Heute in den Feuilletons

Kalte, niemals zu sättigende Brut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2010. Die SZ dokumentiert Martin Walsers Marbacher Rede für Ernst Jünger. Die Welt zeigt sich von Walsers bei dieser Gelegenheit gezogenem Vergleich von Jünger und Kafka ziemlich irritiert. In der taz meint Timothy Garton Ash: Wer freies Feld für Mohammed-Karikaturen fordert, darf auch die Holocaust-Leugnung nicht kriminalisieren. In der NZZ prangert die Autorin Irena Brezna die Gewalt gegen Frauen in Tschetschenien an. Auch in Russland - und besonders in Tschetschenien - wird jetzt für die Einführung der Scharia plädiert, berichtet die FAZ. Die FAZ druckt auch die Laudatio von Alice Schwarzer auf Necla Kelek für den Preis der Naumann-Stiftung.

Welt, 08.11.2010

Unsere Elite traf sich am Sonntag zur Eröffnung der von Ulrich Raulff initiierten Ernst-Jünger-Ausstellung in Marbach. Jan Küveler zeigt sich in einem ersten Bericht ziemlich irritiert von Raulff und dem Eröffnungsredner Martin Walser: Raulff bezeichnete Jünger als "Artisten der Verwerkung", was sich ziemlich harmlos anhört. Und: "Es verblüffte nicht wenig, dass Walser Jünger-Sätze, die der 'kalten, niemals zu sättigenden Brut' als 'sicherste Zerstörerin der Idylle' eine lange Zukunft wünschen, in die Nähe zu Kafka rückte."

In dem Bericht "Das Amt" wird das "fast totale Versagen einer hoch gebildeten, äußerst kultivierten, privilegierten Kaste, die sich geradezu als Verkörperung der deutschen Leitkultur verstand", beschrieben. Warum, fragt sich Alan Posener, glauben wir immer noch an die Überlegenheit dieser Elite - wie zuletzt Thilo Sarrazin in "Deutschland schafft sich ab": "Die Proximität dieser beiden Bücher an der Spitze der Bestsellerlisten verweist auf die Notwendigkeit, in Deutschland, dieser angeblich nivellierten Mittelschichtgesellschaft, die in Wirklichkeit sozial konservativer ist als nahezu jedes andere Land Europas, über den Wert und Unwert von Eliten neu nachzudenken."

Weitere Artikel: Ray Davies von den Kinks spricht im Interview über sein neues Album, die Arbeiterklasse und seinen als Songschreiber weniger talentierten Bruder. Mara Delius resümiert ein Symposion der amerikanischen Zeitschrift n+1 über das Verschwinden des Hipsters. Dankwart Guratzsch überlegt, ob die Varusschlacht nicht vielleicht in Thüringen stattgefunden hat. Thomas Lindemann war dabei, als der amerikanische Militärexperte Hank Keirsey den zweiten Teil des Videospiels "Call of Duty" vorstellte und wünscht sich jetzt eine Ästhetikdebatte: "Nicht über Gewalt muss debattiert werden, sondern über Ekel." Ulrich Weinzierl berichtet über die Gedenkfeier für Christoph Schlingensief an der Volksbühne. Reinhard Wengierek schreibt zum Tod des Schauspielers Ezard Haußmann.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns "Zauberberg"-Revue in Leipzig und Konzerte beim Berliner Jazzfest.

FR, 08.11.2010

Werner Girgert berichtet von der unaufhaltsamen Gentrifizierung New Yorks, die nach Harlem jetzt sogar die Bronx erfasst, aber natürlich in Manhattan am durchschlagendsten war: "Erstmals seit vier Jahrzehnten ist Manhattan mehrheitlich wieder weiß. Auf knapp 51 Prozent kletterte der Anteil der Weißen im vergangenen Jahr. Rückgänge um drei beziehungsweise zwei Prozent verzeichnet die Statistik dagegen für Hispanics und Schwarze."

Weiteres: Grete Götze hörte bei den Frankfurter Römerberggesprächen Vorträge zur europäischen Kultur. Sylvia Staude stellt William Forsythes neues Projekt "Motion Blank" vor. Auf der Medienseite verteidigt die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Malu Dreyer die Erfolge der Integration.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns Leipziger Inszenierung des "Zauberbergs" (die Dirk Pilz in ihrer resignativen Haltung nicht nur konservativ findet, sondern "reaktionär") und die Gemeinschaftsinszenierung des "Rings" in Halle und Ludwigshafen.

TAZ, 08.11.2010

Im Interview mit Ralph Bollmann bringt Timothy Garton Ash Verständnis für den Blick muslimischer Immigranten auf die westliche Gesellschaft auf: "Was Einwanderer besonders stört, sind doppelte Standards. Etablierte Kirche für das Christentum, aber nicht für den Islam. Das gilt auch für Tabus. Hier Kriminalisierung der Holocaustleugnung, aber freies Feld für Mohammedkarikaturen." Und daraus folgert er: "Wir müssen uns entscheiden. Entweder gehen wir den Weg einer Multiplizierung der Tabus. Dann bleibt herzlich wenig übrig, worüber wir noch sprechen können. Oder wir gehen den konsequent liberalen Weg, das heißt, auch eigene Tabus abzubauen." (Zum Vergleich zwischen Holocaust-Leugnung und Mohammed-Karikaturen siehe auch Andre Glucksmann.)

Weiteres: Sabine Kebir gratuliert der Autorin Elfriede Brüning zum Hundertsten. Katrin Bettina Müller berichtet von der Schlingensief-Gedächtnisfeier in Berlin. Besprochen wird Alain Platels Tanzstück "Out of Context - For Pina".

Auf der Medienseite berichtet David Denk, dass der Autor Christian Jungblut vor dem Landgericht Hamburg in einem Prozess gegen das Magazin Geo, das ihn ohne Rücksprache redigiert hatte, gewonnen hat.

Und Tom.

Weitere Medien, 08.11.2010

Nach Angaben des Handelsblatts verkaufen sich die Bild- und Welt-Apps des Springer-Verlags prächtig. Hans-Peter Siebenhaar zitiert Springer Chef Mathias Döpfner: "'Die Phase der kindlichen Begeisterung für die neue Technologie rund um das Internet geht erkennbar zu Ende', sagte Döpfner, dem Handelsblatt. Eine neue Phase beginne, die an die Prinzipien der Vor-Internet-Welt anknüpfe: Gutes Geld für guten Journalismus. Döpfner spricht von der 'Rückkehr zur Normalität.'"

NZZ, 08.11.2010

Die Autorin Irena Brezna prangert die Gewalt an, der Frauen in Tschetscheniens brutalisierter Männergesellschaft unterworfen sind: Brautraub, Frauenhandel und Ehrenmord. "Ende 2008 wurden in Tschetschenien sieben Frauen zwischen 18 und 30 mit Kopfschüssen hingerichtet. Auf einer Videoszene sieht man zwei von ihnen und hört Männerstimmen auf Tschetschenisch: Du hast es mit mir getrieben. Danach werden die Frauen vor laufender Kamera erschossen. Ob der ihnen gemachte Vorwurf der Prostitution stimmt, wurde nicht abgeklärt. Wurden sie vergewaltigt? Wem sind sie lästig geworden? Das Ziel der Abschreckung ist erreicht, und die Mörder bleiben unbehelligt."

Weiteres: Joachim Güntner denkt anlässliche einer Tagung des Goethe-Instituts über Nachbarschaft und Integration nach. Richard Wagner schreibt zum Tod des rumänischen Hofdichters Adrian Paunescu, der bei gleichzeitiger Positionierung als Oppositioneller für Wagner "zum Inbegriff des byzantinisch agierenden Balkan-Intellektuellen" wurde. Besprochen werden eine Aufführung von Prokofjews "L'Amour des trois oranges" und das Stück "Life and Times, 2" der New Yorker "Off-Off-Off-Broadway-Truppe" Nature Theatre of Oklahoma.

SZ, 08.11.2010

Als Aufmacher wird Martin Walsers Rede aus Anlass der Ausstellung über Ernst Jünger in Marbach abgedruckt. Er schildert seine frühere, dem "Meinungsnebel" der Medien geschuldete Distanz und sein heutiges Verhältnis zum Autor: "Heute glaube ich, dass dieses 'Abenteuerliche Herz' alles, was bei uns zwischen 1933 und 1945 geschrieben und gedruckt wurde, aufwiegt. Der Zivilisationsbruch, der zweifellos auch in den Künsten, auch in der Literatur stattgefunden hat - in diesem Buch findet er nicht nur nicht statt, er wird überwunden. ... Was da in jedem Abschnitt ausgedrückt wird, ist tatsächlich, wie es offenbar Gottfried Benn ausgedrückt hat, 'absolute Prosa'."

Weitere Artikel: Peter Laudenbach berichtet von einer Berliner Gedenkveranstaltung für Christoph Schlingensief. Der Politologe Jens Hacke resümiert ein Kolloquium über Robert Michels' klassische Studie zur "Soziologie des Parteiwesens" in Halle. Thomas Urban berichtet über eine polnische Kontroverse um den Pianisten Wladyslaw Szpilman, dessen Geschichte von Roman Polanski verfilmt wurde - es geht um offenbar recht unbelegte Vorwürfe, dass er mit den Nazis kollaboriert habe. Johan Schloemann berichtet von dem durch den Bundespräsidenten höchstpersönlich überreichten Deutschen Historikerpreis für Christopher Clarke. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger polemisiert gegen einige Literaturkritiken der letzten Moante - etwa Jens Jessens Besprechung von Thomas Lehrs Roman "September" in der Zeit. Auf der Medienseite berichtet Benjamin Zeeb, dass immer mehr prominente Autoren die Ebook-Versionen ihrer älteren Bücher selbst vertreiben. In den "Nachrichten aus dem Netz" fragt sich Michael Moorstedt, ob Facebook an seinem Erfolg scheitern könnte.

Besprochen werden Robert Rodriguez' Film "Machete", neue DVDs und Carsten Höllers Installation "Soma" in Berlin.

FAZ, 08.11.2010

Ihrer Tradition nach sind die russischen Muslime, wie Kerstin Holm in einem sehr instruktiven Bericht darlegt, eher moderat und den Konservativen in Politik und christlicher Orthodoxie als Verbündete deshalb durchaus recht. Dass die Muslimisierung des Landes ganz andere Konsequenzen zu haben droht, musste allerdings zuletzt die russische Islamkritikerin Jelena Tschudinowa erfahren: "Tschetscheniens Oberhaupt Kadyrow hat bereits mitgeteilt, die Scharia sei für ihn verbindlicher als russische Gesetze. Doch auch der Moskauer Publizist Orchan Dschemal plädiert dafür, in mehrheitlich muslimisch bevölkerten Regionen Russlands islamisches Recht einzuführen. Als Jelena Tschudinowa jetzt bei einer Debatte mit Dschemal bekannte, sie sei entschieden dagegen, Frauen steinigen oder Dieben die Hände abhacken zu lassen, bezichtigte ihr Gesprächspartner sie der Sympathie für die Sünde: Frau Tschudinowa wolle offenbar Dieben und Ehebrecherinnen die verdienten Strafen ersparen."

Leicht gekürzt abgedruckt wird Alice Schwarzers kämpferische Laudatio auf die als Islamkritikerin hervorgetretene Soziologin Necla Kelek zur Verleihung des Freiheitspreises der Naumann-Stiftung. Beim Blick ins Rund der veröffentlichten Meinung erblickt Schwarzer nicht viele Freunde der Kelekschen Positionen (aber auch den von Kelek verteidigten Thilo Sarrazin nimmt sie scharf ins Gebet): "Für islamische Verbände ist sie 'keine echte Muslimin'; für türkische Machos ist sie eine 'Nestbeschmutzerin'; für realitätsferne oder mit den Islamisten sympathisierende Akademiker sind ihre Analysen 'unwissenschaftlich'. Und für so manchen beflissenen Kulturrelativisten - auffallend häufig in linken und liberalen Kreisen vertreten - ist sie gar eine 'Hasspredigerin' (so zu lesen in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Januar)."

Weitere Artikel: Von der bundespräsidentenbewehrten Verleihung des Preises des Historischen Kollegs an den Preußenhistoriker Christopher Clark berichtet kommentierend Patrick Bahners. Als "soziale Skulptur" betrachtet Irene Bazinger die Besucher der großen Schlingensief-Gedenkfeier in der Berliner Volksbühne, bei der, wie sie findet, aber eher wenig los war. Jürg Altwegg glossiert die Anweisung des Schweizer Schulministers Claude Roch an die Lehrer, in Schulbüchern angegebene Internetadressen zum Thema Sex "mit der notwendigen Subtilität" per Tipp-Ex zu entfernen. In seiner "Klarer Denken"-Kolumne warnt Rolf Dobelli vor dem "Kontrast-Effekt". Ernest Wichner schreibt zum Tod von Ceausescus Hofdichter Adrian Paunescu, der nach dem Tod des Diktators längst wieder zu höchsten Ehren gelangt war und dessen literarisches Lebenswerk auf 300.000 Verse geschätzt wird.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung plädierte Stefan Niggemeier dafür, das Ipad (und verwandte Geräte) nicht nur als Chance zum Geldverdienen zu begreifen, sondern es ernst zu nehmen als Gerät, das neue, innovative Formen des Journalismus auszuprobieren erlaubt. 

Besprochen werden ein Ludwigshafener Konzert, das für Eleonore Büning angesichts der Leistungen der dort aufspielenden beim diesjährigen Warschauer Chopin-Wettbewerb (nicht) Ausgezeichneten die Inkompetenz der Warschauer Juroren deutlich vor Ohren führte, und Bücher, darunter Michael Tomasellos Überlegungen zur Frage "Warum wir kooperieren" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).