht abstellen, also muss man damit arbeiten: "Das ist es, was die NSA und andere Geheimdienste gerade erleben. Sie versuchen, geheim zu sein, aber du kannst nicht geheim sein, denn das Internet will das Zeug kopieren." Als Antwort auf Überwachung schlägt Kelly Symmetrie vor. Die NSA solle mit Wikileaks kooperieren. "Wir wollen gegenseitige Beobachtung statt Überwachung. Wir wollen unsere Beobachter beobachten, tracken, wer uns trackt." Und der NSA will er sagen: "Ok, du trackst uns, aber du musst Rechenschaft ablegen. Es kann nicht geheim und außerhalb jeder Rechenschaftspflicht stattfinden."
Archiv: Edge.org

New York Times (USA), 06.02.2014

Michael Wilson erzählt in einer sehr traurig zu lesenden Reportage die letzten Tage des Philip Seymour Hoffman. Noch Tage vor seinem Tod schien alles wie immer: "Für jemand, der mit 46 Jahren allein starb, war sein Tag alles andere als isoliert. Er war eine bekannte Figur in Greenwich Village, ein üblicher Anblick für die Nachbarn, wenn er einen Kinderwagen schob, auf einem Treppenabsatz rauchte oder einem Touristen den Weg wies. Kurz, ein normaler New Yorker - mit einem Oscar in seinem Regal. Seine letzten Tage waren nicht anders. Er lebe nicht abgeschlossen. Überall wurde er gesehen." Zum Beispiel ein paar Tage zuvor auf dem Sundance Festival. "In Sundance fragte ihn ein Zeitschriftenredakteur, der ihn nicht sorfort erkannte, was er mache. 'Ich bin heroinsüchtig', antwortete Hoffman."
Archiv: New York Times

Eurozine (Österreich), 06.02.2014

Mag sein, dass die Ukrainer nicht unbedingt bereit sind, nach den Regeln Europas zu leben, aber für ihre Ideale sind sie bereit zu sterben, schreibt der ukrainische Journalist Volodymyr Yermolenko: "Es gibt ein Paradox im Herzen der ukrainischen Rebellion. Sie ist das ideale Milieu, in der die Gesellschaft als ganze leben und wachsen kann wie ein Organismus. Doch außerhalb dieses rebellischen Milieus gibt es tatsächlich keine Gesellschaft: Es gibt nur Individuen und Clans - und der Krieg eines jeden gegen seinen Nachbarn, niemand traut dem anderen. Die Menschen sind geteilt in Familien, Clans und Gruppen, und zwar nicht nur 'die da oben', sondern auch 'wir hier unten'. Trotzdem sind die Menschen Geschöpfe, die von Größerem als nur der kleinen Gemeinschaft träumen. In solchen glauben die Leute zu ersticken, und nur ein kleines bisschen Solidarität reicht ihnen nicht. Es gibt Zeiten, in denen die Leute nach der universalen Brüderlichkeit der Menschheit verlangen. Diese utopische Brüderlichkeit ist die ideale Gesellschaft."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Clan

New Statesman (UK), 06.02.2014

Anlässlich der Olympischen Spiele in Sotschi erinnert eine Ausstellung in Lausanne daran, dass die Bolschewiken viele Jahre von Olympia nichts wissen wollten. Sie gründeten nach der Revolution die Arbeiter-Spartakiade, erstmals 1928 veranstaltet, die sportliche Leistungen ohne Wettkampf zeigten, erzählt Michael Prodger. "Um die Botschaft zu verbreiten, dass mens sana in corpore sano das neue sowjetische Ethos war, wurden Künstler hinzugezogen. Es war eine gute Kombination. Wenn Sport Modernität repräsentierte, dann war die Wiederschaffung der modernen Welt die treibende Kraft hinter der Kunst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, des Zeitalters der 'ismen'. Sie lag dem Kubismus und dem Futurismus zugrunde ebenso wie den russischen Bewegungen des Konstruktivismus und Suprematismus. Künstler wie Alexander Rotschenko, Varvara Stepanowa, Kasimir Malewitsch und El Lissitzky waren enthusiastische Verkünder des Images vom sowjetischen 'neuen Mann' (und der 'neuen Frau', denn anders als im Westen waren die Frauen im russischen Sport gleichgestellt.)."
Archiv: New Statesman

Rue89 (Frankreich), 09.02.2014

Pierre Haski interviewt die Journalistin Florence Hartmann, die sich in ihrem Buch "Lanceur d'alerte" mit der Rolle und Bedeutung von Whistleblowern beschäftigt. Dabei plädiert sie gar nicht für grenzenlose Transparenz, aber einen rechtlichen Schutz der Whistleblower: Wir müssen "anerkennen, dass der Bürger das Recht hat, sich Fragen zu stellen, wenn er eine Kluft sieht zwischen dem, was gessagt, und dem, was getan wird."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Rue89, Whistleblower

n+1 (USA), 05.02.2014

"Wenn einer von uns an einer Überdosis stirbt, hält er wahrscheinlich zehn andere davon ab", zitiert der Drehbuchautor Aaron Sorkin den an einer Heroin-Überdosis gestorbenen Schauspieler Philip Seymour Hoffman. Ob sich Hoffmans Prognose bewahrheitet, hängt davon ab, welche Schlüsse aus seinem Tod gezogen werden, schreibt Christopher Glazek. Um den gegenwärtigen Heroin-Boom - die Zahl der Konsumenten hat sich in den USA seit 2007 fast verdoppelt und ist so hoch wie nie zuvor - in den Griff zu kriegen, plädiert Glazek gegen eine härtere Drohenpolitik und für die Betreuung von Heroinsüchtigen mit geeigneten Ersatzstoffen: "Viele betreute Opiatabhängige erfahren eine geringere Zerrüttung ihres täglichen Lebens als Konsumenten von Chemikalien wie Crack und Meth, die zwar weniger tödlich sind, aber stärker verrückt machen. Selbst mit unkontrollierter Abhängigkeit und schwankender Versorgung mit Opiaten gelang es Hoffman, einen Zeitplan einzuhalten und eine Produktivität an den Tag zu legen, die für viele nüchterne Menschen eine Herausforderung wäre. Darin liegt jedoch das große Paradox von Heroin: Wer es einnimmt, geht im Vergleich zu anderen Drogen ein geringeres Risiko ein, sich durch unberechenbares Verhalten als Süchtiger zu stigmatiseren. Aber er geht ein höheres Risiko ein, von der Droge getötet zu werden."
Archiv: n+1

SZ-Magazin (Deutschland), 08.02.2014

Wes Anderson, dessen neuer Film "Grand Budapest Hotel" die Berlinale eröffnete, erzählt in einem sehr amüsanten Gespräch mit Sven Michaelsen von seinen persönlichen Vorlieben, Abneigungen und Erfahrungen mit Hotels: "Ich habe in Japan mal in einem Ryokan übernachtet. Zur Tradition dieser Gasthäuser gehört es, dass der Gast am späten Nachmittag eincheckt, ein ausführliches Bad nimmt und dann ein Abendessen mit vielen Gängen serviert bekommt. Bedauerlicherweise wusste ich von alldem nichts. Als wir abends um halb elf ankamen, hatten die Angestellten seit Stunden auf uns gewartet. Wir konnten also unmöglich Nein sagen. Was normalerweise dreieinhalb Stunden dauert, absolvierten wir in fünfundvierzig Minuten."
Archiv: SZ-Magazin

Aeon (UK), 05.02.2014

Erfahrung und Spinoza sagen uns, dass die romantische Liebe nicht andauern kann. Irgendwann erlischt sie, das geht unehelichen Paaren ebenso wie verheirateten, heterosexuellen ebenso wie homosexuellen oder lesbischen. Daher war es eine kleine Überraschung, als eine wissenschaftliche Untersuchung über Liebesbeziehungen herausfand, dass zwischen 30 und 40 Prozent der Befragten, die alle länger als zehn Jahre verheiratet waren, sich für 'sehr verliebt' erklärten. Das wiederum hat den israelischen Philosophieprofessor Aaron Ben-Zeev jetzt dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie man die romantische Liebe erhalten kann. "Ich begann mein Gedankenexperiment damit, heftige Emotionen wie Wut mit Gefühlen wie Trauer zu vergleichen. Ein Gefühl besteht nicht nur daraus, dass man eine heftige Emotion wieder und wieder spürt - es formt auch dauerhaft unsere Einstellung und unser Verhalten. Ein Wutanfall kann vielleicht einige Minuten oder länger dauern, aber Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen hallt ständig nach, sie färbt unsere Stimmungen, unser Verhalten und die Art, wie wir Raum und Zeit verstehen. Ebenso können wir auf dem Gebiet der Liebe zwischen zwei Phänomenen unterscheiden: romantischer Intensität und romantischer Tiefgründigkeit. Romantische Intensität zeigt ihren momentanen Wert in der heftigen Emotion. Romantische Tiefgründigkeit verkörpert über eine lange Zeit wiederholte heftige Anfälle intensiver Liebe zusammen mit Lebenserfahrung, die in allen Dimensionen mitschwingt, und den Individuen hilft zu wachsen und zu gedeihen. Aber es geht bei romantischer Tiefgründigkeit nicht nur um Dauer, es geht auch um Komplexität. Eine Analogie dazu findet man in der Musik..."
Archiv: Aeon
Stichwörter: Intensität

New Humanist (UK), 30.01.2014

Dina Mohammad (Pseudonym) erzählt, warum es ihr so schwer fiel, den Islam zu verlassen, nachdem sie den Glauben verloren hatte: "Ich gehörte nicht zur Kultur meiner Eltern, und ich schien nicht in das Mainstream-Amerika zu passen. Aber zum Islam schien ich ganz und gar zu gehören. Min zunehmenden Alter fand ich meine Stimme, ich lernte den muslimischen Feminismus kennen, der gegen Frauenfeindlichkeit im Islam kämpft. Eine gläubige Muslimin in Amerika zu sein, war vor allem nach dem 11. September die einzige Identität, die ich kannte, auch wenn Meditation und Gebet nie wichtig für mich waren. Bei der Vorstellung, diese Identität aufzugeben, fühlte ich mich nackt und verloren. Ich wusste nicht, wer ich ohne diese Identität sein würde."
Archiv: New Humanist

Mediapart (Frankreich), 07.02.2014

Edwy Plenel ist der bekannteste investigative Journalist in Frankreich. Lange war er Chefredakteur von Le Monde und gründete dann das allseits wegen seiner Enthüllungen gefürchtete Internetmagazin Mediapart, das sich fast total hinter seiner Bezahlschranke versteckt. Dieser Artikel war Plenel allerdings so wichtig, dass er ihn freistellte. Die Memoiren des libyschen Politikers Mohamed el-Megarief, die in Frankreich nur in bereinigter Form erschienen, bestätigen, was Plenel vermutete: Gaddafi hat angeblich den Wahlkampf Nicolas Sarkozys im Jahr 2007 unterstützt - mit der bescheidenen Summe von 50 Millionen Euro: "Monsieur el-Megarief sagt, 'er sei sicher, dass Sarkozy die Summe nicht für persönliche Zwcke genutzt hat. Nach dem Wahlkampf gab es weitere Transferts. Es gibt eine Menge Vermutungen über die Summe.'"
Archiv: Mediapart

New Republic (USA), 08.02.2014

Jonathan Galassi stellt Lucy Hughes-Halletts Biografie des italienischen Dichters Gabriele D'Annunzio vor. Im großen und ganzen, meint er, schließt sie sich dem Urteil von Henry James an, der 1902 schrieb, dass "D'Annunzios Forderung nach 'Schönheit um jeden Preis, Schönheit, die den Verstand und die Sinne gleichermaßen anspricht" geschmacklos und enervierend sei - wie so viele mediterane Produkte: 'eine sonderbare, geschmacksintensive Frucht aus Übersee ... nicht wirklich zu uns passend.' ... D'Annunzio predigte in seiner Literatur, was er lebte. Wie James an anderer Stelle beobachtete: 'Obwohl sein Werk nichts als literarisch ist, kann man nie erkennen, wo die Literatur oder das Leben beginnen oder enden.' Er benutzte häufig Briefe an seine Geliebten mit detaillierten Beschreibungen ihrer intimen Begegnungen als Erinnerungshilfe für die Komposition seiner Liebesszenen: 'Pentella [sein Kosename für die Vagina einer Geliebten] war nie so weich und heiß und samten wie während der vier Orgasmen vor dem Mittagessen Samstags', schrieb er einer seiner wechselnden Partnerinnen in seinen späten Jahren."

Philip Kennicott nimmt den britischen Komponisten Benjamin Britten aufs Korn. Liest man den Text zu Ende, stellt man fest, dass er durchaus einiges Schätzenswerte und sogar "Dorniges" in seiner Musik findet. Aber der Mittelteil über diese "Genie aus der Mittelklasse", das in seinen jungen Jahren Rachmaninows Musik als sentimentalen "Papp" verabscheute und Berg und Schönberg verehrte, ist ein Schlachtfest: "Egal, was der junge Komponist über sentimentalen 'Papp' sagte, Britten schwelgte darin, wie die meisten Menschen in Braten und Schnaps. Und er ist nie so genial wie bei den raren Gelegenheiten, - 'Albert Hering' zum Beispiel - wo er sich einen zweiten Martini genehmigte."
Archiv: New Republic

New Yorker (USA), 17.02.2014

In einem 13 Seiten langen Artikel erklärt George Packer das radikale und radikal neue Geschäftsmodell hinter Amazon, welches mit der simplen und nicht im Geringsten bibliophilen Einsicht begann, dass Bücher leicht zu versenden und nicht zerbrechlich sind. "Über den Bücherverkauf sammelte Amazon die Daten wohlhabender, gebildeter Käufer, denen man schließlich alles Mögliche andrehen konnte, vom Rasenmäher bis zum Dildo." Dass Amazon dennoch den Buchmarkt grundlegend verändert, steht für Packer außer Zweifel: "Oberflächlich betrachtet geht es um die Frage, wie gelesen wird, auf Kindle oder iPad. Eigentlich aber geht es um Kulturmonopolismus. All die kleinen Torhüter, Journalisten, Kritiker und Buchhändler, wirken als Barrieren gegen die totale Kommerzialisierung von Ideen. Sie bieten frischen Talenten Raum sich zu entwickeln und um auch unbequeme Wahrheiten mitzuteilen. Wenn es nur noch einen Torhüter gibt, wird es Amazon kümmern, ob ein Buch gut ist?"
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Amazon, Buchmarkt, Kindle