Heute in den Feuilletons

Du bist schon wieder in der Zeitung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2011. Kann Crowdsourcing auch die Erzählweisen fiktionaler Geschichten verändern?, fragt Mashable. Die taz macht sich Gedanken über die Zukunft des Theaters. Die NZZ verliebt sich in den morbiden Charme Palermos. In der SZ meint der FDP-Politiker Helmut Schäfer, dass man sich nicht mit Vorwänden wie einem Friedensvertrag mit Israel von der Gründung eines Palästinenserstaates abhalten lassen soll. Und Ferran Adria erklärt, warum er sein Restaurant El Bulli aufgab: Der Erfolg wurde einfach unerträglich.

NZZ, 14.09.2011

Samuel Herzog hat sich in Palermo verliebt, diese von der Mafia gebeutelte Schönheit mit großem Kunstsinn, und erlaubt sich ein wenig Schwärmerei: "Es gibt nur wenige Orte auf unserem Kontinent, an denen jeder wirtschaftliche Aufschwung so spurlos vorübergegangen ist wie an Palermo. Diese Stadt, in der die Normannenkönige Roger I und II vor einem knappen Jahrtausend eine kühne Synthese aus arabischer, byzantinischer und katholischer Kultur versuchten, hat viel von jener Disparatheit und Desorganisation bewahren können, die vor zwanzig Jahren noch als 'typisch italienisch' galt."

In einem Nachruf würdigt Roman Bucheli den im Alter von achtzig Jahren verstorbenen Gründer und Leiter des Diogenes-Verlags Daniel Keel. Dessen Gespür war allerdings nicht immer untrüglich: "Über den Anwalt des gerade aus der Sowjetunion ausgewiesenen Schriftstellers Alexander Solschenizyn waren Keel die Rechte an 'Archipel Gulag' angeboten worden. Doch dem Diogenes-Verleger passte das Buch nicht ins Programm, und er lehnte dankend ab."

Weitere Artikel: Jörg Plath folgt dem Weg der Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky von der Metropole an die Randzone Europas - von London in das Banat an der ungarisch-rumänischen Grenze: "Immerhin gibt es fast vierzig Kneipen. Eine heißt 'Schöner als daheim'."

Besprochen werden der zum ersten Mal auf Deutsch erschienene Roman "Isabelle" des französischen Schriftstellers Jean Forton und Michael Martens historische Recherche "Heldensuche" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 14.09.2011

Die 6000 Jahre alten Liebenden von Valdaro werden erstmals in Mantuas Archäologischem Museum gezeigt, meldet Gawkers Margaret Hartman. Die beiden sollen noch jung gewesen sein als sie starben. Gefunden wurden die Skelette 2007 in Valdaro.

Kann Crowdsourcing - also die Einbeziehung des Publikums - auch die Erzählweisen fiktionaler Geschichten verändern?, fragt Molly Barton (mehr hier) in Mashable - und antwortet mit ja: "Crowdsourcing fundamentally alters the process of content selection - and by extension, storytelling itself - by bringing authors and readers (and, potentially, viewers) closer to the acquisition process. If viewers and readers are given a structured, fun way to give feedback on cutting edge stories, stories that might have been passed over before, these tales have a better chance of gaining the attention of editors and producers who have the funds to bring them to a broad audience."
Stichwörter: Crowdsourcing, Gawker

Welt, 14.09.2011

Die Beatles sind noch immer die einträglichste Band der Welt, auch ein Bob Dylan ist für die Musikindustrie kostbarer als jeder Jungmusiker. Michael Pilz wundert sich also nicht, dass die EU die Schutzfrist für Verwerter von 50 auf 70 Jahre angehoben hat: "Mit der Entscheidung folgen Europas Politiker den seit Jahren vorgetragenen Klagen einer Branche, die nicht aus der Krise findet und den Rechtsrahmen in ihrem Sinn verändert sehen will."

Weiteres: Sehr instruktiv findet Hanns-Georg Rodek die Biografie "Reineckerland". Sie berichtet von der SS-Propagandakarriere des Herbert Reinecker, der auch mit seinen Drehbüchern zu "Kommissar" und "Derrick" ein Lieblingsautor der Deutschen blieb. Uwe Schultz berichtet von den Plänen Nicolas Sarkozys, das Hotel de la Marine an private Investoren zu vermieten. Damit biss er aber bei den Traditionalisten auf Granit und erlebte sein Stuttgart 21. Martin Ebel schreibt zum Tod des Diogenes-Verleger Daniel Keel. Jacques Schuster verabschiedet den ebenfalls verstorbenen Historiker Horst Fuhrmann.

TAZ, 14.09.2011

Simone Kaempf lässt sich von dem Theatermacher Matthias von Hartz erklären, wie modernes Theater heute organisiert sein müsste: "Vorbild könne das Theater in Antwerpen sein, an dem neben Schauspielern auch andere Künstler interdisziplinär integriert seien. Vergleichbar mit einem freien Produktionshaus wie dem HAU in Berlin, aber übertragen auf ein deutsches Stadttheater mit finanziell komfortabler Ausstattung."

Weitere Artikel: Andreas Fanizadeh schreibt den Nachruf auf den Diogenes-Verleger Daniel Keel. Jörg Sundermeier kann überhaupt nicht verstehen, dass die Katholische Kirche sich über einen Roman aufregt, in dem Kardinal von Galen seine Haushälterin schwängert. Die Berliner Rechtsanwältin Angelika Strittmatter darf im Interview die am Montag von der EU beschlossene Ausweitung der Schutzfrist für Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre feiern, ohne eine kritische Zwischenfrage von Julian Weber befürchten zu müssen. Gleiches gilt auf den vorderen Seiten für die "Chefs der Muslimbrüder" in Syrien, denen sich Ivesa Lübben als Stichwortgeberin zur Verfügung stellt.

Besprochen werden die Ausstellung "Images of the Mind" im Hygienemuseum Dresden und Susan Buck-Morss Buch "Hegel und Haiti".

Und Tom.

SZ, 14.09.2011

Der FDP-Politiker und ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer beklagt in einem Plädoyer für die Anerkennung Palästinas Angela Merkels "seit jeher einseitig an den Interessen Israels ausgerichtete Politik, für die sie von der einflussreichsten Israel-Lobbyorganisation der USA, der Aipac, vor kurzem erst ausgezeichnet wurde. Vorwand für diese Einstellung ist die Forderung, dass der Aufwertung Palästinas ein mit Israel ausgehandeltes Friedensabkommen vorangehen müsse."

Im Interview mit Fritz Göttler und Gottfried Knapp erklärt Molekularkoch Ferran Adria (über den gerade ein Film herauskommt), warum er sein Restaurant El Bulli vorerst geschlossen hat: "Man kann nicht zehnmal den Oscar gewinnen oder die Champions League. Und wir hatten in den vergangenen fünfzehn Jahre alles gewonnen. Ich erinnere mich, dass ich eines Tages nach Haus zu meinen Eltern kam, und meine Mutter zeigte auf die Schlagzeile und sagte: Du bist schon wieder in der Zeitung. Wenn schon die eigene Mutter das denkt, was müssen dann meine Feinde denken?"

Weitere Artikel: Joseph Hanimann erzählt von einem französischen Schulbuchstreit um Gender-Fragen. Reymer Klüver liest jüngst veröffentlichte Gespräche mit Jacqueline Kennedy. Gustav Seibt gratuliert Eckhard Henscheid zum Siebzigsten. Und Klaus Brill schreibt zum Achtzigsten von Ivan Klima. Lothar Müller schreibt zum Tod des Diogenes-Verlegers Daniel Keel. Und hier die Kritik der gestern Abend erstmals wieder im Privat-TV gelaufenenen Harald-Schmidt-Show.

Besprochen werden eine George Grosz-Ausstellung im Max-Ernst-Museum Brühl, ein von Sidi Larbi Cherkaoui choreografierter Tanzabend in London und Ferdinand von Schirachs neues Buch "Der Fall Collini" (da hier auch Schirachs Nazi-Großvater Baldur vorkommt, stellt Jörg Magenau dem gefeierten Enkel und Anwalt die unangenehme Frage: "War der Großvater ein Nazi aus Überzeugung? Oder soll er als Beispiel für Schirachs These dienen, dass es oft nur ein Zufall sei, ob ein Mensch zum Täter oder zum Opfer wird?" - mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 14.09.2011

In ihrem Nachruf würdigt Felicitas von Lovenberg die Leistung des Diogenes-Verlegers Daniel Keel: "Zwischen den in Deutschland allgegenwärtigen Polen von E und U etablierte Daniel Keel seine D-Literatur: niveauvoll und zugänglich." Über angestrengte und doch eher fruchtlose Bemühungen um "Zivilisierung" in Peking - Parole: "'Werdet Boten der Zivilisation! Ein harmonisches Chaoyang aufbauen!'" - berichtet Mark Siemons. In der Glosse weiß Jürg Altwegg von Nachwuchssorgen im französischen Chansonbetrieb. Der Michelangelo-Experte Frank Zöllner macht auf ein bislang kaum beachtetes Dokument aufmerksam, das belegt, dass Michelangelo neben all seinen unvollendeten Aufträgen für Skulpturen im Jahr 1519 auch noch ein Madonnen-Gemälde für 100 Golddukaten anzufertigen versprach - ein weiterer Beleg, so Zöllner, dass der Künstler sich doch nicht in allererster Linie als Bildhauer sah. Eine "Neubestimmung der kulturpolitischen Prioritäten" in Berlin hält Andreas Kilb, der eine sehr gemischte Bilanz der Wowereit/Schmitz-Jahre zieht, für dringend nötig. Auf der DVD-Seite werden eine - editorisch höchst bescheidene - Ausgabe von Helmut Käutners Hamlet-Version "Der Rest ist Schweigen" und die sehr späte Veröffentlichung von Rainer Werner Fassbinders englischsprachiger Nabokov-Verfilmung "Despair" vorgestellt.

Besprochen werden Gereon Wetzels Ferran-Adria-Doku "El Bulli - Cooking in Progress" und Bücher, darunter Jon Kalman Stefanssons Roman "Der Schmerz der Engel" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).