Heute in den Feuilletons

Picard spielen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2013. Die Welt stellt neue Zeichensysteme aus Japan vor. In der taz kommt die Sprachlosigkeit der Grünen in der Pädophilie-Debatte nun doch zur Sprache. Laut FAZ enthüllt die Pinakothek der Moderne, woher die Abstraktion in der Kunst wirklich kommt: von den Teppichen aus dem Orient. Foreign Policy erzählt, wie NSA-General Keith Alexander die Politiker von ihrer Relevanz überzeugt. Und im Guardian sucht sich Jonathan Franzen ausgerechnet Karl Kraus als Mentor für seine Modernekritik.

Welt, 16.09.2013


Andrea Hanna Hünniger stellt Emoji vor, ein aus Japan stammendes Zeichensystem mit 722 Symbolen, das sich gerade in Kurznachrichten und E-Mails ausbreitet: "Man setzt die an sich erratischen Bilder in eine Beziehung, deren Sinn auf der Hand liegt. Lächelnder Smiley plus Hochhaus heißt 'Bin zu Hause' oder 'Habe einen Superausblick'. Die Kommunikation ist grob genug, um die genaue Bedeutung im Vagen zu halten. Der Benutzer hat nie das Gefühl, sich festzulegen, denn die Bilder lassen Schlupflöcher. Tagesabläufe kann man mit Emoji innerhalb von Sekunden erzählen. Die Existenz lässt sich so wunderbar vereinfachen und vereinheitlichen: So groß sind die Unterschiede im Dasein und bei den Bedürfnissen im echten Leben ja auch nicht mehr."

Weiteres: Peter Gabriel - demnächst wieder auf Tournee - spricht im Interview über den Tod seines Vaters, die NSA und über Angela Merkel, die besser abgewählt werden sollte. Uwe Schmitt war beim Grönemeyer-Konzert in Washington, dass der Musiker ums Haar vergeigt hätte. Klara Obermüller berichtet über die Eröffnung der Saison im Schauspielhaus Zürich mit dem "Prozess" und "Woyzeck".

Weitere Medien, 16.09.2013

Unser tägliches NSA-Update: Laut Spiegel spioniert die NSA den internationalen Zahlungsverkehr aus: Dazu gehören Zahlungen über Kreditkarten und Swift-Daten. "Einer der Zugangswege zu den Swift-Informationen besteht den Dokumenten zufolge darin, den 'Swift-Druckerverkehr zahlreicher Banken' auszulesen. Selbst Geheimdienstler sehen die Ausspähaktionen im Weltfinanzsystem mit einer gewissen Sorge. Das geht aus einem Dokument des britischen Geheimdienstes GCHQ hervor, das sich aus rechtlicher Sicht mit 'Finanzdaten' und der eigenen Zusammenarbeit mit der NSA in diesem Feld befasst. Das Sammeln, Speichern und Teilen der 'politisch sensiblen' Daten sei ein tiefer Eingriff, schließlich handle es sich um 'Massendaten voller persönlicher Informationen', von denen 'viele nicht unsere Ziele betreffen'."

(via iO9) In einem Porträt des NSA-Generals Keith Alexander erklärt das Magazin Foreign Policy wie der Mann die amerikanischen Abgeordneten für sein unkontrolliertes gigantisches Überwachungsprogramm gewinnt: Er hat die Brücke der U.S.S. Enterprise nachgebaut und lässt die Parlamentarier im Chefsessel "Picard spielen". Jetzt haben wir wirklich alles gehört! "Als er das Army's Intelligence and Security Command führte, brachte Alexander viele seiner zukünftigen Allierten nach Fort Belvoir für eine Tour durch das Information Dominance Center. Es war von einem Hollywoodinnenarchitekten entworfen worden und bildete die Brücke des Raumschiffs Enterprise aus der Serie Star Trek nach. Komplett mit Chrompaneelen, Computerstationen, einem riesigen Bildschirm an der Stirnseite und Türen, die mit einem 'whoosh' öffneten und schlossen. Gesetzgeber und wichtige Regierungsvertreter setzten sich in den ledernen Sessel des Captains in der Mitte des Raums und beobachteten, wie Alexander, ein Sci-Fi-Liebhaber, seine Datenwerkzeuge auf dem großen Bildschirm vorführte. 'Jeder wollte wenigstens einmal in diesem Stuhl sitzen und Picard spielen', erklärt ein pensionierter Offizier, der die VIPs betreute."

In Mother Jones erklärt Josh Harkinson, wie die NSA Googledaten ausspioniert: mittels MITM-Attacken. "According to the document, NSA employees log into an internet router - most likely one used by an internet service provider or a backbone network. (It's not clear whether this was done with the permission or knowledge of the router's owner.) Once logged in, the NSA redirects the 'target traffic' to an 'MITM,' a site that acts as a stealthy intermediary, harvesting communications before forwarding them to their intended destination. The brilliance of an MITM attack is that it defeats encryption without actually needing to crack any code. If you visit an impostor version of your bank's website, for example, the NSA could harvest your login and password, use that information to establish a secure connection with your real bank, and feed you the resulting account information - all without you knowing."

NZZ, 16.09.2013

Sieglinde Geisel erzählt die Geschichte des Ausstellungshauses C/O Berlin, das Ende des Monats aus dem glamourösen Osten in den etwas verschlafenen Westen der Stadt ziehen wird. Eigentlich doch ganz charmant findet Barbara Villiger Heilig Stefan Puchers trashige "Woyzeck"-Inszenierung im Zürcher Schiffbau. Unter Berücksichtung von Habsburgerreich und Nato umreißt der britische Ex-Diplomat Robert Cooper die historische und weltpolitische Lage der Europäischen Union.

Weitere Medien, 16.09.2013

Jonathan Franzen sucht sich in einem großen Essay im Guardian ausgerechnet Karl Kraus als Mentor für seine kulturkonservativen Reflexe aus, allerdings waren bei Kraus noch die Zeitungen das Internet: "For Kraus, the infernal thing about newspapers was their fraudulent coupling of Enlightenment ideals with a relentless pursuit of profit and power. With technoconsumerism, a humanist rhetoric of 'empowerment' and 'creativity' and 'freedom" and 'connection' and 'democracy' abets the frank monopolism of the techno-titans; the new infernal machine seems increasingly to obey nothing but its own developmental logic." (Einen informativen Artikel über Daniel Kehlmann, Jonathan Franzen und Karl Kraus gab's schon vor vier Jahren im Schwäbischen Tagblatt.)

Aus den Blogs, 16.09.2013

Montagsblues von Albert King:



Klingt irgendwie wie ein Romantitel, ist aber in Indien: Dezeen besucht ein "Dark concrete holiday home on a rocky hillside".

Die Website von Monopol führt in die beginnende Art Week von Berlin ein.

Für Martin Weigert auf Netzwertig ist Google+ auch zwei Jahre nach der Gründung ein Flop.
Stichwörter: Berlin, Dezeen, Monopole, Art Week

TAZ, 16.09.2013

Auf der Medienseite berichtet Gemma Pörzgen, dass nun auch das Handelsblatt seinen Korrespondenten aus Moskau abzieht - und damit voll im Trend liegt: "So spart die Zeit die Korrespondentenstelle in Moskau ein und glaubt die Berichterstattung von Hamburg aus abdecken zu können. Auch die Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kerstin Holm, die Michaels Ludwigs politische Korrespondententätigkeit kenntnisreich ergänzte, wurde Ende August nach 20 Jahren abgezogen und nicht mehr ersetzt."

Der Parteienforscher Franz Walter, von den Grünen beauftragt, ihre pädosexuellen Verirrungen in der Vergangenheit zu erforschen, kritisiert in einem ersten Zwischenfazit die Sprachlosigkeit der grünen Parteiführung zu dem Thema: "Sie legt einen gravierenden Verlust des zuvor so strotzenden Selbstbewusstseins offen - gerade in der moralischen Hybris, die Partei der Guten zu sein. Der Versuch zu erklären, zu erläutern, auch zu historisieren, wird gar nicht erst unternommen. Geeignete Zeitzeugen dafür hätte die Partei reichlich. Stattdessen hat sich bei den Grünen ein Gemisch aus Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte breitgemacht."

In der Kultur hat Daniel Bax zum Abschluss des Berliner Literaturfestivals Salman Rushdie von seiner besten Seite erlebt: "Unterhaltsam, humorvoll und auf den Punkt." Simone Kaempf bespricht Henry Purcells "King Arthur", mit dem das Schauspielhaus Dresden seinen hundertsten Geburtstag begeht.

Und Tom.

FAZ, 16.09.2013

Eine aufregende Ausstellung hat Silke Hohmann in der Pinakothek der Moderne gesehen. Sie sucht nach Korrespondenzen zwischen abstrakter Malerei und Teppichen aus dem Orient: "Die Ähnlichkeiten der geknüpften und gewebten Teppiche zur abstrakten Malerei sind verblüffend. In der Rotunde der Pinakothek der Moderne wirken die monochromen Teppiche mit ihren aquarellhaften Farbverläufen, die alle aus der Sammlung des Architekten Jürgen Adam stammen, wie Gemälde von Mark Rothko. Unregelmäßige, verschiedenfarbige Vierecke: Paul Klee. Weißer Untergrund mit schwarzen kurzen Strichen: Cy Twombly." (Bild: Ein Knüpfteppich aus Marokko)

Weitere Artikel: Paul Ingendaay resümiert noch einmal die hässlichen Intrigen gegen Gérard Mortier am Teatro Real in Madrid.

Besprochen werden Hebbels "Nibelungen" und Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" in Frankfurt (besprochen von der abgezogenen Moskau-Korrespondentin Kerstin Holm), Ausstellungen beim 5. Fotofestival in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, erste Inszenierungen in Zürich (nämlich eine Dramatisierung von Kafkas "Prozess" und "Woyzeck"), Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" bei der Ruhrtriennale (Gerhard Koch feiert Robert Wilsons Inszenierung als exemplarisch), eine Dramatisierung von "Der Meister und Margarita" in Hamburg und Bücher, darunter Gunther Geltingers Roman "Moor" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Schon am Freitag meldete das Rhein/Main-Ressort der FAZ, dass Daniel Kehlmann eine Aufführung seines Stücks "Der Mentor" im Frankfurter Fritz-Rémond-Theater schon nach zehn Minuten verließ.

Auf der Gegenwartsseite denkt der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio über das gefährdete Modell westlicher Demokratien nach. Darin der Satz: "Dass der Westen seine als universell verstandenen Werte irgendwann auf Militär und auf ein System der wuchernden Informationssammlung stützen muss, darf als Beleg für den Abstieg demokratischer Marktwirtschaften herangezogen werden."

SZ, 16.09.2013

Willi Winkler ärgert sich, dass das amerikanische Projekt Gutenberg auf Grund abweichender Urheberrechtsbestimmungen auch Klassiker der deutschen Literatur bereit hält, die in Deutschland noch gar nicht gemeinfrei sind, wodurch insbesondere der Unterricht deutscher Gymnasiallehrer erleichtert wird. Auch Franz Viohl berichtet von einem Urheberrechtsstreit: der amerikanische Mathematiker Nassim Nicholas Taleb wirft dem Luzerner Sachbuchautor Rolf Dobelli vor, "diverse Passagen aus seinen Schriften kopiert und in abgewandelter Form verwendet zu haben. Er wolle zwar 'keine juristische oder ethische Behauptung' aufstellen, so Taleb, führt auf seiner Website aber einen minutiösen Nachweis über Dobellis plagiatorische Aktivitäten".

Auf der Medienseite verabschiedet Joachim Käppner die unter Rechtsextremen populäre, nach Verbotsforderungen des Simon Wiesenthal Centers nun vom Verlag eingestellte "Landser"-Groschenheftreihe. Wobei die stramme Frontgrabenliteratur ohnehin in den letzten Zügen lag: "Wenige wollten die Hefte noch lesen, die Auflage war drastisch eingebrochen. Ihre Zeit war vorbei. Ein Verbot wäre zu viel der Ehre gewesen."

Besprochen werden eine Ausstellung über die Hudson River School im Fenimore Art Museum in Cooperstown, Edgar Wrights alkoholreiche Filmkomödie "The World's End", David Böschs am Münchner Residenztheater aufgeführte "Orest"-Inszenierung, Robert Wilsons Inszenierung von Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" in der Bochumer Jahrhunderthalle und Bücher, darunter Martin Walsers "Die Inszenierung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).