Heute in den Feuilletons

Menschenfreundliche Wortwundverbände

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.01.2010. In der Berliner Zeitung klagt Wolfgang Benz über den "Hass", der ihm entgegenschlug. Im Tagesspiegel erklärt Henryk Broder, warum er es als Kompliment begreift, wenn ihn deutsche Feuilletonisten als "Hassprediger" bezeichnen. Die SZ berichtet über eine Kontroverse um Yannick Haenels Roman "Jan Karski". Die FAZ bringt einen Lobgesang auf den Jungdramatiker Nis-Momme Stockmann.  Und die Welt stellt den Autor Markus Albers vor, der sich künftig selbst verlegt.

Berliner Zeitung, 25.01.2010

Sehr verletzt äußert sich der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz im Gespräch mit Jan-Philipp Hein über Kritik an seinem in der SZ gezogenen Vergleich zwischen "sogenannter Islamkritik" und "Antisemtismus": "Tatsächlich erfahre ich keine fachliche Kritik und bekomme wissenschaftlich sehr viel Zuspruch. Aber als Person schlägt mir ein ganz unglaublicher Hass entgegen, weil meine Meinung unerwünscht ist." Aktualisierung von 13.30 h: Das längere Original des Interviews steht im Kölner Stadtanzeiger.

Tagesspiegel, 25.01.2010

Henryk M. Broder erklärt, warum er es als Kompliment begreift, wenn deutsche Feuilletonisten ihn und "seine Schwestern" als "Hassprediger" bezeichnen: "Nein, es handelt sich nicht um einen Fall von Islamophobie oder Antisemitismus. Es geht nur darum, dass die beiden 'Türkenbräute' und der 'Judenlümmel' sich nicht so benehmen, wie es von ihnen erwartet wird. Jammertürken, die ständig darüber klagen, wie sie diskriminiert werden, sind sehr beliebt. Ebenso Jammerjuden, die in jeder Talkshow erzählen, wie viele Angehörige sie im Holocaust verloren haben und wie sehr sie sich heute vor der NPD fürchten. Meine Schwestern und ich jammern aber nicht, wir sind aggressiv und offensiv und legen uns auch mit den Milieus an, aus denen wir kommen. Und außerdem brauchen wir niemanden, der für uns spricht."

Spiegel Online, 25.01.2010

Romain Leick erzählt von der neuen Vorführung in Hamburg von Claude Lanzmanns Film "Warum Israel", der diesmal ohne Störung gezeigt werden konnte. Und er macht sich Gedanken über den Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus: "Nicht Kritik an der israelischen Politik verrät Antisemitismus, sondern der Triumph darüber, einen berechtigten Grund für solche Kritik gefunden zu haben. Der Jude mit Fehl und Tadel, also der normale Jude, dient den anderen als Entlastung von ihrer Schuldhaftigkeit."

Welt, 25.01.2010

Thomas Lindemann stellt den Autor Markus Albers ("Morgen komm ich später rein") vor, der sein neues Buch "Meconomy" selbst verlegt - und zwar ausschließlich als E-Book. "Im aktuellen Börsenblatt des deutschen Buchhandels schrieb der Autor daher am Donnerstag einen Gastbeitrag, in dem er letztlich fragt: Brauchen wir Autoren noch Verlage? Für manches schon, für das reine Veröffentlichen von Texten eher nicht. Das selbst produzierte E-Book sei unschlagbar schnell und erkunde neue Formate. Es könne eine Materialsammlung werden, ein Dossier. Und es mache schon dem Autor Spaß, wenn man sich denn gern in neue Techniken hineinfindet. Vor allem aber ist es, wenn es funktioniert, wesentlich lukrativer für Autoren."

Weitere Artikel: Wieland Freund erklärt, warum Apples Tablet nicht Tablet sondern Slate (Schiefer, wie Schiefertafel) sein will. In der Glosse würdigt Matthias Heine den letzte Woche verstorbenen Comiczeichner Jacques Martin, Freund von Herge und letzter der Ligne Claire. Berthold Seewald berichtet von der Tradition der amerikanischen Waffenfirma Trijicon, ihre Präzisionsgeräte mit Codes zu versehen, die auf Bibelsprüche verweisen. Berlinale-Leiter Dieter Kosslick behauptet im Interview, das (bis zur Unkenntlichkeit in die Breite geflossene) Berlinaleprogramm setze "dem Datenmüll" etwas entgegen. Der Kunsthistoriker Christian Hering erklärt, warum der Mann mit der grünen Kappe auf dem Dreikönigsaltar ein Selbstporträt des Malers Stephan Lochner sein könnte. Peter Sander schreibt den Nachruf auf die Schauspielerin Jean Simmons. Besprochen wird Jan Bosses Inszenierung des "Othello" am Wiener Akademietheater.

FR, 25.01.2010

Ziemlich großartig fand Dirk Pilz Jan Bosses Wiener Inszenierung des "Othello" mit einem schuhcremeschwarz angemalten Joachim Meyerhoff: "Es ist das Bild einer zerbröselnden, taumelnden Gesellschaft, das dieser 'Othello' entwirft. Eine Drohung, ein Warngedicht."

Weiteres: Die Evolutionsbiologin Olivia Judson führt in die faszinierende Welt der Dinoflagellaten ein, die unter anderem die Bildung von Korallenriffen ermöglichen. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod von Hollywood-Star Jean Simmons. In Times mager beschäftigt sich Christian Thomas mit dem Porto für rote Briefe.

Besprochen werden Robert Schusters Inszenierung der "Mutter Courage" in Frankfurt, eine Ausstellung zu Tankstellen im Wirtschaftswunder im Deutschen Architekturmuseum und das Album "Qua" des Duos Cluster.

Aus den Blogs, 25.01.2010

Bei BoingBoing stellt Gastblogger Stephen Worth, Director des ASIFA-Hollywood Animation Archive, wunderbare Musikvideos vor - von Nathan Milstein über die Nicholas Brothers zu Shirley Temple.

Hier der wunderbare Nathan Milstein:


Stichwörter: Temple, Shirley

NZZ, 25.01.2010

Ho Nam Seelmann erinnert daran, wie die Japaner während ihrer Kolonialherrschaft über Korea das Land mit brutalsten Mitteln gleichschalteten: "Die koreanische Sprache, die gesprochene wie die geschriebene, wurde wie alles Koreanische als etwas Primitives gebrandmarkt und 1938 ganz verboten. Man verbannte sie nicht nur völlig aus der Öffentlichkeit, sondern die Koreaner sollten sie auch nicht privat zu Hause benutzen. Die Gedankenpolizei suchte nach Koreanern, die zuwiderhandelten, und die Kinder wurden zur Denunziation der Eltern aufgefordert."

Weiteres: Brigitte Kramer porträtiert die katalanische Literaturagentin Carmen Balcell, die vor allem lateinamerikanische Autoren nach Europa geholt hat und die im Interview ihr Erfolgsrezept verrät: "Meine Unbedarftheit." Bettina Spoerri resümiert die Filme, die sie bisher bei den Solothurner Filmtagen gesehen hat.

Besprochen wird Christoph Loys Inszenierung von Paul Claudels "Der Tausch" in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich.

Weitere Medien, 25.01.2010

Die Soziologin Sonja Haug stellt bei Qantara eine Studie über "Muslimisches Leben in Deutschland" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vor. Danach klappt es mit der Integration eigentlich viel besser als oft angenommen. Im Bereich Bildung gibt es allerdings echte Benachteiligungen: "Die gezielte Anwerbung von Arbeitnehmern aus bildungsfernen Schichten wirkt sich noch heute auf die Positionierung ihrer Nachkommen im Bildungsbereich und in der Erwerbsbeteiligung aus." Und das ist ein sehr deutsches Problem der mangelnden sozialen Durchlässigkeit (mehr dazu hier).

TAZ, 25.01.2010

Für ihre monatliche Riesenreportage besucht Gabriele Goettle die Erfinder der "nichtkommerziellen Landwirtschaft" (NKL) auf dem Karlshof (Website) bei Berlin: "Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften, an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen."

Und Tom.

FAZ, 25.01.2010

Zwei Stücke von Nis-Momme Stockmann, dem Shooting Star unter den deutschen Nachwuchsdramatikern, hat Gerhard Stadelmaier gesehen. Und er begreift, was alle Welt in dem jungen Mann sieht: "Er ist nicht der Richter einer verkommenen Welt, nicht der Schuldsprecher und Ankläger der Theorien und Diskurse, mehr der beobachtende Verteidiger der Opfer, der Verständnis zu bieten hat. Sein Terrain: die Familie als Schlachtfeld; die Wohnsiedlung als Kriegsschauplatz. Und Stockmann ist der Sanitäter, der schöne, durchaus poetengesalbte, manchmal leicht kitschgetränkte, immer aber menschenfreundliche Wortwundverbände anlegt. Er ist der Mann, der die Welt schmeckt. Auch wenn nirgends Hoffnung ist - wo Stockmann hintritt, wächst Gras."

Weitere Artikel: Mark Siemons schildert die geharnischten Reaktionen, auf die Hillary Clintons Forderung nach freiem Informationsfluss im Internet bei der chinesischen Regierung bzw. ihren Sprachrohren stößt. Jakob Hessing berichtet, dass sich die von den Zionisten als die ihre gefeierte, im Kampf gegen die Nazis hingerichtete israelische Dichterin Hanna Szenes in ihrem Nachlass als früh enttäuscht über den Aufbau erweist - in Israel will man davon freilich eher nichts wissen. In der Glosse beschreibt Dirk Schümer den Kampf des österreichischen Grünen Ulrich Habsburg-Lothringen, dem seiner adligen Herkunft wegen der Weg zum Bundespräsidentenamt von Rechts wegen verbaut ist. Einen Londoner Vortrag des Autors Will Self über W.G. Sebald hat Gina Thomas gehört. Oliver Tolmein informiert über den erneuten Anlauf des Roger Kusch zur vereinsmäßigen Organisation der Sterbehilfe. Michael Althen schreibt zum Tod der britischen Hollywoodschauspielerin Jean Simmons.

Besprochen werden das Eröffnungskonzert des Berliner Ultraschall-Festivals (Programmübersicht als pdf) mit nicht mehr so Neuer Musik von Dieter Schnebel und Wolfgang Rihm, Jan Bosses Wiener "Othello"-Inszenierung, Alan Simons "Excalibur"-Spektakel in Frankfurt, und Bücher, darunter Jeremy Rifkins Plädoyer "Die empathische Zivilisation" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 25.01.2010

Johannes Willms resümiert eine französische Kontroverse um Yannick Haenels Roman "Jan Karski" über die Rolle des polnischen Widerständlers Karski, der die Amerikaner und Briten als einer der ersten über den Holocaust informierte. Claude Lanzmann, in dessen Film "Shoah" Karski eine große Rolle spielt, und die Historikerin Annette Wieviorka polemisieren gegen den Roman, weil er die Rolle der USA und Englands zu negativ darstelle. Aber ganz von der Hand weisen kann man die Vorwürfe laut Willms nicht: "Angesichts der Fülle und Dichte dieser Informationen kann die gängige Mutmaßung, dass die von den Nazis betriebene systematische Ausrottung von Millionen europäischer Juden den Verantwortlichen in Washington und London schlechthin nicht vorstellbar war, nicht einleuchten." (Hier eine Zusammenfassung des Lanzmann-Artikels aus Le Monde.)

Einigermaßen entsetzt reagiert Christopher Schmidt auf Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Othello" am Wiener Burgtheater mit Joachim Meyerhoff als schwarz angemaltem Othello: "Meyerhoff gibt den Pimp von Venedig mit goldener Bling-Bling-Armbanduhr, Zuhälter-Sonnenbrille und breitem Minstrelshow-Grinsen. Die gutturale Sprachmelodie, die selbstgenießerische Geschmeidigkeit seiner Bewegungen - die Klischees hängen so schwer an ihm wie die reifen Früchte an einem Affenbrotbaum."

Weitere Artikel Bernd Graff meditiert im Aufmacher über die immer größere und unheimlichere Macht der vernetzten Computer, Profile über uns zu erstellen. Thomas Steinfeld meldet, dass die Scorpions aus Altersgründen ausscheiden wollen, kann dies aber nicht gutheißen und verweist auf andere, weiterhin aktive Rockmusiker ("Keith Richards sieht schon seit vielen Jahren so aus, als habe ein dämonischer Arzt einen Schrumpfkopf zum Leben erweckt"). Helmut Mauro schreibt zum Tod des amerikanischen Pianisten Earl Wild. In den "Nachrichten aus dem Netz" zitiert Niklas Hofmann amerikanischen Spott über die Google-Phobie deutscher Zeitungsverleger. Fritz Göttler schreibt zum Tod von Jean Simmons. Desiree Waibel resümiert ein Münchner Symposion über Avantgarden.

Besprochen werden deutsche Filme beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken, neue DVDs, die Ausstellung "The Real Van Gogh - The Artist and His Letters" in London und Bücher, darunter Stephen L. Carters neuer Roman "Schwarz und weiß" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite stellt Werner Bloch das Internetradio ammannet.net vor, "das erste unabhängige, unzensierte und demokratische (Internet-)Radio der arabischen Welt".