Heute in den Feuilletons

Das Alterswerk dieser Sängerin

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2012. Mike Daisey ist kein Einzelfall. Auch David Foster Wallace hat in seinen Reportagen geschummelt, meint Gawker. Warum überhaupt Diktatoren eine Bühne geben?, fragt die Welt nach dem ZDF-Interview mit Machmud Achmadinedschad. Der "Kulturinfarkt" ist krude, aber das Thema ist wichtig, findet die NZZ. Im Freitag meint Adrienne Göhler, dass die Kulturkürzungen zunächst bei den Autoren des Manifests ansetzen sollte.

NZZ, 22.03.2012

Joachim Güntner möchte sich nicht ganz hinter die Autoren der "Kulturinfarkt"-Polemik stellen, attestiert ihnen aber, einige richtige Fragen zu stellen: "Bedauern muss man, dass ihre empirische Basis schwach und ihr Urteil bisweilen krude ist ('Je öfter ein Theaterstück ausverkauft ist, umso mehr Defizite produziert es'). Dabei stellen sie durchaus auch richtige Fragen: Haben wir nicht die Kultur, die Standortfaktor sein und soziale Integration leisten soll, mit allzu vielen fremden Aufgaben überfrachtet? Und muss man nicht wirklich dringend die Debatte über das, was erhaltenswert und förderungswürdig ist, schärfer führen?"

Weiteres: Andrea Köhler berichtet über eine Cindy Sherman Retrospektive im New Yorker Moma, Hans Christoph von Tavel hat sich die Ausstellung zu Vaclav Pozareks "Library of Sculpture" in Chur angesehen. Besprochen werden außerdem die Verfilmung von Suzanne Collins "The Hunger Games" und Bücher, darunter Davide Longos Roman "Der aufrechte Mann" und Jan Böttchers Roman "Das Lied vom Tun und Lassen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 22.03.2012

In einem hübschen Meinungsstück zu Mike Daiseys geschönt-verhässlichten Apple-Geschichten erinnert John Cook auf Gawker an zwei berühmte Reportagen von David Foster Wallace, "Shipping Out" und "Ticket to the Fair": "In both pieces-one an account of Wallace's time on a cruise ship, the other of his day at the Illinois State Fair-Wallace encounters pitch-perfect characters who speak comedically crystalline lines and place him in hilariously absurd situations. When I taught magazine writing to undergraduates at Northwestern University's Medill School of Journalism, I used both stories as examples of the inescapable temptation to shave, embellish, and invent narratives."

Peter Grabowski setzt im Kulturpolitischen Reporter einige interessante Links zur "Kulturinfarkt"-Debatte und will die Autoren nicht einfach abservieren: "Richtig bleibt aber: Angesichts von Schuldenbremse, kommunaler Finanzkrise und überlebten Institutionen haben weite Teile des Kulturbetriebes keine Zukunfts-Idee, außer einem 'Weiter so!'"

FR/Berliner, 22.03.2012

Christian Schlüter kommentiert den Sturz des Schauspielers Mike Daisy, der als Kronzeuge gegen die ausbeuterischen Bedingungen in Apples Produktionsstätten in China nun nicht mehr taugt, da sich herausstellt, dass er sie doch nicht selbst erlebt hat: "Kunst darf alles, aber sie kann nicht alles. Über die Wahrheit verfügt sie nicht nach Belieben."

Weiteres: "Erstaunlich grobschlächtig" findet Carmen Böker Madonnas neues Album "MDNA" und wird richtig böse: Madonna sehe jetzt aus wie Gwen Stefani. Sebastian Preuß fragt nach der Verteibung des Guggenheim Labs aus Kreuzberg, warum die Berliner Politik erst BMW braucht, um eine Debatte über die Zukunft der Stadt zu führen. Besprochen werden Ausstellungen zu Luther, Bach und Telemann in Eisenach, die Verfilmung von Suzanne Collins' Bestseller "Die Tribute von Panem" und Nadine Labakis Libanon-Drama "Wer weiß, wohin?".
Stichwörter: China, Libanon, Preußen, Zukunft

Welt, 22.03.2012

Das ZDF-Interview mit Mahmud Ahmadinedschad macht nach wie vor von sich reden. Was bringt es überhaupt, Diktatoren zu interviewen?, fragt Andrea Seibel auf der Forumsseite. "Die westliche Welt weiß längst, wer diese Machthaber sind. Glaubt man, im gepflegten Gespräch vor einem Blumenstrauß erführe man genau, wie sie 'ticken'? Die bloße Aufmerksamkeit mit demokratischer Kulisse ist schon Hohn."

Im Feuilleton wettert Ernst Elitz, einst Intendant des Deutschlandradios, gegen die Autoren des "Kulturinfarkts". Lucas Wiegelmann kommentiert die halbe Entmachtung der Wagner-Schwestern in Bayreuth, denen ein Verwaltungsdirektor vor die Nase gesetzt wird. Besprochen werden Filme "Die Tribute von Panem" (hier) und "Take Shelter" (hier).

Mehr ins Kultusressort schlägt eine Geschichte aus Königswinter in NRW auf den Vermischten Seiten. Die Katholische Kirche hat hat der Leiterin eines Kindergartens gekündigt, die sich von ihrem Mann getrennt hat, berichtet Christine Kensche. "Und nun hat die Stadt der Kirche gekündigt: Sie wird die Trägerschaft des Kindergartens aufgeben müssen, beschloss nun der örtliche Jugendhilfeausschuss. Eine wohl einmalige Reaktion auf kirchliche Moralvorstellungen."

TAZ, 22.03.2012

Simon Rothöhler fragt, was das BMW Guggenheim Lab, das in Kreuzberg eingerichtet werden sollte, nach Protest- und Gewaltandrohungen aber wieder abgesagt wurde, eigentlich will und soll; entgegen aller Rhetorik gehe es dabei "natürlich nicht um einen Beitrag zu einer basisdemokratischen Community-Kultur", sondern um "kalkulierte Markenpolitik, die auf globale Sichtbarkeit aus ist".

Weiteres: Simon Rothöhler beschäftigt sich mit der Bedeutung des digitalen Medienwandels auch für filmische Zeugnisse des Holocaust. Am Beispiel einer Auswahl von "Unseen Interviews" mit Tätern und Zeugen aus Claude Lanzmanns umfangreichem Archivmaterial für seinen Film "Shoah", die in Teilen jetzt auch im Netz zu sehen sind, sieht er unter anderem rezeptionsethische Fragen auftauchen. Allenfalls eine "Fingerübung" mag Susanne Messmer in der Verfilmung Isabel Kleefelds Verfilmung von Daniel Kehlmanns Roman "Ruhm" sehen. Besprochen werden außerdem die Londoner Ausstellung "Hajj - Journey to the heart of Islam" im British Museum, die etwas "naive" Tragikomödie "Wer weiß, wohin?" der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki, Garry Ross' als "sanfte Medienkritik" gelobte Verfilmung des Bestsellers "Die Tribute von Panem" und die DVD von Tobe Hoopers Splattermovie "The Texas Chainsaw Massacre" von 1974.

Und Tom.

Freitag, 22.03.2012

Wenn es schon um die Verteilung des Geldes in der Kultur geht, möchte Adrienne Goehler klarstellen, dass nicht die kleinen Theater, die Bibliotheken und freien Gruppen das Problem sind, sondern höchstens die bestens alimentierten Kulturfunktionäre, zu denen die vier Autoren des "Kulturinfarkts" selbst gehören. "Ganz unblutig ließe sich in Theatern und Opern einiges mehr bewegen, wenn die von der Politik eingesetzten Intendanten, die lange schon im Alter ordentlicher Pensionsansprüche sind, ihren Häusern als 'one-dollar-men' dienen würden und ihre Gehälter, die schon mal die des Bundespräsidenten übersteigen, künstlerischen Projekten zur Verfügung stellten."
Stichwörter: Alter, Bibliotheken

Zeit, 22.03.2012

Im Interview mit Jörg Lau und Christine Lemke-Matwey spricht Dirigent Daniel Barenboim über den Nahost-Konflikt, kulturelle Klangunterschiede und eine Männerquote für Orchester. Angesprochen auf den "Kulturinfarkt" sagt er: "Ich kenne das Buch nicht, aber die Subventionen sind nicht das Problem. Warum lernen unsere Kinder in der Schule nicht Musik, wie sie Mathematik, Geografie oder Französisch lernen? Das ist das Problem! Es gibt keine Erziehung für die Menschen, die in 20 oder 30 Jahren unser Publikum sein sollen. Wenn uns die wirklich wichtig, dann müssen wir jetzt drastisch denken und sie zur Pflicht erklären."

Weiteres: Moritz von Uslar durfte sich Madonnas neues Album "MDNA" anhören, von dem es angeblich erst ein Exemplar in Deutschland gibt und bedankt sich für dieses Privileg mit einer ganzseitigen Hymne: Gang Bang zum Beispiel hat ihm echt gut gefallen. "Sehr silly, sehr camp - ein Sound, zu düster zum Vögeln." Der Autor Peter Zilahy erzählt, wie hunderttausend Ungarn mit polnischer Unterstützung am Nationalfeiertag Viktor Orban feierten. Thomas Groß versucht sich den Erfolg des Grafen und seiner Band Unheilig zu erklären. Volker Hagedorn freut sich über zwei neue Kompositionen von Wolfgang Rihm.

Besprochen werden unter anderem das Mafia-Epos "Boardwalk Empire" auf DVD, Nicolas Stemanns Theaterrevue "Der demografische Faktor", Jeff Nichols Film "Take Shelter", die Verfilmung von Suzanne Collins Fantasy-Trilogie "Die Tribute von Panem", "Der Kulturinfarkt" und Uwe Kolbes Essays "Vinetas Archive" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 22.03.2012

"MDNA", das neue Album von Madonna, schreibt Jens-Christian Rabe, ist "etwas, das es im Pop so noch nicht gegeben hat: die Altherrenphantasie einer Dame. Eine Altdamenphantasie. Ein wehmütiger, ein etwas peinlicher, aber niemals unaufrichtiger Tagtraum. Mit 'MDNA' hat endgültig das Alterswerk dieser Sängerin begonnen." Ein "großer Wurf" ist die neue Platte musikalisch dann aber doch nicht, findet Rabe. Dem kann man sich nach diesen Vorab-Eindrücken und dem folgenden Video ohne weiteres anschließen, der Einwand, Madonna sähe gar nicht mehr aus wie Madonna, ist aber zumindest diskussionswürdig:



Weitere Artikel: Stephan Speicher und Gustav Seibt stellen beide in je kleinen Artikeln den Berlin-Kreuzberger Falckenstein-Kiez vor, der gerade wegen der Entscheidung, das "BMW Guggenheim Lab" dort wegen fremdenfeindlicher Drohungen im Vorfeld doch nicht zu errichten, ins Gerede gekommen ist. Burkhard Müller informiert, dass Dieter Wirth in der aktuellen Ausgabe des germanistischen Jahrbuchs Das Wort Rosemarie Tietzes gemeinhin gelobte Übersetzung von "Anna Karenina" stark kritisiert (hier der Artikel als pdf). Von Herzen empfiehlt Fritz Götter eine Reihe mit Filmen von Hong Sang-Soo im Filmmuseum München. Patrick Roth unterhält sich mit Nick Nolte über seinen neuen, gerade als DVD-Premiere erschienenen (und von Susan Vahabzadeh besprochenen) Film "Warrior". Michael Stallknecht ist mit Bobby McFerrins Leistungen als Dirigent beim Konzert des Münchner Rundfunkorchesters sehr unzufrieden, dankt ihm aber immerhin den Einsatz als Vokalist am Ende des Abends. Catrin Lorch erinnert an die Malerin Agnes Martin, die heute 100 Jahre alt geworden wäre. Karl Lippegaus gratuliert dem Musiker Jorge Ben zum Siebzigsten.

Im Medienteil informiert Christopher Schmidt über das umfassende Hörfunk- und Fernsehprogramm zu Ehren Martin Walsers, der seinen 85. Geburtstag feiert.

Besprochen werden Michael Schmidts Fotoserie "Lebensmittel" im Museum Morsbroich in Leverkusen, der Film "Die Tribute von Panem" und Bücher, darunter Gerbrand Bakkers "bislang bester" Roman "Der Umweg" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 22.03.2012

Soweit ganz passabel findet Dietmar Dath die neue Platte von Madonna: "Drei himmlische Nummern, drei scharf verunglückte, der Rest hält sorglos mit sich selbst mit", bilanziert der zufriedene Kunde gleich zu Beginn, um danach Arm im Arm mit einer lesbischen Berlinerin im Schwulenclub mit viel Feuilleton-Glitzerstaub um sich zu werfen. Über die Mäkeleien seiner Kollegen über Alter, Würde, Auftreten undsoweiter kann er unterdessen nur sehr zurecht die Augen verdrehen: "Nein, Stuss wie 'sie ist gealtert, der Thron steht Lady Gaga zu, Wechseljahre, Muttersorgen, et cetera' sollte man bitte erst diskutieren, wenn die nächste Bruce-Springsteen-Tournee von entsprechenden Erörterungen männlicher Altersblasenschwäche unter Stadionkonzertbedingungen begleitet wird."

Weitere Artikel: Jan Bürger besucht Ernst Augustin, der ihn im rechten Licht an einen kindlichen Buddha erinnert. Kerstin Holm hat sich in Moskau bei toller Akustik ein Konzert von Sergej Newski angehört. Hans-Jörg Rother empfiehlt die Retrospektive mit Filmen von Otar Iosseliani, die das Kino Arsenal in Berlin zeigt. Für nichts als Propaganda hält Mark Siemons derzeitige Versuche in China, den 1962 verstorbenen Soldat Lei Feng der Bevölkerung als Musterbeispiel eines "kommunistischen Äquivalents des christlichen Heiligen" wieder nahezubringen - das historische Propagandamaterial ist jedenfalls hübsch hysterische Realsatire:



Im Medienteil empfiehlt Andreas Kilb die neue HBO-Serie "Game of Thrones", eine Fantasy-Saga "aus dem Geist von Shakespeares Königsdramen", die zeitgleich auf DVD erscheint und ab morgen auf RTL2 ausgestrahlt wird.

Besprochen werden Jeff Nichols' Film "Take Shelter", dessen Wandel von der Milieustudie zum Katastrophenfilm Bert Rebhandl "mächtig, aber auch problematisch" findet, zwei Berliner Ausstellungen über Friedrich den Großen im Deutschen Historischen Museum und der Alten Nationalgalerie, eine CD mit Archivaufnahmen der Sängerin Martha Mödl und Bücher, darunter eine englischsprachige Veröffentlichung über das antike Herculaneum von Andrew Wallace-Hadrill (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).