Heute in den Feuilletons

Konzeptgestützte Kulturarbeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2013. In der Welt rechnet Zafer Senocak hart mit der Regierung Erdogan ab. Der Guardian informiert über die neue Niqab-Debatte im Vereinigten Königreich. Die taz erklärt, wie die Biennale Istanbul zum Indoor-Kammerspiel wurde. Der Tagesspiegel erzählt das Drama des begabten Kindes von Alice Miller. In der FAZ feiert Evgeny Morozov Thomas Pynchons neuen Roman "Bleeding Edge". Die FAZ erzählt auch, wie die Nazis Berlins Mitte radierten. Und die SZ freut sich auf den Neu-Münchner Matthias Lilienthal.

TAZ, 17.09.2013

Ingo Arend durfte zur Biennale nach Istanbul, muss dort aber feststellen, dass die Kunst gegenüber dem Leben verblasst: "Fulya Erdemci, die Kuratorin der 13. Istanbul Biennale, war nicht zu beneiden. Die Gezi-Bewegung hatte ihr über Nacht das Thema vom 'öffentlichen Raum als politischem Forum' weggenommen. Und hatte mit ihrer atemberaubenden Ästhetik die Kunst in den Schatten gestellt. Monatelang musste Erdemci einen Zweifrontenkrieg führen. Gegen die Aktivisten, die der Biennale vorwarfen, am Tropf der Sponsoren zu hängen. Und selbst Motor des Stadtumbaus zu sein. Und sie kämpfte gegen die Behörden: Weil die ihr nicht erlaubten, an den brisanten Stadtzonen wie dem Gezipark auszustellen, schrumpfte Erdemci ihre Biennale schließlich zum Indoor-Kammerspiel." (Bild: Halil Altındere, "Guard", 2012)

Brigitte Werneburg erklärt Sinn und Zweck der Berlin Art Week: "Die Berlin Art Week als eine - nicht wirklich teure - Wirtschaftsförderungs-maßnahme wurde durch eine Untersuchung angestoßen, die der Landesverband der Berliner Galerien LVBG letztes Jahr erhob und die besagte, dass der Umsatz der Berliner Galerien nach dem Ende der hauptstädtischen Kunstmesse Art Forum um 40 Prozent eingebrochen war."

Außerdem: Schon nach einer Woche wieder in Berlin vermisst Julia Große britische Manierismen und auch den Hang zu Pop, Glamour und Maskerade. Besprochen wird Louis-Benoît Picards Komödie "Der Parasit" am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Und Tom.

Welt, 17.09.2013

Im Forum geht Zafer Senocak hart mit der Regierung Erdogan ins Gericht: "Die Probleme der türkischen Demokratie sind bekannt und liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Die Gründe, warum sie von dieser Regierung trotz ihrer alleinregierenden Machtfülle nicht gelöst werden konnten, sind jedoch heute neu zu bewerten. Nein, es sind nicht die Militärs und die kemalistische Bürokratie, die mehr Demokratie in der Türkei behindern. Es ist die Schranke im Kopf der Regierenden. Sie sperrt den Geist und die Vorstellungskraft vor jeglichem kritischen Denken ab. So wird aus einer konservativen Partei, die ihre Wurzeln in der islamischen Tradition hat, fast zwangsläufig eine Schule der Denkverbote."

Im Feuilleton wandert Hans-Joachim Müller über die Biennale von Lyon und fühlt sich unwohl: "Es ist ein Hin und Her in dieser Ausstellung, als blätterte man durch ein buntes Magazin und wüsste schon nach ein paar Seiten nicht mehr, was man gesehen hat." Matthias Heine nickt Matthias Lilienthal als künftigen Intendanten der Münchner Kammerspiele ab. Gerhard Gnauck schreibt den Nachruf auf den polnischen Satiriker und Bühnenautor Slawomir Mrożek.

Besprochen werden Thomas Pynchons neuer Roman "Bleeding Edge", David Böschs und John von Düffels Adaption des "Orest" im Münchner Residenztheater und die Aufführung von York Höllers Oper "Der Meister und Margarita" in Hamburg.

NZZ, 17.09.2013

Sieglinde Geisel resümiert das Berliner Literaturfestival. Uwe Justus Wenzel meint zum Streit der Erfolgsratgeber Taleb und Dobelli um mögliche Plagiate, dass beide auch nur von den Sprüchen Salomon zehren. Peter Hagmann schreibt zum Abschluss des diesjährigen Lucerne-Festivals.

Besprochen werden Lars Gustafssons Roman "Der Mann auf dem Fahrrad" und der zweite Teil von Miklós Bánffys Siebenbürger Geschichte "Verschwundene Schätze" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 17.09.2013

Nachdem ein britischer Richter geurteilt hat, dass eine Frau, über die er urteilen soll, bei ihrer Aussage ihren Gesichtsschleier abnehmen muss, tobt auch in Großbritannienn eine Burqa- (beziehungsweise Niqab-) Debatte. Nun hat auch eine Schule, die die Burqa verboten hatte, ihre Entscheidung rückgängig gemacht, berichtet Kira Cochrane in einem Hintergrundartikel im Guardian: "This decision, at a college where a large proportion of students are Asian, prompted a huge social media campaign, including a petition signed by 9,000 people, and plans for a demonstration. The college decided to reverse its decision before that protest took place, a move welcomed by Birmingham Ladywood Labour MP Shabana Mahmood, who said otherwise 'a group of women ... would have potentially been excluded from education'."
Stichwörter: Labour, Social Media, Birmingham

Tagesspiegel, 17.09.2013

Und so erging es dem Sohn von Alice Miller, deren Buch "Das Drama des begabten Kindes" alle Latzhosenträger und -trägerinnen der achtziger Jahre verschlangen, mit seiner Mutter, berichtet Caroline Fetscher nach Lektüre seiner Memoiren im Tagesspiegel: "Der Sohn, der lästige 'Bettnässer', kommt jetzt in ein Heim. Dort, auf der Halbinsel Au am Zürichsee, kaum 30 Kilometer von zu Hause entfernt, besuchen die Eltern ihn kein einziges Mal. Selbst dem ersten Schultag bleibt die Mutter fern. Wieder zurück im Elternhaus, erlebt der Achtjährige sich als fremd, als 'Ausländer', denn die Eltern sprechen polnisch untereinander, das er nicht versteht. Vom Vater wird der Junge geschlagen und zu Waschritualen gezwungen..."
Stichwörter: Miller, Alice, Mutter, Sohn

Aus den Blogs, 17.09.2013

Den Datenschutz scheint Sven Regener nicht ganz so wichtig zu nehmen wie das Urheberrecht. Auf die Frage einer Radioreporterin, was er von den NSA-Enthüllungen halte, antwortete er laut Dirk von Gehlen: "Ich würde sagen: Alle sollen sich ein bisschen entspannen. E-Mail schreiben ist wie eine Postkarte schreiben, da kann halt der Briefträger mitlesen. Und man wäre ja auch enttäuscht, wenn die Geheimdienste immer noch Briefe über Wasserdampf öffnen würden. Würde man ja auch nicht einsehen, warum die noch im Geschäft sind."

(via BoingBoing) Der in Berlin lebende amerikanische Aktivist Jacob Appelbaum (Wikileaks, Tor) versuchte dieser Tage, dem Europa-Parlament zu erklären, wie flächendeckend die Überwachung durch die Geheimdienste inzwischen ist. VikingVPN hat die Rede transkribiert: "Finally, I want to say, Privacy vs. Security is one of these points I keep hearing people touch on. I think it's absolutely critical to do away with this talking point. With all due respect, it's the wrong one. Privacy is actually a function of having security. It is not the case that we will have privacy by having no privacy. That does not make sense. By having a total surveillance state, we can't say that our data is private when we have things like LoveInt. For those of you not familiar, this is the NSA term for surveilling your love interests. It's so frequent that they have a term for it, like SigInt. signals intelligence - love intelligence. It's sounds funny, but it's not if you've ever had somebody do something like that to you.

Appelbaums volle Rede kann man auf Youtube hören:



FAZ, 17.09.2013

Internetkritiker Evgeny Morozov findet Rückendeckung in Thomas Pynchons neuem Roman "Bleeding Edge": "Wer sich durch die aktuelle Snowden-Affäre traumatisiert fühlt, wäre gut beraten, in diesem Roman nach Katharsis zu suchen", schreibt er. Und es kann ihn "kaum überraschen, wenn Pynchon... entschieden für Anonymität und Unsichtbarkeit eintritt - zur Hölle mit Google und der NSA! -, weil sie unentbehrliche Elemente dieser alternativen, wohltuend verschrobenen und heterotopen Postmoderne darstellen; einer Postmoderne, die unter dem Druck des Informationskapitalismus und des globalen Kriegs gegen den Terrorismus ins Wanken geraten ist."

Gerwin Zohlen verweist auf die Ausstellung "Geraubte Mitte" im Berliner Stadt-Museum, die die Geschichte der "Arisierungen" von Immobilien in Berlins eigentlicher Mitte erzählt - einer gähnenden Leere zwischen Schloss und Alexanderplatz, wo heute offiziell die Weiten Osteuropas beginnen. Es handelt sich um den "größten staatlichen Immobilienraubzug an der jüdischen Bevölkerung, von dem die neuere Geschichte weiß, durchgeführt in den dreißiger Jahren im Rahmen einer konzertierten Aktion des Deutschen Reichs und des Berliner Magistrats."

Weitere Artikel: Computerwissenschaftler David Gelernter wendet sich gegen den Funktionalismus der Hirnforscher, die dem Menschen jeden Subjektivismus austreiben wollen ("Viele Philosophen und Wissenschaftler glauben, der Verstand arbeite wie ein Computer. Niemand weiß, wie man es schaffen könnte, dass ein Computer etwas fühlt.") Patrick Bahners deutet die amerikanische Syrien-Politik. Andreas Kilb und Tobias Rüther unterhalten sich mit Peer Steinbrücks theoretischem Staatskulturminister Oliver Scheytt ("Mein Zauberwort heißt konzeptgestützte Kulturarbeit.") Jan Brachmann beobachtete den Abschied Nike Wagners von ihrem Weimarer Kunstfest "Pèlerinages".

Besprochen werden Brittens "Sommernachtstraum" in Berlin, die Ausstellung "Leben mit Pop - Eine Reproduktion des kapitalistischen Realismus" in Düsseldorf, die sich mit der Tatsache beschäftigt, dass in der Kunst gerade die schärfsten Kritiker des Marktes am besten gehen, eine CD mit Kompositionen von René Leibowitz und Bücher darunter eine (nur auf Englisch erschienene) Reportage Harel Shapiras über Milizen an der us-mexikanischen Grenze (Auszug).

SZ, 17.09.2013

"Diese Berufung ist ein Knaller", jubelt Christine Dössel nach Bekanntwerden der Nachricht, dass Matthias Lilienthal ab 2015 den Münchner Kammerspielen als Intendant vorstehen wird. Gottfried Knapp erlebt in der neu präsentierten Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie ein "Erweckungswunder". Rudolf Neumaier verabschiedet den scheidenden bayrischen Kulturminister Wolfgang Heubisch (FDP) aufs Unterwältigste: "Heubisch kam, sah und ging wieder. Fazit: Ja mei."

Auf der Medienseite berichtet Johannes Boie von der interessanten Art der Marktforschung des amerikanischen Video-on-Demand-Anbieters Netflix, der dieser Tage auch in den Niederlanden an den Start geht: "Man schaue genau, welche Filme und Serien viel illegal runtergeladen würden - um genau diese Inhalte dann einzukaufen und den Nutzern gegen Geld anzubieten."

Besprochen werden eine Aufführung von Willibald Glucks Oper "Alceste" in Paris, Ibsens "Frau vom Meer" am Wiener Burgtheater, Ari Folmans Science-Fiction-Animationsfilm "The Congress", die Ausstellung "Textile Architektur" im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg, Janelle Monáes neues Album "The Electric Lady" und Bücher, darunter Derf Backderfs Comic über den Serienmörder Jeffrey Dahmer (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).