Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.12.2003. In der New York Review of Books stellt Oliver Sacks klar: Bewusstsein ist kein fließender Strom. Im Nouvel Obs trägt Michel Serres ein Ei vom Kühlschrank zur Pfanne. Die New York Times Book Review sucht die Haare auf dem Kinn von Lucia Joyce. Outlook India analysiert Indiens Jugend. Der New Yorker wäre am liebsten mit Lorraine Hunt Lieberson (Mezzosopran) allein auf der Welt.

Nouvel Observateur (Frankreich), 25.12.2003

In einem unterhaltsamen Interview mit Doris Lessing (mehr) - Anlass ist das Erscheinen der französischen Ausgabe ihres neuen Romans "Ein süßer Traum" - erinnert sich die inzwischen 84-Jährige an die Sechziger und Tristan Tzara, lobt "Harry Potter" - und hackt genüsslich auf Tony Blair herum: "Er ist ein Wicht. Warum musste er bei diesem Krieg anbeißen? Ich glaube, er ist nicht besonders schlau. Ein Kind der Hippiegeneration. Es gibt ein Foto von ihm, mit langen Haaren und einem Banjo, zum Heulen. Ich denke nicht, dass er jemals ein Buch gelesen hat. Aber am schlimmsten ist, dass er so für wichtige Leute schwärmt. Er muss ein Problem mit seinem Papa gehabt haben."

Im Debattenteil lesen wir Anmerkungen des Philosophen Michel Serres zu 1968, die Risiken der Ökologie, die Zeit und das Meer. Ein Auszug aus seinen launigen Reflexionen: "Wir alle haben schon Eier vom Kühlschrank zur Pfanne getragen, um ein Omelett zu machen. Der Transport ist riskant, die Eier könnten auf die Kacheln fallen. Und doch ist uns das noch nie passiert. Wenn wir uns nun aber 12 Millionen Omelett-Liebhaber vorstellen, die zehn Jahre lang je 24 Millionen Eier zur Pfanne transportieren, wird die Zahl der zerbrochenen Eier beträchtlich ansteigen. Ein anderes Beispiel: Wenn ich ein Seminar in einem Vorlesungssaal gebe, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein krimineller im Raum sitzt, gering. Wenn ich zu drei Millionen Personen spräche, dann gäbe es wohl zehn Mörder im Saal... Das Böse steckt in den großen Zahlen."

Der britische Schriftsteller Martin Amis erklärt, warum Saul Bellow "der höchste amerikanische Schriftsteller" ist: "Vom intellektuellen Standpunkt aus betrachtet, haben seine Sätze ohne jeden Zweifel mehr Gewicht als die von irgendjemand anderem. Selbst John Updike und Philip Roth, die beiden einzigen Schriftsteller, die das Format haben, sich mit ihm messen oder seinen Rang einnehmen zu können, erkennen an, dass sein Status als Doyen nicht einfach eine Frage des Geburtsdatums ist."

Des weiteren gibt es ein Porträt von Jacques Chauvire, Arzt und Freund Albert Camus', der mit 88 Jahren jetzt die Erzählung "Elisa" (Le Temps qu'il fait) vorlegt, und Rezensionen, darunter einer "ausgezeichneten" Biografie über Emmanuel, Comte de Las Cases (1766 - 1842, mehr), die "Biene Napoleons" und Autor des "Memorial de Sainte-Helene" (Jean-Pierre Gaubert : "Las Cases"; Loubatieres)

Ein Hintergrundsbericht informiert über den fehlenden vernünftigen Konzertsaal in Paris. Und das Titeldossier beschäftigt sich mit Bibel und Koran.

New York Review of Books (USA), 15.01.2004

Sind die Zeit und Bewusstein etwas Fließendes? Oder eher einer Kette vergleichbar, eine Folge abgeschlossener Momente? Der Neurologe Oliver Sacks hat sich wieder einmal bei seinen Patienten schlau gemacht: "Es gibt eine seltene, aber dramatische neurologische Störung, die eine Reihe meiner Patienten während ihrer Migräne-Anfälle erlebt haben. Dabei verlieren sie ihren Sinn für visuelle Kontinuität und Bewegung und sehen stattdessen eine flackernde Serie von Standbildern." Ähnliches wurde ihm wohl auch von LSD-Trips berichtet.

Dann gibt es eine sehr schöne Kurzgeschichte von J.M. Coetzee (mehr) zu lesen - "As a Woman Grows Older". Darin heißt es zum Beispiel: "'What I find eerie, as I grow older,' she tells her son, 'is that I hear issuing from my lips words I once upon a time used to hear old people say and swore I would never say myself. What-is-the-world-coming-to things.'"

Weiteres: Tim Judah widmet sich der großen Krux des Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien: Jede Verhaftung oder Verurteilung eines serbischen Kriegsverbrechers lässt die nationalistischen Parteien erstarken. Andererseits, schreibt Judah, kommen auch deshalb so viele serbische Täter vor Gericht, weil zumindest Teile Serbiens bei der Auslieferung kooperieren - im Gegensatz zum Kosovo etwa. Janet Malcolm hat herausgefunden, warum uns eigentlich Diane Arbus' (mehr) Bilder von Freaks und Transvestiten, Nudisten und Behinderten interessieren. William D. Nordhaus blickt mit Joseph E. Stiglitz auf die Roaring Nineties zurück. Amos Elon stellt zwei neuere Studien vor, die nachweisen, dass die - auch nukleare - Aufrüstung Israels durch die USA nicht erst von der Regierung Johnson betrieben wurde, sondern schon vor dem Sechs-Tage-Krieg unter Kennedy.

New Yorker (USA), 05.01.2004

Louis Menand bespricht zwei Bücher, die sich mit dem Geschäft der präsidialen Imagebildung im Weißen Haus und den unterschiedlichen Stilen von Kennedy und Nixon beschäftigen (David Lubin: "Shooting Kennedy: JFK and the Culture of Images? / Leseprobe; David Greenberg: "Nixon's Shadow: The History of an Image? / mehr). "'Es war letztlich das Fernsehen, das den Ausschlag gegeben hat', erklärte John F. Kennedy am 12. November 1960, vier Tage nach seiner Wahl. Er meinte damit die vier Fernsehdebatten zwischen ihm und Nixon, die zuvor im Herbst ausgestrahlt worden waren. Inzwischen sind TV-Duelle auf dem Weg eines Politikers in die Präsidentschaft fast ein öffentlicher Initiationsritus. Eine Präsidentenwahl ohne Fernsehdebatte würde heutzutage fast undemokratisch erscheinen."

Charles Michener schwärmt für die amerikanische Mezzosopranistin Lorraine Hunt Lieberson (mehr): "Wie die besten Pop- und Jazzsängerinnen - Billie Holiday, Patsy Cline, Joni Mitchell - wirkt sie ungekünstelt und lässt eine derart einlullende Atmosphäre entstehen, dass sich der Zuhörer alleine auf der Welt wähnt, verfrachtet an einen Ort jenseits bloßer Worte und Musik."

Weitere Artikel: Graham Chapman gibt eine Gebrauchsanweisung für die Bakerloo Line der Londoner U-Bahn. Karen Loew stellt einen jungen Komponisten vor, der sich dem Kampf gegen den Geräuschterror von Autoalarmanlagen verschrieben hat ("Ich habe mich erkundigt und herausgefunden, dass die Dinger für die Abschreckung total nutzlos sind"). George Packer erklärt, wie man mit dem gefassten Saddam Hussein umgehen sollte, Alastair Reid berichtet von einer Marathon-Lesung, in der Paul Auster seinen neuen Roman zu Gehör brachte. Lesen dürfen wir auch die Erzählung "Broccoli" von Lara Vapnyar. In seiner Filmkolumne erläutert Anthony Lane, was den dritten Teil des "Herrn der Ringe" von seinen Vorgängern unterscheidet: "Vor allem war Gandalf beim Friseur. Mit jeder Folge wurde sein Haar länger, kräftiger und weißer."

Nur in der Printausgabe: eine Reportage aus Saudi-Arabien, wo Lawrence Wright einen Zeitungsjob annahm und Einblicke in eine geschlossene Gesellschaft erhielt, eine Anleitung, wie man mit einem durchgedrehten Hund fertig wird, und Lyrik von Dana Goodyear, Richard Wilbur und Deborah Garrison.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 05.01.2004

Outlook teilt seine letzte Augabe 2003 in Jahresrückblick ("The FeelgoodYear") und Zukunftsprognose ein. Denn Indien, heißt es im Appetitmacher auf einganzes Bündel von Artikeln, ist eine der jüngsten Nationen der Welt: 54 Prozent sind jünger als 25, informiert die Redaktion und ruft die Ära der "Zippies" aus. Definition: "Junger Stadt- oder Vorstadtbewohner zwischen 15 und 25 Jahren mit einem Reißverschluss (zip) im Schritt. Gehört der Generation Z an. Männlich oder weiblich, Student oder berufstätig. (...) Cool, selbstbewusst und kreativ. Sucht die Herausforderung, liebt das Risiko und scheut die Angst. Nachfolger der Generationen X und Y, doch ohne deren sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und ideologischen Ballast." Die Zippies sind, mit anderen Worten, jene jungen Inder, von denen nicht nur erwartet wird, dass sie die Kleiderordnung, sondern das Erscheinungsbild eines ganzen Landes ändern. Was aber denken, fühlen, reden, wollen und sollen sie? Werden sie die enormen Erwartungen auf eine blühende gesellschaftliche und ökonomische Zukunft erfüllen können?

Suveen K. Sinha sortiert die Zahlen und sondiert die - durchaus guten - Chancen auf goldene Jahre, meint aber, dass eine Reform des Bildungssystems erste Voraussetzung sei. Ansonsten könnten mehr als 500 Millionen junge Menschen auch in eine Zukunft des politischen Extremismus führen. Zumal, wie Manu Joseph bei einem Friseurbesuch feststellen musste, junge Inder erschreckend wenig von dem wissen, was in ihrem Land so passiert. Sie haben, so sein Fazit, weder ein soziales Bewusstsein noch das Gefühl, eines zu brauchen.

Sadanand Menon sieht sogar noch schwärzer: Diese jungen Inder, schreibt er, sind doch so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie einen geradezu epidemischen kulturellen Gedächtnisverlust erlitten haben und sich allein an "mystischem Eskapismus und aggressivem Nihilismus" festhalten - eine Diagnose, der Ajith Pillai allerdings energisch widerspricht: Die Zippies haben Soul!
Archiv: Outlook India

Radar (Argentinien), 28.12.2003

Was lesen die Argentinier heute?, Teil 2: Kurz vor Weihnachten präsentierte N, die Kulturbeilage der Tageszeitung Clarin, die aus argentinischer Sicht 100 wichtigsten Bücher des Jahres (Perlentaucher berichtete), nun ist Radar - oder vielmehr Radarlibros - an der Reihe, die Beilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12: "Los libros del ano". Mit berechtigtem Stolz verweist die Redaktion von Radarlibros auch auf die zahlreichen in diesem Jahr erschienenen Publikationen ihrer Mitabeiter, zu denen u. a. der Schriftsteller und Kritiker Alan Pauls gehört, dessen Roman "El pasado" dieses Jahr mit einem der angesehensten spanischen Literaturpreise, dem Premio Herralde ausgezeichnet wurde, oder Rodrigo Fresan, dessen neuester Roman "Jardines de Kensington" einer der Geheimtipps der diesjährigen Frankfurter Buchmesse war.

Not macht erfinderisch: Zur "verlegerischen Unternehmung des Jahres" wählten die Redakteure von Radarlibros das Projekt "Eloisa cartonera" (s. a. hier), für das drei junge argentinische Schriftsteller verantwortlich zeichnen: Originalausgaben von Kultautoren wie Cesar Aira, jeder (Papp)Einband ein Unikat - eigenhändig gestaltet und signiert von einem Brüderpaar, das seinen Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Pappe und Altpapier bestreitet und dabei mit den Gründern von "Eloisa cartonera" ins Geschäft kam. Eine Auswahl der Titel war bereits im Goethe Institut von Buenos Aires zu sehen. Felicisimo 2004 allen Büchermachern jenseits wie diesseits des Oceano Atlantico!
Archiv: Radar

New York Times (USA), 28.12.2003

James Joyce, soll ein französischer Journalist einmal gesagt haben, wird einmal nur noch als Vater seiner Tochter Lucia bekannt sein. So ist es nicht gekommen, aber immerhin hat Carol Loeb Shloss der talentierten und glücklosen Lucia Joyce eine gleichnamige Biografie gewidmet. Hermione Lee hält das Unterfangen an sich für anerkennenswert, die Umsetzung ist ihr aber oft zu subjektiv-spekulativ und ganz auf die Preisung der vergessenen Tochter ausgerichtet. "Die einzigen Charaktere, die ungeschoren davongekommen und Lucia, die völlig romantisiert wird (wir hören nicht viel über ihren schiefen Blick - na ja - und ihr haariges Kinn), und - überhaupt - Joyce. Dies ist keine Geschichte über den Missbrauch eines Kindes sondern über Liebe und kreative Intimität. Und selbst wenn Sie, wie ich, Shloss' festen Glauben, dass Lucia das andere Ich ihres Vaters war, nicht teilen, werden Sie doch auf ihre Gegenwart aufmerksam, wenn Sie etwa 'Finnegans Wake' lesen - eine pathetische, durchsichtige Figur, die durch die Seiten des Buchs ihres Vaters huscht."

Warum der famose Sammy Davis Jr. (mehr) im Gegensatz etwa zu Frank Sinatra postum überhaupt nicht mehr präsent ist, versteht Gary Giddins dank zweier Biografien (Leseprobe 1, Leseprobe 2) über den großen Entertainer jetzt besser - "die eine blümerant und herausfordernd, die andere trocken und bewundernd".

Aus den weiteren Besprechungen: Stephen Prothero untersucht in seinem Buch "American Jesus", wie Jesus zu einem so schillernden amerikanischen Nationalsymbol werden konnte, und Michael Massing findet das recht anregend. Wenn Außerirdische sich mit Hilfe der beiden Kurzgeschichtensammlungen von Richard Bausch (Leseprobe) und Ron Carlson ein Bild machen müssten vom amerikanischen Mann, würden sie denken, "er wäre verträumt, gepeinigt von seinen Fehlern und reuevoll ob seiner Isolation", schreibt Sven Birkerts etwas pikiert. Schließlich darf Elisabeth Robinsons Roman mit dem schönen Titel "The True and Outstanding Adventures of the Hunt Sisters" nicht unerwähnt bleiben, wegen des Titels, des Lächelns der Autorin und des Lobs von Emily Nussbaum.

Das New York Times Magazine erinnert an bemerkenswerte Leben, die 2003 endeten. Dazu gehören Sergio Vieira de Mello, die größte Hoffnung der Vereinten Nationen, der in Bagdad starb, Edward Said, der Countrysänger Johnny Paycheck und "der deutsche James Dean" Horst Buchholz.
Archiv: New York Times