Heute in den Feuilletons

Schauspielen ist nicht verboten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2011. In der FAZ beklagt V.S. Naipaul den Verfall der Fiktion in Roman und Film. Die NZZ befürchtet mit dem Fall Domininique Strauss-Kahn die moralische Talibanisierung Europas. Die Welt empört sich über die Herablassung, mit der die Literaturkritik den Büchnerpreis für F.C. Delius kommentierte.  SZ und taz berichten aus Cannes von den mutigen Werken der mit Berufsverboten belegten iranischen Regisseure Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof. Die FR rätselt über Sitten und Gebräuche der Kelten.

Welt, 21.05.2011

Tilman Krause macht seiner Empörung Luft über die doch etwas herablassende Behandlung des neuen Büchner-Preisträgers F. C. Delius: "Zu alt, der Gekürte, findet eine Dame in Frankfurt. Zu unanstößig, meint ein Herr in München. Und den Gipfel typisch deutschen Unverhältnisses zum Repräsentativen erklimmt ein Herr aus Berlin. Hier sei die Chance vertan worden, "auf jemanden aufmerksam zu machen, der erst noch bekannt gemacht werden müsste". ... Wann werden die Damen und Herren Literaturkritiker hierzulande ihr Verhaftetsein in den Kategorien der Genieästhetik überwinden?"

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek berichtet aus Cannes über die rätselhaften Filme von Pedro Almodovar und Paolo Sorrentino. Wieland Freund meldet, dass Amazon in Amerika erstmals mehr E-Books als gedruckte Bücher verkauft hat. Marc Reichwein bittet Peter von Matt zu Tisch. Ekkehard Kern lässt sich von Eduard van Beek, Musikchef der Servicewelle Bayern 3, beruhigen: Im öffentlich-rechtlichen Radio wird die Musik immer noch von Menschen ausgewählt, weshalb uns der Gewinnersong von DSDS erspart bleibt. Johannes Ebert, der im nächsten Frühjahr neuer Generalsekretär des Goethe-Instituts wird, erklärt im Interview, wie vorzüglich die Goethe-Institute arbeiten.

Besprochen werden eine Ausstellung von Tatjana Valsang in der Düsseldorfer Galerie Konrad Fischer und Charles Burns' Graphic Novel "Black Hole".

Im Aufmacher der Literarischen Welt stellt Ruth Klüger fünfzehn bisher unbekannten Hörspiele von Ingeborg Bachmann vor, die nicht auf der Höhe ihres literarischen Werks sind, aber doch charmant: "Es wird ungeheuer viel geblödelt, und das wienerische Geschwätz ist hauptsächlich des Schwatzens willen da, wenn auch in einen dünnen Blätterteig von leicht verdaulicher Sozial- und Kulturkritik gewickelt; die Klassiker werden gern und immer falsch zitiert, es wird angegeben und übertrieben, doch auch wenn die Figuren sinnloses Zeug reden, geschieht es mit Sprachwitz. Das Verblüffendste an dieser Variation des Hörspiels ist Bachmanns außerordentliches Gespür für differenzierten Dialog, so, dass man sich wünscht, sie hätte auch ein paar Komödien fürs Theater geschrieben."

Besprochen werden unter anderem Albert Ostermaiers Schlüsselroman "Schwarze Sonne scheine", V.S. Naipauls Reportageband "Afrikanische Maskenspiele" und ein "Handbuch der politischen Ikonographie".

NZZ, 21.05.2011

Jürgen Ritte vernimmt schaudernd, dass die französischen Medien im Zuge der Affäre um Dominique Strauss-Kahn ihre bisherige Zurückhaltung aufgeben wollen, was das Sexleben ihrer Politiker betrifft: "Die moralische Talibanisierung des öffentlichen Lebens ist jedenfalls - ungeachtet der Schuld oder Unschuld von DSK - eine durchaus konkreter gewordene Drohung. Und der Satz von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, und sei er ein Verdächtiger, hat in New York, amerikanische Gepflogenheiten hin oder her, gewaltigen Schaden genommen."

Weiteres: Martin Meyer weiß, warum das E-Book niemals ein echtes gedrucktes Buch wird ersetzen können: "Seien wir ehrlich: Dieses Medium ist kalt." (Ach, wenn erst Arm- und Augenmuskeln erschlafft sind, wird es verdammt warm!) Andreas Breitenstein berichtet von einem Vortrag Necla Keleks in Zürich. Besprochen werden Milo Raus neues Stück "City of Change" in St. Gallen, das monumentale "Handbuch der politischen Ikonographie", die Neuübersetzung von Emmanuelle Bayamack-Tams Roman "Die Prinzessin von.", Alissa Walsers Erzählung "Immer ich" und Giorgio Agambens Schrift "Nacktheiten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Literatur und Kunst hat der Indologe Axel Michaels schlechte Nachrichten für die Verfechter der reinen Yoga-Lehre. Unter anderem kann er klarstellen, "dass der moderne körperbetonte, im Westen so beliebte Hatha-Yoga kaum älter als hundert Jahre ist" und dass - noch schlimmer - "es eine transkulturelle Mischung von amerikanisch-britischem Bodybuilding, schwedischer Ling-Gymnastik und dem Sportunterricht der Young Men's Christian Association (YMCA) war, die den Körper-Yoga in der traditionell körperlich eher trägen indischen Mittelschicht aufwertete."

Außerdem klärt der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch über die Asexualität als eigene sexuelle Orientierung auf. David Albahari schreibt über Rock'n'Roll. Martin Schäfer gratuliert Bob Dylan zu seinem 70. Geburtstag. Und in den Bildansichten betrachtet die Autorin Judith Kuckart über Henriette Brownes Gemälde "A Girl Writing" von 1870.

TAZ, 21.05.2011

In ihrer Cannes-Kolumne hat Cristina Nord keine Lust, sich von einem wirren Lars von Trier von den wichtigen Filmen ablenken zu lassen - nämlich den mutigen Werken der zu Haftstrafen verurteilten und mit Berufsverbot belegten iranischen Regisseure Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof. Des ersteren "Dies ist kein Film" erweist sich als bei aller Tragik erstaunlich humorvoll. Anders Rasoulofs "Auf Wiedersehen": "Im Mittelpunkt steht eine junge Anwältin, die sich mit der Absicht trägt, auszureisen. Rasoulof findet Bilder, die, ohne ihre Subtilität zu verlieren, plastisch machen, wie weit sich die Macht des Regimes in den Körper der Protagonistin hineinfrisst."

Weitere Artikel: Im Interview blickt der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar ben Jelloun nach wie vor sehr optimistisch auf die Zukunft der postrevolutionären arabischen Staaten. In der Serie zum Kleist-Jahr staunt Tanja Langer über ihre Liebe zu ausgerechnet diesem, ihr temperamentsmäßig eigentlich fern stehenden Autor. Karl Bruckmaier lässt siebzig Jahre Bob Dylan im Spiegel der Hutmode Revue passieren (dazu abgedruckt die deutsche Übersetzung der Lyrics zu "Leopard-Skin Pillbox-Hat"). Daneben äußert sich zum Anlass noch Kirsten Reinhardt über die "Körperlichkeit" Dylans. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne findet Andreas Fanizadeh den Haftbefehl gegen die Familie Gaddafi eigentlich interessanter als Sex & Crime in New York und Abbottabad.

Besprochen werden Bücher, darunter Tino Hanekamps Romandebüt "So was von da" und die erste deutsche Komplettausgabe der Schriften von Louis Althusser (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 21.05.2011

Tobias Kniebe hat in Cannes "Dies ist kein Film" des mit Berufsverbot belegten Jafar Panahi gesehen, der seinem Titel alle ironische Ehre macht: "Was darf ich denn noch? - fragt sich Panahi vor laufender Videokamera in seiner Wohnung in Teheran. Auf keinen Fall 'Cut' sagen oder Szenen notieren, antwortet Mirtahmasb - dass müsste als Regieführen und Drehbuchschreiben ausgelegt werden. Aber: Schauspielen ist nicht verboten. Und Drehbücher vorlesen auch nicht." Susan Vahabzadeh ist in einem weiteren Artikel nicht begeistert von Xavier Durringers Film über Nicolas Sarkozy.

Weitere Artikel: Mit viel Respekt porträtiert Christine Dössel den beim Theatertreffen selbzweit eingeladenen Schauspieler und Regisseur Herbert Fritsch, der aus der LSD-Trip-Herkunft seiner Inspirationen kein Geheimnis macht. Jens-Christian Rabe nähert sich anlässlich ihres neuen Albums "Born This Way" dem Phänomen Lady Gaga mit der Frage nach dem Missverhältnis von "Kirmestechno"-Musik und Persona-Konstruktion: Wie könne es sein, "dass all das, was so eindrucksvoll avantgardistisch, überlegt und richtig erscheint, trotzdem so stumpf, uninspiriert und falsch klingen kann"? In seiner Kairo-Kolumne trifft Khaled al-Khamissi auf einen Taxifahrer, der der Revolution und den mit ihr einhergehenden ungesicherteren Verhältnissen die Schuld gibt, dass ihm sein Taxi geraubt wurde. Der Unternehmensberater Gregor Wöltje bekennt sich als LOHA, preist das Elektroauto und plädiert für nachhaltigen Konsum. Als "Akt der Selbstbemächtigung" deutet Thomas Steinfeld die Pressekonferenz-Nazifizierung des Lars von Trier. Jonathan Fischer gratuliert dem Musiker Ronald Isley zum Siebzigsten und Joseph Hanimann dem französischen Literaturkritiker Maurice Nadeau zum Hundertsten. Auf der Medienseite erklärt der neue br-Intendannt Ulrich Wilhelm im Interview mit Mut zum Kontrafaktischen: "Quote ist eine dienende Größe."

Im Aufmacher der SZ am Wochenende blickt Willi Winkler zum siebzigsten Geburtstag des Meisters zurück auf sein Leben mit Bob Dylan (dessen Foto auch die SZ-Titelseite schmückt). Laura Weissmüller schreibt über die recht neue Lust der Stararchitekten am Bauen in der Dritten Welt. Aus aktuellem Anlass zeichnet Martin Winter auf der Historienseite die "Erfolgsgeschichte" der Europäischen Union nach. Kerstin Holzer spricht mit Hannelore Elsner übers Alleinsein.

Besprochen werden die La-Fura-dels-Baus-Inszenierung von Iannis Xenakis' "Oresteia" auf dem Karlsplatz in Wien (die für Reinhard J. Brembeck erst interessant wurde, als am Ende der Strom ausfiel), ein Mahler-Konzert der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann, mehrere nach Ansicht von Stephan Speicher leider allzu platte Versuche von Museen in Frankfurt (Oder), sich im Jubiläumsjahr Kleist zu nähern, die Ausstellung "Dirk Bell. Retour" in der Münchner Pinakothek der Moderne und Bücher, darunter Wolfgang Büschers USA-Wanderbericht "Hartland" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 21.05.2011

Christian Thomas nähert sich der Welt der Kelten in Ausstellungen in Frankfurt, Völklingen und am Glauberg - und es bleiben bei aller Faszination doch Fragen über Fragen: "Warum hockt auf der Schnabelkanne ein Mann in kurzen Hosen und im Schneidersitz? Welche symbolische Bewandtnis hatte es mit dem wundersamen Halsring, den Darstellungen menschlicher Körper, von exotischen Blättern, Vögeln? Ganz abgesehen von der Frage, wann der Ring angelegt wurde? Ein Leben lang? Zur Bestattung?"

Weitere Artikel: Aus Cannes berichtet Daniel Kothenschulte von neuen Filmen von Paolo Sorrentino und Jafar Panahi, der seiner heiklen Lagen mit dem erstaunlich leichten "Dies ist kein Film" begegnet. In einer "Times Mager" führt Hans-Jürgen Linke alle Verschwörungstheorien um Dominique Strauss-Kahn ad absurdum.

Besprochen werden Jan Philipp Glogers Uraufführung von Philipp Löhles neuem Stück "Das Ding" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen und Wolfgang Schömels Roman "Die große Verschwendung".

FAZ, 21.05.2011

In Bilder und Zeiten spricht V.S. Naipaul über sein neues - und wie er sagt letztes - Buch "Afrikanisches Maskenspiel" und seine Fiction Fatigue: "Die Romanliteratur ist längst ebenso in Verfall geraten wie der Film, der in seinen Anfängen eine unglaublich beeindruckende und kraftvolle Form war, die vielleicht fünfzig Jahre überdauerte. Fünfzig Jahre ist eine lange Zeit, aber was heute vom Kino übrig geblieben ist, ist ein Witz. Ohne Substanz, ohne Anspruch an die Fantasie, ohne Nährwert. Welche anderen Formen des Erzählens gibt es, die dazu taugen, einem ein wenig mehr über unsere Welt zu erzählen? Ich denke, dass die Sachliteratur diesbezüglich sehr hilfreich sein kann. - sofern man sich ihrer gewissenhaft und mit Ehrfurcht annimmt und in dem Bewusstsein schreibt, dass man sich mit der Wahrheit befasst."
 
Außerdem huldigt Edo Reents Boby Dylan zum Siebzigsten. Theo Stemmler verschreibt sich dem von Goethe besungenen Kometenwein. Guido Hitze erinnert an die deutsch-polnische Verwerfungen von 1921 um Oberschlesien. Dirk Schümer erzählt, wie zärtlich Italien seinen Nationalheiligen Giuseppe Verdi umflort.

Im Feuilleton: In Cannes wurden die mutigen Filme der beiden verurteilten iranischen Filmemacher Jafar Panahi (mehr hier) und Mohammad Rasoulof gezeigt. Über Rasoulofs "Be omid e didar" schreibt Verena Lueken beeindruckt: "Es ist ein furchtloser Film, ein stilisierter, aber kein metaphorischer Frontalangriff auf die iranische Obrigkeit." Julia Bähr sieht nach einer Lesung von Albert Ostermaiers Schlüsselroman "Schwarze Sonne scheine" Ärger heraufziehen. Julia Voss verteidigt das Vorgehen der amerikanischen Justiz gegen Dominique Strauss-Kahn, vor allem gegen Bernard-Henri Levy, "der ansonsten vollmundig die Universalität der Menschenrechte verteidigt", wie sie stichelt. Jürgen Dollase speist zu sehr Hotel Gasthof Post in Lech am Arlberg. In Madrid hat sich Paul Ingendaay unter die protestierende Jugend von der Puerta del Sol gemischt, die zu seiner Freude keinerlei Organisiertheit erkennen lasse und eine überzeugende Parole habe: "Das Antisystem sind nicht wir, sondern jene, die das System zerstört haben." Joseph Croitoru hat das neue Programm der ägyptischen Muslimbrüder gelesen und stellt im Vergleich mit der Fassung von 2007 deutlich moderatere Töne fest. Manfred Lindinger berichtet von einer Treffen von zwanzig Nobelpreisträgern in Stockholm, die sich um Hunger und Armut sorgten. Gina Thomas meldet Umstrukturierungen bei der britischen Buchhandelskette Waterstone's. Don Alphonso schickt einen Report vom Oldtimer-Rennen Mille Miglia. Auf der letzten Seite erklären drei belgische Spitzenpolitiker ihre Unfähigkeit, eine Regierung zu bilden: "Belgien ist ein kompliziertes Land."

Besprochen werden die Ausstellung "Liebermanns Gegner - Die Neue Secession in Berlin" in der Berliner Stiftung Brandenburger Tor, Aribert Reimanns Oper "Medea" auf DVD und CD, das Album "Wasting Light" der Foo Fighter. Und Bücher, darunter Albert Ostermaiers Klosterschüler-Schlüsselroman "Schwarze Sonne scheine", Roddy Doyles Erzählungen "Typisch irisch", und Karen Russells "Swamplandia" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Marie Luise Knott Karl Wolfskehls Gedicht "Lobgesang" vor:

"Büchern bin ich zugeschworen
Bücher bilden meine Welt..."