Heute in den Feuilletons

Sei wie der Kuckuck im Juni

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2013. Bei Spiegel Online wirft Sascha Lobo der Telekom vor, am 2. Mai die Netzneutralität abschaffen zu wollen. Dann ist es auch mit dem anonymen Surfen vorbei, warnt Malte Spitz von den Grünen auf zeit.de. In der Welt kann Ioan Holender genau erklären, warum bekannte Opernsänger heute mehr Allüren haben denn je. Der Tagesspiegel macht sich ernste Sorgen um das deutsche Kino. In der FAZ erzählt der Biograf Charles Moore, was er an Margaret Thatcher mochte. Die Washington Post erinnert an den Aufstieg des amerikanischen Romans. Die SZ resümiert italienische Diskussionen über Primo Levi, der als Partisan an der Exekution von Kameraden teilnahm.

Weitere Medien, 24.04.2013

Die Telekom will ab 2. Mai die DSL-Flatrate abschaffen. Wer kein Zusatzpaket bucht, wird dann nach Verbrauch seines Grundvolumens auf 384 Kilobit pro Sekunde gedrosselt. Streaming, Spracherkennung: ade. "Kastriertes Internet", nennt es Sascha Lobo auf Spiegel online. "Dabei handelt es sich nicht bloß um eine neue Kundenzumutung in einem nicht eben zumutungsarmen Bereich. Sondern um ein Großpolitikum der digitalen Infrastruktur, ein Menetekel der Netzgesellschaft, ein Angriff auf das Internet selbst. Denn die Telekom verabschiedet sich - auch, wenn sie das vermutlich mit wolkigen Definitionsumdeutungen bestreiten würde - mit der Drosselung en passant vom Prinzip der Netzneutralität."

Auf Zeit online sieht Malte Spitz von den Grünen das ebenso: Die Telekom wolle zusätzliche Angebote als managed services verkaufen. Dazu gehöre die Bevorzugung des eigenen Mediendienstes Entertain. Weiter sollen Inhalteanbieter wie der Streamingdienst Spotify zahlen und drittens der Nutzer, der künftig in "Qualitätsklassen" investieren muss. Anonym surfen ist dann übrigens auch nicht mehr: "Denn um vom Datenvolumen ausgenommen zu werden, muss die Telekom wissen, wer welche Dienste nutzt. Die angekündigte Tarifänderung drosselt also nicht nur einige Heavy-User. Die Tarifänderung ist der Versuch, den lange gehegten Plan von René Obermann umzusetzen, alle zur Kasse zu bitten: Kunden, Plattformbetreiber und Inhalteanbieter. Das ist das Ende der Netzneutralität: Eine Bevorzugung bestimmter Inhalte wird zwingend dazu führen, dass andere Angebote benachteiligt werden. Die einzigen, die das verhindern können, sind die Kunden."

Welt, 24.04.2013

Einen höchst interessanten Blick hinter die Bühne unseres Opernbetriebs wirft Ioan Holender, einst Direktor der Wiener Staatsoper. Er antwortet auf die Frage, warum bekannte Opernsänger immer häufiger wegen Indisposition absagen. Weil sie es sich erlauben können, launisch zu sein, meint Holender: "Festengagierte Ensemblemitglieder werden immer schlechter, gastierende Sänger immer besser bezahlt. Jeder Sänger versucht folglich, so schnell wie möglich aus einem Festvertrag wegzukommen und als Freischaffender zu wirken, um keine der sich bietenden Auftrittsmöglichkeiten zu versäumen. An einem organischen, langfristigen, gefestigten Aufbau seiner Existenz und am Erlernen eines für seine Stimme vorteilhaften Repertoires ist weder der Sänger noch dessen Arbeitgeber - sprich der Intendant - interessiert." Ein weiteres Problem ist, so Holender (der hier auf seinen Artikel von Kai Luehrs-Kaiser antwortet), dass es keine ernst zu nehmende Musikkritik mehr gebe.

Weitere Artikel: Michael Pilz schreibt zum Tod des Folksängers Richie Havens. Jan Küveler gibt einige Tipps für mögliche Pophits des kommenden Sommers. Alan Posener erklärt, was ein Kavaliersdelikt eigentlich ist.

Besprochen wird die Ausstellung "Uruk - 5000 Jahre Megacity" im Pergamonmuseum, eine Ausstellung der Malerin Jay DeFeo im New Yorker Whitney Museum und eine Biografie über Horst Buchholz.

TAZ, 24.04.2013

York Schaefer berichtet vom Bremer Festival "Jazzahead", das sich diesmal der Musik aus Israel widmete. In der Berliner Ausgabe würdigt Claudia Lenssen die Filmkritikerin Frieda Grafe, deren 30 Lieblingsfilme in einer Reihe des Kinos Arsenal gezeigt werden. Besprochen werden Steven Soderberghs Pharma-Thriller "Side Effects" und Gastauftritte der irischen Company Fabulous Beast auf dem Movimentos Festival in Wolfsburg. Und Tom.

Aus den Blogs, 24.04.2013

Je mehr man liest, desto amerikanischer kommt einem der Boston-Attentäter Tamerlan Zarnajew vor. Laut AP soll der ältere der beiden Brüder ein Fan der Verschwörungswebseite Infowars von Alex Jones gewesen sein, einem texanischen Radiomoderator, meldet Gawker. Jones hatte unmittelbar nach dem Anschlag von einer "'false flag' attack" gesprochen. Der Anschlag sei von der Regierung geplant gewesen, um "uns unsere Bürgerrechte zu nehmen". Ein Irrer? Offenbar ist auch die republikanische Abgeordnete Stella Tremblay eine eifrige Leserin von Infowars, so Gawker, und ebenfalls der Ansicht, das Attentat sei von der Regierung geplant gewesen.
Stichwörter: AP, Boston, Bürgerrechte, Gawker

NZZ, 24.04.2013

Am 30 April dankt die niederländische König Beatrix ab. Nach ihren dreiundreißig Jahren auf dem Thron hat auch der Schriftsteller Adriaan van Dis seinen Frieden mit der selbstbewussten Monarchin gemacht: "Beatrix bestand auf 'Majestät'. Und frisierte sich entsprechend: Ihr Haarhelm wurde ihre Krone. Vor allem zu Beginn ihrer Regentschaft, in den turbulenten achtziger Jahren, die in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Demokratisierung waren, entschied sie sich für mehr Distanz, für mehr Mysterium. Beatrix suchte keine Vertraulichkeit, sondern Niveau. Eingedenk des Ratschlags, den Shakespeare in 'Heinrich IV.' seinem Thronfolger mitgibt: Meide vulgäre Gesellschaft, halte dir dein Aussehen frisch und neu. Sei wie der Kuckuck im Juni, gehört und voll Bewunderung erblickt."

Weiteres: Marion Löhndorf hat in London die ersten von Thomas Heatherwick entworfenen neuen Doppeldeckerbusse gesichtet. Besprochen werden unter anderem eine Inszenierung von Verdis 'Rigoletto' an der Deutsche Oper Berlin, Richard Hughes' Seefahrerroman "In Bedrängnis" und Michael Sandels Überlegungen zur "Gerechtigkeit" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 24.04.2013

In der Washington Post legt Michael Dirda Liebhabern der Literatur des 19. Jahrhunderts Philip F. Guras Buch "Truth's Ragged Edge" [Leseprobe] über den Aufstieg des amerikanischen Romans ans Herz. Und schon bald werden Sie, verehrte Leser, in Bibliotheken, Buchhandlungen und im Internet auf die Jagd nach George Lippards "The Quaker City" oder Elizabeth Stoddards "The Morgesons" gehen, verspricht Dirda. Natürlich nur, wenn Sie etwas für Sex und Gewalt übrig haben. In "The Quaker City" etwa, so Dirda, "imaginiert sich George Lippard ein amerikanisches Äquivalent zum Hellfire Club. 'Die verworfensten Handlungen der großen Stammkundschaft von Monk Hall umfassen Verführung, Vergewaltigung, Inzest, Kannibalismus, Mord, Schmuggel, Raub, Trunkenheit, Opium - alles praktiziert von Philadelphias Oberschicht und beschrieben in grafischen Details."

Und für das TLS hat Ian Pindar mit großem Vergnügen Alastair Brotchies Biografie Alfred Jarrys gelesen. "Brotchie, Cheflektor der Atlas Press, die auf Avantgardeprosa spezialisiert ist, bietet informative Lektüre über Jarrys weniger bekannte Werke, von denen er viele veröffentlicht hat. ... Aber sein Hauptinteresse gilt dem Mann selbst. Tatsächlich kommt Brotchie seinem erklärten Ziel, aus Jarry 'eine glaubhafte Person zu machen' so nahe, dass ich jedem Leser die Stirn biete, der das Buch zuschlägt ohne ein Gefühl der Trauer, dass jemand der so selten und unweltlich ist ein so jämmerliches Ende gefunden hat."

Tagesspiegel, 22.04.2013

Am Wochenende werden die Filmpreise werden vergeben, in einem Überblick zur Lage des deutschen Kinos macht sich Christiane Peitz ernste Sorgen: "Warum bringt Deutschland keine Filmemacher vom Kaliber eines Michael Haneke oder Ulrich Seidl hervor, keine Dardenne-Brüder, keinen genial Verrückten wie Lars von Trier? Österreich, Belgien, Dänemark, small is beautiful in Europa: Je kleiner das Land, desto größer die Filmkunst. In der Filmnation Frankreich drehen jüngere Regisseure wie François Ozon mit den Stars aus den Zeiten der Nouvelle Vague, mit Fanny Ardant, Catherine Deneuve oder Charlotte Rampling - ein vitaler Geschichtssinn, der hierzulande nur in Fatih Akins 'Auf der anderen Seite' mit Hanna Schygulla aufflackerte. In Deutschland sind Fliehkräfte am Werk."

SZ, 24.04.2013

In seiner Autobiografie "Das periodische System" erwähnt Primo Levi kurz seine Zeit bei einer Partisanengruppe, auf der ein "hässliches Geheimnis" liege. Der Historiker Sergio Luzzatto konnte nun in seinem Buch "Partigia" belegen, dass es dabei um die Erschießung anderer Partisanen ging, und löste damit eine neue Debatte über die Integrität des Widerstands aus: "Dieses Wechselspiel von kritischer Aufarbeitung und dem Versuch revisionistischer Kreise, dem Widerstand jede moralische Überlegenheit abzusprechen, setzt sich bis heute fort, auch in der Debatte um 'Partigia'. Denn der Autor gehört keineswegs zu den Verächtern des Widerstands, er verehrt Primo Levi. Die Widerstandszeit 'ohne Vorurteile zu dekonstruieren', bedeute noch lange nicht, 'sie zu liquidieren' - heißt es in dem Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore... Aber dass ausgerechnet Primo Levi an der Partisanenjustiz beteiligt war, hat doch viele seiner Leser und Bewunderer einen Stich im Herzen spüren lassen."

"Da geht einer, der noch voll da ist", schreibt ein sehr betrübter Tobias Kniebe nach Steven Soderberghs hochheiligem Versprechen, sich nach dem diese Woche anlaufenden "Side Effects" (unsere Berlinale-Kritik) wenn schon nicht vom Filmemachen - für HBO hat er gerade einen Fernsehfilm fertiggedreht - , so doch vom Kino zu verabschieden. "Das französische Ideal des Auteurs, des rundum selbstbestimmten Filmemachers, hat er zutiefst verinnerlicht - und gerade deshalb muss es ihn schmerzen, dass die Filme, bei denen er ganz Künstler sein will, selbst wohlmeinende Kritiker oft ratlos zurücklassen - wie zuletzt 'Bubble' von 2005." Ergänzend dazu der Hinweis auf dieses ausführliche Gespräch mit Steven Soderbergh über dessen Abschied von Hollywood.

Außerdem: "Ein technisch durchdachtes Fest für alle entwickelten Sinne", meint Cathrin Kahlweit nach dem Besuch des restaurierten Stadtpalais Liechtenstein in Wien. Volker Breidecker berichtet von der Frühjahrstagung der Mainzer Akademie. Andrian Kreye verabschiedet sich von dem Folk-Sänger Richie Havens. In Woodstock sang er für die Freiheit:



Besprochen werden die große Federico-Barocci-Ausstellung in der National Gallery in London und Bücher, darunter Heinz Strunks Roman "Junge rettet Freund aus Teich" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 24.04.2013

Thatcher-Biograf Charles Moore erzählt im Interview, was er an Margaret Thatcher mochte: "Es gibt eine besondere Art von männlicher Eitelkeit, von der sie frei war. Natürlich war sie egozentrisch. Sie glaubte, gewissermaßen die Welt gerettet zu haben, und das spricht für große Egozentrik. Aber im Kleinen war sie es nicht. Ein Mann in ihrer Position hätte einem immer erzählen wollen, wie er seinen Rivalen übertrumpft habe oder wie klug er sei. So hat sie nicht gedacht. Das war eine große Erleichterung für mich." (Mehr über die gerade erschienene Biografie im Tagesspiegel)

Weitere Artikel: Nils Minkmar warnt angesichts der Steuerbetrüger Uli Hoeneß und Jérôme Cahuzac vor einer Revolution. In Frankreich ist die Atmosphäre bereits derart explosiv, berichtet Olivier Guez, dass er sich an 1848 erinnert fühle. Suhrkamp verliert einen weiteren Prozess und muss Hans Barlach nun vollen Einblick in die Geschäftsunterlagen geben, meldet Sandra Kegel. Andreas Kilb kann Steven Soderberghs Abschied vom Film nicht ernst nehmen. Wenig Sympathie hat Regina Mönch für die Art, wie Sachsen-Anhalts Wissenschaftsministerin Birgitta Wolff von Ministerpräsident Reiner Haseloff gefeuert wurde (mehr hier). Laut Buchreport werfen Buchhändler der Post vor, Amazon beim Versand bevorzugt zu behandeln, ohne das jedoch belegen zu können, meldet Jan Wiele. Für Dirk Schümer ist die sich abzeichnende Bildung einer Großkoalition in Italien genau jene "Schmierenintrige", die man unbedingt hätte vermeiden sollen. Andreas Platthaus berichtet über einen Brand in den Lagerhallen des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels (mehr dazu im Börsenblatt). Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des amerikanischen Folksängers Richie Havens. Kerstin Holm informiert über den Familienhintergrund der Brüder Zarnajew (mehr dazu im Guardian). Marleen Stoessel stellt die "Heilige Familie" des Malers Aert de Gelder (1645 bis 1727) in der Berliner Gemäldegalerie vor. Für die Medienseite besucht Lisa Schnell den Reporter Gerd Heidemann, der die gefälschten Hitler-Tagebücher veröffentlichte und dafür heute vom Sozialamt leben muss.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung des "Rigoletto" an der Deutschen Oper Berlin, Terence Kohlers Choreographie "Helden" für das Bayerische Staatsballett und Bücher, darunter Navid Kermanis Reportageband "Ausnahmezustand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).