Heute in den Feuilletons

Harte Glieder und gespannte Ruten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2011. In der Berliner Zeitung urteilt der Historiker Fritz Stern äußerst streng über die mangelnden Führungsqualitäten Merkels und Sarkozys im Moment der Euro-Krise. Ebenfalls in der Berliner Zeitung beklagt der Urbanist Klaus Brake die architektonische Fantasielosigkeit des Entwurfs für das Humboldt-Forum. In Frankreich schlägt die grüne Präsidentschaftskandidatin Eva Joly die Abschaffung der Militärparade zum 14. Juli vor. Frankreich echauffiert sich, aber zu Unrecht, findet rue89. Die Welt ist entsetzt über eine Jugend, die sich Casper zum Idol kürt. Die FAZ warnt vor der automatischen Gesichtserkennung.

Berliner Zeitung, 20.07.2011

Das Humboldt-Forum soll in einem wieder aufgebauten Berliner Schloss Museen, Bibliothek, Ausstellungsräume, Agora miteinander vernetzen. Schön und gut, meint der Professor für Stadt- und Regionalentwicklung, Klaus Brake. Aber wie soll das möglich sein, wenn jeder Nutzer in seinem eigenen Stockwerk brütet? "Würden die Museen und Bibliotheken jeweils wenigstens zweigeschossig organsiert, könnte es zwischen den Geschossen eine gewisse Nutzungs-Tiefe geben für komplexere Präsentationen. So aber hat jeder Nutzer sein Geschoss, seine Fläche und seinen eigenen Eingang. Das Haus namens Humboldt-Forum ist damit auf dem besten Wege zu einem additiven Kultur-Zentrum, einem Shop-in-Shop-Center autonomer Anbieter, die so auch in verschiedenen Häusern auftreten könnten."

Dass Europa in einer derartigen Krise steckt, ist nicht zuletzt den Regierungschefs zu verdanken - allen voran Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, meint der Historiker Fritz Stern im Interview: "In Europa ist eine Misere von politischer Führung da, wie sie seit Jahrzehnten nicht bestand. Dass in einem Moment der tiefen Krise, die mit dem Euro zu tun hat, wenngleich nicht nur, solch eine schwache Führung vorzufinden ist, ist ungeheuer Besorgnis erregend. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat in seiner Rede am 1. Juli (pdf) anlässlich der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft die europäischen Länder hart anklagt angesichts des mangelnden politischen Führungswillens. Man sollte diesen Text in Berlin und Paris einmal genau studieren."

Aus den Blogs, 20.07.2011

Die französische Grünen-Politikerin Eva Joly, die außerdem noch halb Norwegerin ist, hat vorgeschlagen, die Militärparade zum 14. Juli abzuschaffen und hat unter französischen Politikern einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Aber Pascal Riche findet in rue89, dass es durchaus an der Zeit wäre, über die Assoziation von Revolution und Armee in Frankreich nachzudenken: "Der PS-Abgeordnete Arnaud Montebourg sagt, 'niemand darf vergessen, dass die franzöische Revolution, die wir am 14. Juli feiern, ohne den Sieg der franzöischen Armee in Valmy anders verlaufen wäre'. Tatsächlich konnte das Problem der brüchigen revolutionären Front (Bürger, städtische Bevölkerung, Bauern) nur durch den Krieg gelöst werden. Der Krieg war im revolutionären Bewusstsein so verinnerlicht, dass der Friede zum Symbol der Konterrevolution wurde."

Und: Jon Stewarts Kommentar in der Daily Show zu den Reaktionen bei Fox auf den Murdoch-Skandal:


TAZ, 20.07.2011

Zum Niederknien fand Jürgen Berger Jeanne Moreau, die im Papstpalast von Avignon Jean Genets Liebesgedicht für Maurice Pilorge, "Le Condamne a mort", vortrug: "Genet hatte den 'Zum Tode Verurteilten' im Gefängnis kennen gelernt, diesen Gewalttäter mit dem Engelsgesicht, der wegen gerade mal 1.000 Franc einen Freund ermordet hatte. Pilorge wurde am 17. März 1939 hingerichtet, Genets Poem erschien drei Jahre später und bot bereits diese mit viriler Männlichkeit getränkte Atmosphäre, in der 'harte Glieder' und 'gespannte Ruten' eine morbide Allianz mit einer maritimen Laszivität eingehen. Damals war das ein Skandal, heute ist es Literatur. Und als solche behandelt Jeanne Moreau auch die Verse, die immer mal wieder wie Donnergrollen ihrer Kehle entsteigen, als verkünde sie die zehn Gebote."

Weiteres: Jenni Zylka unterhält sich mit Geraldine Chaplin über ihren Vater Charlie, dem in Berlin gerade eine Retrospektive gewidmet ist. Jan Scheper war beim Berliner Morrissey-Konzert.

In tazzwei berichtet Bill Wyman von Hoffnungen in den USA, dass es nun auch Rupert Murdoch Fersehmonster Fox News an den Kragen gehen könnte.

Und Tom.

Spiegel Online, 20.07.2011

Durch die Cloud wird das Netz auch zur Gefahr, schreibt der Free-Software-Aktivist Richard Stallman in Spiegel Online: "Es speichert Daten von Nutzern und Daten über Nutzer, auf die der Nutzer selbst nicht zugreifen kann - die US-Bundespolizei FBI aber jederzeit. Das Netz übernimmt die Datenverarbeitung, der Nutzer gibt die Kontrolle darüber ab. Dieses neue Web ist voller Verlockungen - doch wir müssen ihnen widerstehen."

Tagesspiegel, 20.07.2011

Mirko Weber besucht die Proben zu Sebastian Baumgartners "Tannhäuser"-Inszenierung in Bayreuth. Das Bühnenbild hat der niederländische Künstler Joep van Lieshout gebaut, dazu "zumindest so viel: An Raumleere leidet diese sehr spezielle Wartburg-Konzeption nicht und wird noch durchpulst von Filmsequenzen und ein paar projizierten Phrasen, die einem seltsam bekannt vorkommen: 'Herzeleid', 'Rosenrot', 'Wir sind krank' und so weiter liest man, Chiffrenlyrik also von Till Lindemann, und 'ja' sagt Sebastian Baumgarten, 'da kommt schon viel von Rammstein vor'. Rammstein. Sehr offensiver, sehr obskurer deutscher Rock. Und an Tannhäuser sei ja schließlich auch viel von eben diesem Till Lindemann, 'er will dazugehören zur Gesellschaft und auch wieder nicht', sagt Baumgarten, Lindemann sei ja auch eher 'kommerzieller Schockrocker'. Nur so zum Vergleich."

Welt, 20.07.2011

Laura Ewert ist entsetzt über die heutige Jugend, die einen Casper zum neuen Popstar krönt: Pädagogikstudent, humorlos, pathetisch, "ganz ohne Drogen". Und dann erst das Video! "Mit einer Niedlichkeit, die man im freundlichsten Fall als Naivität deuten kann, werden dort junge Menschen in ein politisiertes Kostüm gesteckt. Das Video hat so viel politisches Potenzial in sich wie das Tragen eines Palästinensertuches von H&M."

Weitere Artikel: Zahi Hawass, Ägyptens umstrittener Minister für Altertümer, muss gehen, meldet Berthold Seewald, aber besser wird dadurch nichts: "Hawass' designierter Nachfolger Abdulfattah Al-Banna gilt als derart unbedarft, dass die Proteste ägyptischer Forscher gegen seine Ernennung bereits zur Verschiebung der ganzen Vereidigungszeremonie führten." Cornelius Tittel hofft, dass die Berliner Kunst-Werke von Wowereits Entscheidung, keine neue Kunsthalle zu bauen, profitieren werden. Alan Posener klagt die "reaktionäre Seite" der Sozialdemokratie an.

Besprochen werden zwei Bücher über die Tricks der DDR-Fluchthelfer und eine Aufführung des "Don Giovanni" in Baden-Baden.

NZZ, 20.07.2011

In London steht das Bündnis aus Prominenz, Publikum und Boulevard trotz allem, meint Marion Löhndorf, grundlegende Veränderungen in der Medienlandschaft erwartet sie nicht: "Schon heißt es, dass die Leerstelle der News of the World am Wochenende eine Sonntagsausgabe der Sun einnehmen soll, möglicherweise bereits in diesem Herbst."

Weiteres: In St. Petersburg richten sich die Hoffnungen auf den Spanier Nacho Duato, berichtet Jessica Cunti, er soll das russische Ballett in ein neues Zeitalter führen. Beatrice Eichmann-Leutenegger meldet, das das Schweizerische Literaturarchiv das Archiv des Arche-Verlags übernimmt.

Besprochen werden Anna Reids Buch über die Belagerung von Leningrad "Blokada", Laszlo Vegels Romandebüt von 1968 "Bekenntnisse eines Zuhälters" (Leseprobe hier), Roddy Doyles Erzählungen "Typisch irisch"und Petros Markaris' Krimi "Faule Kredite" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 20.07.2011

"Womöglich überschreiten wir gerade den Höhepunkt der traditionellen Buchkultur", meldet Oliver Herwig nach Besuch einer Ausstellung über Bibliotheken in München, und beschwört die Furcht dieser Institutionen, "im Mahlstrom des Netzes unterzugehen, das erst alles Wissen verschlingt und später in wohl dosierten Bits und Bytes kommerziell verwertet."

Besprochen werden Gary Shteyngarts neuer Roman "Super Sad True Love Story" und die neue CD von Joss Stone.

FAZ, 20.07.2011

Automatische Gesichtserkennung ist, nicht nur bei Facebook, auf dem Vormarsch (mehr hier). Thomas Thiel warnt davor, dass ein jeder in nicht zu ferner Zukunft bei beliebigen Aufenthalten im öffentlichen Raum identifiziert wird: "Ein Feldversuch des Bundeskriminalamts zur Fahndung nach Terrorverdächtigen am Mainzer Hauptbahnhof filmte vor vier Jahren zweihundert Testpersonen beim Passieren der Rolltreppe. Die Erkennungsrate der biometrischen Analyse lag bei sechzig bis siebzig Prozent, zu gering für den Praxiseinsatz im öffentlichen Raum. Doch die Vision dahinter ist klar erkennbar: Personen aus den polizeilichen Datenbanken mit Kameras aus jeder beliebigen Menschenmenge herauszufiltern. Die Kamera erkennt das Gesicht und schlägt Alarm."

Weitere Artikel: In der Glosse von Edo Reents hält die Bahn am 24. Juli nicht in Darmstadt, Bensheim und Weinheim. Auf der DVD-Seite werden unter anderem Editionen von Louis Malles großen "Indien"-Dokumentationen und Tsui Harks "Detective Dee und die Phantomflammen" empfohlen. Gemeldet wird, dass Suhrkamp nun doch nicht mehr in das Nicolaihaus in der öden Berliner Brüderstraße umziehen will.

Besprochen werden ein konzertanter "Don Giovanni" mit unter anderen Diana Damrau, Joyce DiDonato und Rolando Villazon in Baden-Baden, eine F.K. Waechter-Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt, die Ausstellung "Stahl + Stadt" im Hoesch-Museum in Dortmund, Alejandro Fernandez Almendras Dokumentarfilm "Huacho" und Bücher, darunter David Mitchells Roman "Number 9 Dream" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 20.07.2011

Aus Anlass der somalischen Hungerkatastrophe liest Tim Neshitov einige neuere afrikanische Romane und findet, dass sie sich kompetenter mit dem Thema Hunger auseinandersetzen als westliche Literatur - unter anderem empfiehlt er NoViolet Bulawayos Erzählung "Hitting Budapest", die gerade den Caine Prize gewonnen hat (der als afrikanischer Booker Prize gilt). Jonathan Fischer unterhält sich mit Salam Yousry, der in Kairo einen "Complaints Choir" ins Leben gerufen hat, ein probates Mittel, um sich bei Demonstrationen Gehör zu verschaffen (mehr hier): Yousry beklagt einen immer stärkeren Einfluss der Islamisten auf die Kultur in Ägypten.

Weitere Artikel: Der Berliner Soziologe Sergio Costa sieht Europa alles in allem als prädestiniert, "in einer kosmopolitischen Konstellation eine konstruktive Rolle zu spielen". Michael Stallknecht lauschte einem Münchner Vortrag Sibylle Lewitscharoffs über Dichtung. Uwe Wesel gratuliert dem Rechtshistoriker Michael Stolleis zum Siebzigsten.

Auf Seite 1 betrachtet Stephan Speicher neueste Buchhandelszahlen und hofft, dass sich der amerikanische Trend zum Ebook hierzulande nicht wiederholt: "Vor allem gilt das Buch hier auch als Ausweis feinerer Lebensart. Bildung und Lektüre stehen immer noch in hohem Ansehen." Auf der Medienseite berichtet Marc Felix Serrao über Knatsch in der Chefredaktion des Focus.

Besprochen werden die Ai Weiwei-Ausstellung in Bregenz, Judd Apatows Filmkomödie "Brautalarm" (mehr hier), ein Don Giovanni in Baden-Baden und Inszenierungen und Tanzstücke beim Theaterfestival in Avignon.