Heute in den Feuilletons

Alle 6 Millionen Basen-Paare meiner Sequenz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2009. Die SZ findet: Viel sexyer als die weiblichen Pin-Ups sind bei Botticelli die männlichen. Die FR empfiehlt Frank Castorfs neue Inszenierung: die Mühe lohnt sich. Die FAZ berichtet über ein Zerwürfnis zwischen Katharina Hacker und dem Suhrkamp Verlag. In der NZZ spricht Richard Powers über Gentechnik und seinen neuen Roman. In der Welt plädiert der Historiker Rick Atkinson fürs Erzählen. Dokumentiert ist jetzt auch die bemerkenswerte Rede des freien Journalisten Tom Schimmeck auf den Mainzer Medientagen. Carta fragt: Wer bestimmt den Preis von Werbung?

NZZ, 14.11.2009

In Literatur und Kunst spricht der amerikanische Schriftsteller Richard Powers mit Sieglinde Geisel über seinen Roman neuen Roman "Das größere Glück", über Gentechnik und die Entschlüsselung seines eigenen Genoms: "Mein Genom wurde mir auf einem USB-Stick geschickt. Wenn ich den Stick in einen Computer stecke, kann ich alle 6 Millionen Basen-Paare meiner Sequenz durchgehen, und ich kann jedes einzelne meiner 20 000 Gene anschauen. Wenn ich auf ein Gen klicke, werde ich online zu den neusten Artikeln über dieses Gen geleitet und erfahre, welche Rolle dieses Gen in der Entwicklung des Körpers spielt und welche Gesundheitsrisiken damit in Verbindung gebracht werden. Jede Woche bringt neue Informationen - oft ist es auch die Revision einer früheren Information. So habe ich beispielsweise eine Gen-Variante, die im Jahr 2003 mit Depression in Verbindung gebracht wurde. Kürzlich widerlegte ein Artikel alles Bisherige und kam zum Schluss, dass es keine statistische Korrelation gibt. "

Außerdem verehrt Marc Zitzmann auf einer Seite den Zeichner Sempe. Luzius Keller schreibt über den Spargel bei Proust. Und in den Bildansichten betrachtet Urs Widmer Camille Corots Gemälde "Château-Thierry".

Im Feuilleton kommentiert Uwe Justus Wenzel das Kruzifixurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das Italien zur weltanschaulichen Neutralität im Klassenzimmer verdonnert. Gar nichts hält er etwa von den Versuchen der italienischen Regierung, das Kruzifix nun zu einem abendländischen Euro-Logo umzudeuten. In der Reihe "Mein Stil" schreibt der Produktgestalter Alfredo Häberli: "Für mich ist Stil die Suche nach dem winzig kleinen, echten Zeichen, das wie ein Funken zu mir überspringt, wenn ich etwas anschaue: ein Funken Seele." Andreas Breitenstein besucht Nabokovs einstige Hotelsuite in Montreux. Christian Schaernack meldet vom Kunstmarkt, dass bei den New Yorker Auktionen schon wieder Spitzenpreise erzielt werden.

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich von Gagerns "Ozean" an der wiedereröffneten Volksbüne, Michael Maars Buch "Proust Pharao" und Walter Laqueurs Erinnerungen "Mein 20. Jahrhundert".


Aus den Blogs, 14.11.2009

Eine Verschwörungstheorie? Wolfgang Michal fragt sich in Carta, warum Online-Werbung soviel billiger ist als Printwerbung - obwohl sie effizienter ist. Sollten die Medien und Werbeagenturen dahinterstecken? "Möglicherweise wissen viele Unternehmen nicht einmal, wie günstig und zielgenau sie ihre Kunden im Netz erreichen können. Sie wissen es nicht, weil die Werbeagenturen - die zwischen den großen Werbe-Etats der Unternehmen und den Verlagen vermitteln - dieses Wissen nur ungern an die große Glocke hängen. Sie würden sich ja selbst schaden. Denn in lauter kleine Netz-Häppchen zerlegte Werbebudgets würden nicht den Gewinn, sondern nur die Arbeit vermehren - und die eleganten Mad Men in ständig klamme, hemdsärmelige TKP-Online-Vermarkter verwandeln."

Weitere Medien, 14.11.2009

Christoph Keese, Cheflobbyist des Springer-Verlags, erklärt in der Financial Times, wie er den Journalismus retten will: "Zweierlei ist zu tun: Ein wirksamerer Schutz des geistigen Eigentums gegen ungenehmigte gewerbliche Nutzung ist zu schaffen; das von der Bundesregierung geplante Leistungsschutzrecht für Verlage in Verbindung mit einer Verwertungsgesellschaft Presse/Online wird hierbei helfen. Und der Aufbau von breiten und tiefen Marktplätzen für Journalismus ist voranzutreiben; virtuelle Orte, an denen die Nutzer Beiträge leicht und bequem kaufen können."

Einen sehr lebendigen Eindruck vom Leben als Freier Journalist gab Tom Schimmeck in einer Rede auf den Mainze Medientagen und denkt gleich auch über ALternativen nach: "Vielleicht sollte man auch einfach mal realistisch sein. Und gleich voll auf PR umschulen. Einen Master in Communication & Leadership machen! Für schlappe 26.000 Euro. Es gibt da jetzt einen neuen Studiengang. Berufsbegleitend. An der Quadriga Hochschule für Kommunikationsmanagement in Berlin - unter der weisen Leitung des Ex-Intendanten Peter Voß." (Wenigstens die pensionierten Intendanten der Öffentlich-Rechtlichen haben noch eine Antwort auf die Frage nach dem Geschäftsmodell gefunden!)

TAZ, 14.11.2009

Doris Akrap schwärmt sehr für die in den Sechzigern spielende US-Fernsehserie "Mad Men", die sich gerade als überaus stilprägend erweist: "Küchenradios, Telefone, Autos, Interieurs, Drinks und Dinner, nichts, was in 'Mad Men' auftaucht, ist zufällig. Mit präziser Akkuratesse sind die Protagonisten im Schick der frühen 60er-Jahre gekleidet und frisiert, die Sekretärinnen tragen enge Bleistiftröcke, Tüten-BHs und tiefen Ausschnitt, die Hausfrauen Petticoat, die Herren maßgeschneiderte Flanellanzüge. Rote Etuis, kleine Silberschälchen und bunte mechanische Döschen, aus denen sich karussellartig Zigaretten herausdrehen, sind immer wieder im Bild und senden kleine Botschaften des Fetischs Rauchen. Überhaupt raucht jeder in 'Mad Men', selbst der Gynäkologe während der frauenärztlichen Untersuchung."

Weitere Artikel: Julian Weber porträtiert den legendären Musiker Van Dyke Parks, der für zwei Konzerte nach Deutschland kommt. Anette Jensen unterhält sich mit der Philosophin Christine Ax über ihr neues Buch "Die Könnensgesellschaft".

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich von Gagerns seit 88 Jahren unaufgeführtem Stück "Ozean" ("vertane Chance", bedauert Andreas Fanizadeh), ein Berliner Konzert von Felix Wahnschaffe und seinem Quartett "Das rosa Rauschen" und Bücher, darunter Katrin Seglitz' Roman "Die Bienenkönigin" und Susanne Heims und Ulrich Dillmanns historisches Buch "Fluchtpunkt Karibik" über jüdische Emigranten in der Dominikanischen Republik (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 14.11.2009

Peter Michalzik scheint der einzige auf weiter Flur, der wenigstens ein paar freundliche Worte für Frank Castorfs Volksbühnen-Neustart mit Friedrich von Gagerns "Ozean" findet: "Hat man sich daran gewöhnt, kann man die viereinhalbstündigen Mühen durchaus genießen. Neben den Planen ein paar Paletten, Kisten und Kissen (von Bert Neumann): Das ist das riesige Zwischendeck im Bauch des Schiffes, dessen Bewohner wir alle sind, kein Licht, keine Luft und irgendwann nichts zu fressen und kein Wasser - aber endlos viel Zeit. Klar entwickelt man da Utopien und Revolutionsgedanken. Darum geht's hier, eine unglaublich verstiegene, aber nicht unsympathische Versammlung von Journalisten, Schriftstellern, Revolutionären, Zuhältern, Huren, Geistlichen, schlesischen Webern und Menschen in eben jenem Zwischendeck auf der Reise in die Neue Welt."

Weitere Artikel: In der FR-Serie zur sozialen Frage konstatieren Frauke Hamann und Frank Nullmeier eine weit reichende und vieles lähmende "Marktschicksalsergebenheit". Marcia Pally schreibt in ihrer US-Kolumne über die stetig weiter wachsende Mauer zwischen den USA und Mexiko. Harry Nutt widmet dem versierten Selbstbildproduzenten Karl Theodor zu Guttenberg eine Times Mager.

Besprochen werden das in Berlin aufgeführte Tanzstück "Eonnagata" von Robert Lepage, Sylvie Guillem und Russell Maliphant, Christof Loys Inszenierung von Hans-Werner Henzes Oper "Prinz von Homburg" in Wien, ein Juliette-Lewis-Konzert in Wiesbaden und Daniel Goldhagens neues Buch "Schlimmer als Krieg" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 14.11.2009

In der Literarischen Welt hält der amerikanische Kriegshistoriker Rick Atkinson ein Plädoyer für eine erzählende Geschichtsschreibung: "Das Geschichtenerzählen ist zu wichtig, um es den Romanciers und Stückeschreibern zu überlassen. Vor 250 Jahren bemerkte Voltaire: 'Wie die Tragödie braucht die Geschichte eine Exposition, eine Haupthandlung und eine Lösung. Mein Geheimnis ist, den Leser dazu zu bringen, dass er sich fragt: Wird Philip V. den Thron besteigen?' (...) Mein Geheimnis ist, den Leser zu ermuntern, auf dass er sich fragt: Werden die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewinnen?"

Im Editorial antwortet Tilman Krause auf ungarische Reaktionen zum Kertesz-Interview der Welt vor einer Woche - die Art, wie die Vokabel "entwurzelt" von der chauvinistischen Presse dort benutzt werde, nämlich gänzlich unreflektiert im Sinne des antisemitischen Kampfbegriffs, zeige, dass die Länder des ehemaligen "Ostblocks" "ganz einfach zivilisatorisch auf einer anderen Bewusstseinsstufe leben als der Westen". Außerdem gratuliert Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz ihrem Autor Hans Magnus Enzensberger zum Achtzigsten. Besprochen wird unter anderem Charles Taylors monumentale Studie "Ein säkulares Zeitalter" (mehr hier).

Auf der Feuilletonseite erinnert Uta Baier an Horst Janssen, der heute achtzig Jahre alt geworden wäre. Besprochen wird Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich von Gagerns Stück "Ozean" an der Volksbühne Berlin. Für die Magazinseite traf Michael Miersch den Verhaltensforscher Thomas Bugnyar, der sich mit den unheimlichen und faszinierenden Kolkraben befasst.

SZ, 14.11.2009

Eher lächerlich findet Kia Vahland die Versuche, Sandro Botticellis Frauengemälde als "Pin-Ups" ahistorisch der Gegenwart anzunähern. Mal ganz abgesehen davon, dass seine Männerdarstellungen eigentlich noch interessanter seien: "Man könnte sagen, Botticelli hat mehr für den männlichen Eros getan als für den weiblichen, er hat den Männern die Souveränität der Verletzlichkeit geschenkt, so wie in der - leider nicht ausgeliehenen - Londoner Tafel von Venus und Mars, wo er die zwei Götter ins Gras legt: Sie wohl frisiert, ausgehfertig angezogen, wachen Blickes auf den Freund, selbst kurz nach dem Sex noch Herrin der Lage. Der Krieger dagegen nackt, schlafend, dahingeflossen; machtlos auch gegen die paar Satyrkinder, die seine Waffen verulken."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe unterhält sich mit dem Filmemacher Michael Moore über seine Fortschritte bei der Abschaffung des Kapitalismus. Kurt Kister kommentiert des Verteidigungsministers Guttenberg "Eleganz in Kabul" mit Verweisen auf Gerhard Schröder und Rudyard Kipling. Über den jüngsten, sehr ernst zu nehmenden Streit um die Kirchensteuer berichtet Alexander Kissler. Burkhard Müller denkt über die die in Deutschland wenig gepflegte Kunst der freien Rede nach. Alexander Menden sieht sich das nach Umbau wiedereröffnete Ashmolean Museum in Oxford an. Johannes Boie meldet, dass das Computerspiel "Call of Duty: Modern Warfare 2" gerade alle Verkaufsrekorde bricht. Rainer Gansera gratuliert dem Filmemacher Rudolf Thome zum Siebzigsten.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende sucht Heribert Prantl "den richtigen Dreh" für die SPD. Alexander Klose singt ein Loblied auf die deutschen Straßen. Christoph Haas porträtiert den Musiker Bernd Begemann. Birgit Weidinger meldet, dass es jetzt eine Fortsetzung der Geschichte von Pu, dem Bären gibt. Auf der Historienseite geht es um die Erinnerung an das "monströse Unternehmen 'Barbarossa'". Eva Karcher unterhält sich mit der Architektin Zaha Hadid über "Ecken".

Besprochen werden Frank Castorfs Uraufführung von Friedrich von Gagerns nicht taufrischem Stück "Ozean" an der Berliner Volksbühne (Christopher Schmidt macht ganz kurzen und vernichtenden Prozess), ein Konzert des jungen deutschen Pianisten Martin Helmchen (Wolfgang Schreiber fühlt sich "verzaubert") und Bücher, darunter Heinrich Deterings Gedichtband "Wrist" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 14.11.2009

Katharina Hackers neuer Roman "Alix, Anton und die anderen" erscheint bei Suhrkamp, obwohl die Autorin gern den Verlag gewechselt hätte - aber der Verlag besteht auf Vertragserfüllung, berichtet Felicitas von Lovenberg. Außerdem hat der Verlag auch das für die Erzählweise des Romans wichtige zweispaltige Layout verändert. "Dass Verleger die Autoren, die sie aufgebaut haben, zu halten versuchen, zumal wenn sie dann so anerkannt und erfolgreich sind wie Katharina Hacker, gehört zum Geschäft; das Vorgehen aber, sie notfalls gegen ihren Willen zum Bleiben zu zwingen, trägt despotische Züge."

Weitere Artikel: In der Leitglosse zeigt sich Gina Thomas wenig überzeugt von Computerprogrammen, die Examensarbeiten automatisch bewerten sollen. Jürgen Dollase schimpft über den neuen Guide Michelin für Deutschland, der neue Entwicklungen der Kochkunst nicht angemessen widerspiegele, womöglich um den Bedeutungsverlust der französischen Kochkunst zu kaschieren. Der ehemalige Lektor Walter Kempowskis, Karl Heinz Bittel, erklärt, was es mit einem Tagebuchprojekt für das Jahr 1989 auf sich hat, das am Ende nicht zustandekam

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um ein Projekt des französischen Duos "Something a la mode", das Klassik und Techno zusammen bringt. Martin Wilkening empfiehlt ein Werk für Bariton und Streichquartett des vergessenen und offenbar sehr eigensinnigen Komponist Othmar Schoeck. Und Dieter Bartetzko freut sich über eine französischsprachige CD von Mary Roos. Auf der Medienseite geißelt Edo Reents die "Hofberichterstattung" von Spiegel Online über die Afghanistan-Reise des Verteidigungsministers. Auf der letzten Seite erkunden Melanie Mühl und Marcus Jauer in einer Reportage bei Psychologen und mutigen oder eben nicht so mutigen Menschen, unter welchen Bedingungen Menschen Zivilcourage zeigen.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des DDR-Fotografen Arno Fischer in Bonn, Henzes Oper nach dem "Prinzen von Homburg" im Theater an der Wien und Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich von Gagerns Drama "Ozean".

Für Bilder und Zeiten begeht Tobias Rüther neue Parkanlagen der sich offenbar ins Europäisch-Behagliche wandelnden Stadt New York. Henning Ritter schreibt über Darwins Abscheu vor der Sklaverei. Sonja Hartwig und Kilian Trotier besuchen die ungarische Stadt Pecs, die im nächsten Jahr Kulturhauptstadt sein wird. Und Nina Rehfeld unterhält sich mit Andre Agassi, der Memoiren veröffentlicht hat und bemerkenswert ehrlich über sein Leben spricht.

Zu den besprochenen Büchern gehören Botho Strauß' neuer Band "Vom Aufenthalt" und Eva Menasses neue Erzählungen.

Für die Frankfurter Anthologie liest Hans Christoph Buch ein Gedicht von Georg Heym - "Lichter gehen jetzt die Tage":

"Lichter gehen jetzt die Tage
In der sanften Abendröte
Und die Hecken sind gelichtet,
Drin der Städte Türme stecken
Und die buntbedachten Häuser. (...)"