Heute in den Feuilletons

Ehrfürchtige Zusatzattribute

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2012. In der FAZ erklärt Wolfgang Marquardt vom Wissenschaftsrat, warum man in Bibliotheken auf Papier kopieren muss, obwohl es auch dort schon das Internet gibt. In der taz rät Georg Seeßlen zur Abschaffung des Feuilletons. BoingBoing präsentiert ein bisher unbekanntes Farbfoto von Abraham Lincoln. Und nach Lektüre der Welt stellt sich die Frage: Warum darf  Evgeny Nikitin trotz Übermalung des Hakenkreuztattoos nicht in Bayreuth singen, obwohl Jonathan Meese, der "am Faschismus das Unwichtigwerden des Einzelnen" liebt, dort den "Parsifal" inszenieren darf?

TAZ, 08.08.2012

George Seeßlen denkt auf der Meinungsseite grundsätzlich über das Feuilleton nach und sieht nur eine Lösung: Schafft es ab! "Das Problem mit dem schrumpfenden Feuilletonismus liegt nun darin, dass es immer weniger Menschen sind, die gegenüber einer immer größeren ästhetischen und diskursiven Produktion entscheiden, was verhandelbar ist und was nicht. Und diese wenigen Menschen achten viel weniger darauf, was in der Welt los ist, als darauf, was die Konkurrenz macht. Aus einem ursprünglich zur Öffnung der Diskurse gedachten, lockeren und experimentellen Submedium ist ein geschlossenes selbstreferentielles und dogmatisches Instrument zum kulturpolitischen Mainstreaming geworden. Was im deutschen Feuilleton gelandet ist, ist so gut wie tot."

In der Kultur lobt Simon Rothöhler dann die viszeral-ästhetische Kraft von Ridley Scotts Alien-Prequel "Prometheus". Detlef Kuhlbrodt sieht sich nach dreißig Jahren noch einmal die Verfilmung von Hesses "Siddharta" an. Und Barbara Bollwahn trifft Erich Honeckers persönlichen Kellner.

Und Tom.

Welt, 08.08.2012

Auf der Forumsseite erinnert Roland Jahn an den vor 50 Jahren Jahren an der Mauer erschossenen Peter Fechter und die unglaublichen Rechtfertigungen für dessen Tod: "''Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um.' So kommentierte DDR-Propagandist Karl-Eduard von Schnitzler den Tod Peter Fechters. Der Zynismus der SED-Funktionäre ist schlimm, aber nicht anders zu erwarten gewesen. Schlimmer ist für mich, dass es diese Haltung auch in der ganz normalen Bevölkerung der DDR gab, wie ich erst unlängst wieder in einer Fernsehumfrage hören konnte. Da sagte einer: 'Wer sich nicht an die Regeln des Staates hielt, durfte sich nicht wundern, dass er die Folgen spürte, der war selbst schuld.'"

Im Feuilleton findet Jan Küveler Ich-Aufgabe ganz prima und beispielhaft verkörpert im hakenkreuztätowierten Sänger Evgeny Nikitin, der in Bayreuth nicht den "Fliegenden Holländer" singen durfte, und dem hitlergrüßenden Jonathan Meese, der ebendort 2016 den "Parsifal" inszenieren darf: Meeses "Hass auf die Demokratie ist ernst gemeint, genauso wie der auf die 'Ichverseuchtheit'. Am Faschismus liebt er das Unwichtigwerden des Einzelnen, sein Leben im Dienst einer höheren Sache. Das macht ihn, wie gesagt, nicht zum Nazi ... sondern bloß zu einem der wichtigsten Künstler, die in Deutschland zur Zeit herumlaufen."

Weiteres: Laura Evert besucht, gesponsort vom Kur- und Tourismusverband, den Kurort Bad Gastein. Manuel Brug schreibt zum Tod des Tänzers Richard Cragun. Besprochen werden Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, Jerôme Bel, Josef Nadj und Miguel Moreira beim Festival d'Avignon.

NZZ, 08.08.2012

Wirklich überzeugt ist Bettina Spoerri vom Wettbewerb in Locarno noch nicht (extrem unfunktional ist auch die Internetseite), sehr beeindruckend aber fand sie in der Semaine de la Critique Marc Wieses Dokumentation "Camp 14" über den Nordkoreaner Shin Dong Huyk, der 1983 in einem Straflager als Kind von zwei Gefangenen geboren wurde: "Camp 14 war für ihn die einzige Realität. Hier wurden Gefangene für Nichtigkeiten misshandelt, gedemütigt, hingerichtet. Rund 200 000 Menschen in Nordkorea, von denen viele lediglich das 'Verbrechen' begingen, dass sie ihre Regierung bei einer Erwähnung nicht mit ehrfürchtigen Zusatzattributen versahen, sind in solchen Straflagern, die eigentlich Todeslager sind, interniert."

Weiteres: Knut Henkel erzählt von bolivianischen Catcherinnen, den kämpfenden Cholitas, die als Frontfrauen der Emanzipation kultisch verehrt werden. Im Salzburger Konzertprogramm sieht Peter Hagmann wieder die Quantität über die Qualität Oberhand nehmen. Renata Sako-Hoess freut sich über den großen und überraschenden Erfolg des Autors Ján Rozner in der Slowakei. Besprochen werden Stephen Greenblatts Renaissance-Studie "Die Wende" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 08.08.2012

Bei BoingBoing ist Jamie Frevele total geschockt von diesem Foto, dass Daniel Day Lewis als Abraham Lincoln zeigt: "Honestly, I don't know how Day-Lewis does this. Every time. He completely hands his whole entire body and soul over to other people, fictional and non-fictional, and brings them to life. 'Lincoln', which is coming out November 9, will follow the country's beloved 16th president in the days leading up to his assassination." Regisseur des Films ist Steven Spielberg, das Drehbuch schrieb Tony Kushner. Mehr Infos bei Entertainement Weekly.

FR/Berliner, 08.08.2012

Patrick Schirmer-Sastre empfiehlt die Ausstellung "Lost Places" in der Hamburger Kunsthalle und präsentiert eine beeindruckende Bilderstrecke dazu, unter anderem mit diesem Foto Jörn Fanhöfens aus Spanien:


Stichwörter: Hamburger Kunsthalle

Weitere Medien, 08.08.2012

Heute soll in Moskau das Urteil gegen Pussy Riot gesprochen werden. Drei Jahre Haft hat die Staatsanwaltschaft gefordert, berichtet Miriam Elder im Guardian. "Prosecutors presented the women as dangerous feminists. "All the defendants talked about being feminists and said that is allowed in the Russian Orthodox church," said Yelena Pavlova, a lawyer for several of the nine complainants who claimed they were insulted by Pussy Riot's performance. 'This does not correspond with reality. Feminism is a mortal sin.'" Ob Madonna es rausreißen kann, die am bei ihrem Konzert am Dienstag abend in Moskau ihre Sympathie für die drei bekundete, ist allerdings fraglich.
Stichwörter: Pussy Riot

SZ, 08.08.2012

Die Verleihung des Preises "Imperiale Kultur" durch den nationalistischen und antiwestlichen Russischen Schriftstellerverband an Baschar al-Assad (der ihn für "Widerstand gegenüber westlicher Expansion und sein Durchhaltevermögen im Kampf gegen die globale Hegemonie" erhalten hat) nimmt der Slavist Konstantin Kaminskij zum Anlass, hinter die Kulissen dieses "opaken Geflechts nationalistischer, rechtspopulistischer, restaurativer, antiwestlicher und tendenziell antisemitischer Kultureliten in Russland" zu blicken: "Das sind zum einen ehemals antisowjetische, monarchistische Gruppierungen mit Verbindungen zum Rechtsextremismus und starkem Rückhalt in der orthodoxen Kirche; auf der anderen Seite Funktionäre des früheren sowjetischen Kulturapparats, die im Zuge der Verstaatlichung russischer Medien den öffentlichen Raum zurückerobern. Zarenreich und Sowjetimperium sind hier eine machtvolle ideologische Allianz eingegangen."

Weitere Artikel: Eva-Elisabeth Fischer schreibt den Nachruf auf Balletttänzer Richard Cragun, Helmut Mauró den auf den Geiger Ruggiero Ricci. Der begnadete Jazztrompeter Christian Scott erklärt Jonathan Fischer im Interview, warum ihn am Kanon orientierter Jazz langweilt. Hier eine Kostprobe seines Könnens:



Besprochen werden Ridley Scotts neuer Science-Fiction-Film "Prometheus", eine Ausstellung über Storyboards in der Versicherungskammer Bayern in München, eine Ausstellung über Widerstand in der NS-Diktatur im Haus der Geschichte in Stuttgart, Susi Webers Inszenierung von Georg Ringsgwandls "Der vareckte Hof" bei den Tiroler Volksschauspielen ("saugut gemacht", urteilt Egbert Tholl) und ein Band mit Erzählungen von Philipp Schönthaler (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 08.08.2012

Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrats, appelliert auf der Forschung-und-Lehre-Seite für eine Reform des Urheberrechts im Wissenschaftsbereich und schildert die Absurditäten der Digitalisierung im Wissenschaftsbetrieb, der durch immer monopolistischer agierende wissenschaftliche Zeitschriftenverlage behindert wird. Dem Fortschritt des Wissens nützt das nicht: "Obwohl der Gesetzgeber eine neue Regelung für den schnellen Kopienversand aus Bibliotheken in das Gesetz eingeführt hat, liefern wissenschaftliche Bibliotheken immer noch fast ausschließlich Papierkopien. Die gesetzlichen Anforderungen an den Versand von Digitalkopien sind nämlich derart komplex und realitätsfremd, dass kaum eine Bibliothek das Risiko eines Rechtsstreits eingehen möchte."

Im Feuilleton malt Paul Ingendaay in trübsten Farben die Nöte des unter Sparzwang stehenden spanischen Kulturbetriebs aus. Kerstin Holm fragt, warum ein orthodoxer Priester Putin die Hand küsste, obwohl es eigentlich umgekehrt sein müsste. Stefan Schulz wirft einen Blick auf die Zukunft der Überwachungs- und Unterhaltungstechnologien (was mehr oder weniger dasselbe ist). Wiebke Hüster schreibt zum Tod des Tänzers Richard Cragun.

Besprochen werden ein Meisterkurs und Liederabend Thomas Hampsons in Salzburg und Bücher, darunter ein vom New Yorker Kulturkorrepondent Patrick Bahners vor Ort in Augenschein genommener Lyrikband Philipp Larkins (den der Guardian im Januar als "exhaustive, awe-inspiring monument" pries).