Heute in den Feuilletons

Großer Mythen-Rührquark

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2012. In Glanz & Elend wirft Hermann-Hesse-Lektor Volker Michels Marcel Reich-Ranicki vor, dass er Hesses Ruf nachhaltig habe schädigen wollen. Ist denn wirklich nichts ernst?, fragt die taz nach einem Welt-Artikel über Jonathan Meese. Matthias Küntzel macht in einerm Perlentaucher-Artikel antisemitische Töne in der Debatte um Beschneidung aus. Die FR berichtet vom sogenannten Prozess gegen Pussy Riot. In der Zeit ruft Jonathan Zittrain nach wütenden Nerds gegen Apple. Und Punk lebt jetzt Dänemark.

Aus den Blogs, 09.08.2012

Hermann-Hesse-Herausgeber Volker Michels fragt sich auf dem Literaturblog Glanz & Elend, warum Marcel Reich-Ranicki Hesse eigentlich so hasste und vermutet, das es daran liegt, dass Hesse ganz ohne sein Zutun Erfolg bei der Jugend hatte. Michels behauptet auch, dass MRR über Jahre hinweg FAZ- und externe Kollegen angestiftet habe, schlecht über Hesse zu schreiben: "So konnte sich aus dem Olymp von Deutschlands tonangebender Zeitung sein Affekt gegen Hesse im Lauf der Jahre zu einem Virus entwickeln, der nicht nur unsere gesamte Medienlandschaft, sondern leider auch die Universitäten der deutschsprachigen Länder infizierte."

Ein "klassisches Interview" mit Tom Waits aus dem Jahr 1979 (und zwar mit einem australischen Fernsehsender) präsentiert Open Culture:


TAZ, 09.08.2012

Jörg Sundermeier kommentiert Jan Küvelers Ausführungen über Demokratiehass und Faschismusliebe des nach Bayreuth eingeladenen Künstlers Jonathan Meese in der gestrigen Ausgabe der Welt. "Das Problem der aktuellen Kulturbetrachtungsmaschinerie zeigt sich hier ganz: Man nimmt nichts ernst, man hält alles für Ironie. Man will nicht sehen, was man sieht. Man will etwas in ein Werk hineindeuten, weil man nicht glauben mag, dass das Reaktionäre plump ist. Darüber wird man schließlich ganz verrückt."

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh zieht Halbzeitbilanz beim Filmfestival Locarno, dessen Wettbewerb sich in diesem Jahr weit in Richtung experimentelle Formate bewegt hat. Caterina von Wedemeyer berichtet im zweiten Teil ihres Sprinter-Überführungsprojekts nach Kirgistan über den "Tag der Fallschirmjäger" in Wolgograd und eine Sowchose kurz vor der kasachischen Grenze.

Besprochen wird die Ausstellung "Rasterfahndung" im Kunstmuseum Stuttgart, die laut Dietrich Heißenbüttel zeigt, wie "hartnäckig und zeitaufwändig" Künstler Ordnungssysteme entwerfen und dekonstruieren.

Und Tom.

Perlentaucher, 09.08.2012

Matthias Küntzel nimmt in der Debatte um Beschneidung antisemitische Töne wahr: "Indem die Richter die Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen zum Anlass nahmen, um auch die jüdische Säuglingsbeschneidung für verfassungswidrig zu erklären, sprengten sie nicht nur das Sicherheitsventil, das die Juden in Deutschland seit 1945 vor antisemitischem Rassismus und der Kriminalisierung ihrer Religion schützte. Sie lösten zugleich eine mehr reflexhaft als reflektiert geführte Debatte aus, in der das Unbewusste seine Spielchen treibt. Es ist bemerkenswert, dass gerade die sich als 'progressiv' verstehenden Verfechter des Kölner Urteils dies nicht sehen."

Weitere Medien, 09.08.2012

Bei Pitchfork stellt Jenn Pelly die dänische Punkband Lower vor: "Lower's debut 'Walk on Heads' EP, originally released by the Danish label Escho and due Stateside in September via Blind Prophet, is a promising first listen, but it's with repeat plays that Toubro's lyrical ambition reveals itself. His gray, melodic lines muse on crushing lethargy and personal stagnation, adding substance to the band's repertoire. I first heard about Lower when the frontman for fellow Danish punks Iceage, Elias Bender Rønnenfelt, mentioned them in an interview with The New York Times - 'It was almost annoying they could be so good,' he said of their first gig - which makes sense considering how inbred the Copenhagen scene can be. Along with Iceage and Lower, there's Sexdrome (in which Rothstein drums), VÅR (featuring Emdal on synth), Girlseeker, Skur, Hand of Dust, Redflesh, Dogmatist, Sejr, Pagan Youth, and Jackman, among others." Im anschließenden Interview sprechen Sänger Adrian Toubro und Drummer Anton Rothstein über ihre Musik und Toubro erklärt, warum er später Diplomat werden wird.

Außerdem: ein Interview mit David Lynch anlässlich der Neuausgabe des Soundtracks von 'Eraserhead'.

Freitag, 09.08.2012

Christine Käppeler hat eine gute Nachricht: "Das New Museum in New York hat auf seiner Webseite eine neue Ausstellungsreihe gestartet. Unter dem Titel First Look wird hier fortan jeden Monat ein digitales Werk vorgestellt. Als erstes renommiertes Haus für internationale Gegenwartskunst gibt es damit die Losung 'online only' aus: Die Werke dieser Reihe gibt es nur im Internet zu sehen, und sie funktionieren auch ausschließlich im Netz." Und dann die schwerwiegende Frage: "Aber kann eine Webseite mehr als eine virtuelle Spielerei sein?"

FR/Berliner, 09.08.2012

Christian Esch berichtet vom gestrigen letzten Prozesstag gegen Pussy Riot, an dem die drei Angeklagten ihre Schlussworte lasen: "Es tritt als nächstes die Angeklagte Maria Aljochina auf, jung und blond und engelhaft. Ihre Rede ist klar und klug. Das Gefängnis, sagt sie, ist ein Abbild Russlands: Alles wird oben entschieden, Eigeninitiative unterdrückt. Sie zitiert aus dem berühmten Prozess gegen den Dichter Joseph Brodski 1964: Von 'sogenannten Gedichten' sprach damals der sowjetische Staatsanwalt, gelesen wurden sie nicht. So wird auch unsere Protestkunst nicht als solche betrachtet, sagt Aljochina. Unsere Bitte um Entschuldigung, die wir vorgetragen haben, hat man als 'sogenannte Entschuldigung' abgetan. Aljochina nennt auch diesen Prozess einen 'sogenannten', sie habe nichts zu fürchten: 'Denn nehmen kann man mir nur die sogenannte Freiheit, nicht die wahre, innere'."

Weitere Artikel: Ralf Schenk schreibt zum Tod des Filmregisseurs Kurt Maetzig. Judith von Sternburg schreibt zum 50. Todestag von Hermann Hesse. Besprochen werden Jay und Mark Duplass' Film "Jeff, der noch zu Hause lebt", Julie Delpys Komödie "Familientreffen mit Hindernissen" und einige lokale Ereignisse.

Welt, 09.08.2012

Zu Hermann Hesses fünfzigstem Todestag werden ein paar unbekannte Briefe des Autors veröffentlicht. Henryk Broder mokiert sich über einen Spiegel-Artikel, der politische Scharfmacher gegen Europa denunzierte. Günter Adge schreibt zum Tod des DDR-Regisseurs Kurt Maetzig.

Besprochen werden Filme, darunter Julie Delpys Komödie "Familientreffen mit Hindernissen".

Jungle World, 09.08.2012

Elke Wittich durchsucht das Netz nach unseriösen Quellen und Ressentiments in der Beschneidungsdebatte und findet sie tatsächlich: "Vorhäute, so klein sie auch sind, scheinen groß genug, um sich als Projek­tionsfläche für so ziemlich sämtliche Vorurteile, Hassgefühle und diffuse Ängste zu eignen. Bis die Penispolizei kommt."
Stichwörter: Beschneidungsdebatte

Zeit, 09.08.2012

Die Gesinnung, die den Produkten von Apple innewohnt, ist "die vielleicht letzte gültige Großideologie der Gegenwart", meint Hanno Rautenberg und sieht das Design, in dem sie sich ausdrückt - schlicht, schnörkellos, sachlich - als direkte Fortsetzung der Gesamtkunstwerk-Utopie des Bauhaus. Der Harvard-Computerwissenschaftler Jonathan Zittrain warnt im Interview davor, sich "aus Bequemlichkeit in geschlossene Systeme locken" zu lassen, schätzt den Einfluss der Konsumenten aber letztlich gering ein: "Ich fürchte, den eigentlichen Kampf müssen Softwareentwickler und Programmierer für uns ausfechten… Wir brauchen ein paar wütende Nerds."

Das Regietheater ist tot - so viel hat Christian Thielemann in Bayreuth gelernt, bekennt er im Interview. "Ich glaube, dass diese Art der Provokation der Vergangenheit angehört - und dass es gleichwohl wichtig ist für die Zukunft, sie mitbekommen zu haben. Wir müssen keine Klassiker mehr vom Sockel stürzen, die sind alle unten, wir dürfen sie heute wieder draufstellen."

Weitere Artikel: Maxim Biller erzählt von einem Treffen mit der österreichischen Autorin Vea Kaiser, deren Debütroman er "sehr gut und sehr dick" findet, "aber es fehlt ihm vielleicht das gewisse Etwas". Zum 50. Todestag von Hermann Hesse schreibt ihm Benjamin Lebert, gewissermaßen unter Jugend-Kult-Autoren, eine Huldigung. Im 5. Teil der Serie zu Nachkriegsromanen wird der Kanon um Werke von Salman Rushdie, Milan Kundera, Christa Wolf, Marguerite Duras und anderen erweitert. Der niederländische Schriftsteller Cees Noteboom spricht im Interview über die europäische Literatur der achtziger Jahre. Jonathan Fischer stellt mit der Soul Rebels Brass Band aus New Orleans ein "zeitgenössisches Laboratorium der Straßenmusik" vor (hier ein Auftritt bei Jools Holland).

Besprochen werden die Ausstellung "L'Architecture engagée" in der Münchner Pinakothek der Moderne (Utopien neigen zum Totalitären - und zum Scheitern, stellt Tobias Timm fest), die Filme "Promotheus" von Ridley Scott ("ein großer Mythen-Rührquark mit vielen abgeschmackten Zutaten aus der abendländischen Bilderbackstube", urteilt Thomas Assheuer) und "Jeff, der noch zu Hause lebt" von den Brüdern Duplass ("stark schablonenhaft, doch mit erfrischend wenig Klamauk und Pathos", meint Nina Pauer) sowie Bücher, darunter Peter Sloterdijks Notizensammlung "Zeilen und Tage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Dossier geht es um den verzweifelten Kampf gegen Nashorn-Wilderei in Afrika.

FAZ, 09.08.2012

Marco Herack beobachtet eine Unterwerfung der politisch-gesellschaftlichen Sphäre unter die Bedürfnisse des Finanzmarkts, was den Parteien aber wohl gar nicht unlieb sei: "Der Finanzmarkt erscheint als dunkle Seite unseres Ichs, bei der die Bewusstseinsebene unseres Gewissens wegrationalisiert wurde. ... Die Alternativlosigkeit der Rettungsmaßnahmen für Banken und Staaten deutet darauf hin, dass unsere dunkle Seite gewinnt und alles dafür getan wird, um das fehlgeschlagene System zu retten."

Weitere Artikel: Magdalena Ebertz spricht mit dem Dramatiker Mohammad al Attar über die Situation der Künstler in Syrien. Dieter Bartetzko berichtet über Pläne zum Wiederaufbau der Dresdener Sophienkirche. Heike Schmoll resümiert die Schubertiade in Schwarzenberg. Daniel Haas berichtet vom Filmfestival in Locarno. Kerstin Holm ist entsetzt, dass in der Klosterkirche von Pskow die dringend nötigen Restaurationsarbeiten an den ältesten Fresken Russlands behindert werden. Dietmar Dath verabschiedet sich vom DDR-Filmregisseur Kurt Maetzig.

Besprochen werden Antony Hegartys neues Album "Cut the World", Julie Delpys neuer Film "Familientreffen mit Hindernissen", die Ausstellung über die Pixar Studios in der Bundeskunsthalle in Bonn und viele neue Bücher über Hermann Hesse (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Der gestern erschienene Artikel zum Urheberrecht im Wissenschaftsbetrieb von Wolfgang Marquardt steht nun online.

SZ, 09.08.2012

Nun tut doch nicht immer so, als ob das Berliner Kulturforum in Brandenburg liege, ruft Lothar Müller all jenen genervt zu, die im Museumsstreit um die Alten Meister ständig die vorgebliche Abgeschiedenheit des bisherigen Ausstellungsorts bemängeln. Schaut man aber bei Google Maps nach, kommt man auf spärliche und im übrigen, wie Müller illustriert, einen reizvollen Spaziergang in Aussicht stellende drei Kilometer zwischen bisherigem und geplantem Ausstellungsort: "Berlin renommiert gerne mit seinen Raumdimensionen wie mit seinem Metropolencharakter - nur beim Museumsstreit gibt es sich als Kleinstadt, in der man, wenn man irgendwo in der Nähe des Bode-Museums aufbricht, schon nach drei Kilometern Fußweg in einer Peripherie ankommt, an der die Alten Meister aus dem Horizont zu verschwinden drohen."

Weitere Artikel: Werner Bloch begibt sich auf Hermann Hesses Spuren im Kanton Tessin. Alexander Menden spricht mit Ridley Scott über dessen neuen Film "Prometheus". Anke Sterneborg schreibt den Nachruf auf den Regisseur und DEFA-Mitbegründer Kurt Maetzig. Karl Lippegaus gratuliert dem Jazz-Schlagzeuger Jack DeJohnette zum 70. Geburtstag, dem man hier beim knapp viertelstündigen Solo über die Schulter schauen kann:



Besprochen werden die Salzburger Puppentheater-Inszenierung von Ferdinand Raimunds "Das Mädchen aus der Feenwelt" (Ein "Desaster", "grauenhaft", schäumt Egbert Tholl), eine Ausstellung mit Arbeiten von R. H. Quaytman im Museum Abteiberg in Mönchengladbach, der Geisterfilm "Red Lights" mit Robert de Niro und zwei neue Biografien über Hermann Hesse (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).