Heute in den Feuilletons

Viele freiwillige Polizisten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2009. In der FR nimmt Arno Widmann die Titelzeile des neuen Spiegel auseinander:  "Warum auf den Ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste". Die Welt erklärt, was Urban Fantasy ist. In der NZZ erklärt die Übersetzerin Wei Zhang, wie Zensur in China funktioniert. In der SZ erklärt der Internetkritiker David Golumbia, warum er die Begeisterung über die Rolle von Twitter bei den iranischen Unruhen für fatal hält.

FR, 06.07.2009

Im Feuilleton nimmt Arno Widmann die Unterzeile des Spiegel-Titels über den Versailler Frieden auseinander, die da lautet: "Warum auf den Ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste": Die Behauptung einer Zwangsläufigkeit, wie sie in diesem "musste" steckt, so Widmann, "hat immer einen Beigeschmack von: es nicht genau wissen zu wollen. In diesem Fall nun aber kommt hinzu, dass das, was als eine der großen Untaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet wird - die Entfesselung eines Krieges gegen fast ganz Europa -, als notwendiges, also unumgängliches Resultat der Politik eben jener, gegen die der Krieg sich richtete, dargestellt wird. Es ist das nicht etwa das neueste Ergebnis kritischer historischer Forschung, sondern eben die historische Legende, die die alten Nazis in der jungen Bundesrepublik zu verbreiten pflegten. Was als quasi naturgesetzliche Reaktion auf die erniedrigenden Bedingungen des Versailler Vertrages verkauft werden soll, war in Wahrheit ein Rachefeldzug jener Täter, die sich als Opfer stilisierten, um noch einmal Täter sein zu können."

Weiteres: Der deutsche Buchhandel hat laut Börsenverein im vergangenen Jahr einen Umsatz von 9,614 Milliarden Euro gemacht, berichtet Ina Hartwig. Gar nicht schlecht für eine Branche, die angeblich vom Untergang bedroht ist. Und das überraschendste: "Auch wenn der Verkauf per Internet kontinuierlich ansteige, hätten gerade die kleinen und mittleren Buchhandlungen (mit bis zu zehn Angestellten) sich als besonders umsatzstark erwiesen." Judith von Sternburg beobachtet für Times mager die Briten beim Zweiter-Weltkrieg-Spielen.

Besprochen werden Kaija Saariahos Oper "L' Amour de loin" (das Libretto ist von Amin Maalouf) an der English National Opera in London, eine CD von Nouvelle Vague und ein Konzert mit Bruce Springsteen in Frankfurt.

Welt, 06.07.2009

Wieland Freund macht zum Start des sechsten Harry-Potters-Films einen neuen Trend aus: die Urban Fantasy: "Die Fantasy nimmt Abschied vom Auenland, die Dschinns, die Trolle, die Vampire und Feen ziehen in die Stadt. Man stelle sich J.R.R. Tolkiens Zauberer Gandalf oder Rowlings Dumbledore in der Londoner U-Bahn vor, um das Wagnis zu ermessen."

Weiteres: In der Leitglosse fragt Berthold Seewald bang, ob in Bayreuth demnächst solch chaotische Verhältnisse herrschen wie bei der Berliner S-Bahn. Brigitte Röthlein erklärt, wie sich mit Hilfe von Nano-Partikeln die Licht- und Wärmeverteilung in geschlossenen Räumen verbessern lässt. Besprochen werden Christian Stückls entstaubte Version der "Pest" in Oberammergau, Blurs Comeback-Konzert im Londoner Hyde Park sowie Aufführungen von Wagners "Ring" und Mozarts "Idomeneo" in Aix-en-Provence.

NZZ, 06.07.2009

In einem sehr ausführlichen Hintergrund-Artikel schildert die in Zürich lebende Übersetzerin Wei Zhang, wie die chinesische Zensur funktioniert: "Das Kontrollsystem legitimiert sich dadurch, dass sowohl der Überwacher als auch die Überwachten glauben, dass alle Dämme der Selbstkontrolle brächen, wenn die Kontrolle einmal aufhören würde. Die Kulturrevolution hat das System der gegenseitigen Kontrolle noch verfeinert, so dass die Mehrheit der Gesellschaft lieber 'Probleme' meidet, als sich daran die Finger zu verbrennen. Das Zensursystem kann sich insofern auf seine gesellschaftliche Basis und das Vorhandensein vieler freiwilliger Polizisten in allen Lebensbereichen verlassen."

Im Interview mit Carsten Krohn spricht der britische Architekt Richard Rogers über seinen Streit mit Prinz Charles, moderne Architektur und ökologische Stadtplanung: "Mit der Reduzierung des privaten Autoverkehrs kann man sofort zwanzig Prozent an Energie einsparen. Eine natürliche Ventilation kann die Klimaanlagen ersetzen; und mit Grundwasser, das im Winter wärmer, im Sommer aber kälter als die Umgebung ist, kann man die Temperatur regulieren, und das nicht nur bei einzelnen Gebäuden. Weiter hat eine Studie des Green Council gezeigt, dass es umweltverträglicher ist, in einem Haus in der Stadt zu leben, auch wenn dieses kein ökologischer Bau ist, als in einem nach ökologischen Gesichtspunkten entworfenen Haus außerhalb der Stadt. Die kompakte, dichte und unterschiedlich genutzte Stadt ist die einzige nachhaltige Errungenschaft, die wir haben."

Weiteres: Der Biochemiker Gottfried Schatz sorgt sich um eine beständige Speicherung unserer Kultur nach der digitalen Revolution. Besprochen werden eine Ausstellung Alberto Giacomettis in der Fondation Beyeler in Riehen und eine Ausstellung über Juden und Berge im Jüdischen Museum Hohenems.

Spiegel Online, 06.07.2009

(Via Carta Medienlinks) Wir tragen es etwas verspätet nach: Konrad Lischka hat den Google-News-Erfinder Krishna Bharat interviewt, der zugibt, dass Google vor allem das Übliche findet. Aber "wir arbeiten an Methoden, um exklusive, einmalige, wichtige Geschichten zu identifizieren, so dass wir eine entsprechende Kategorie auf News einrichten können."

TAZ, 06.07.2009

Auf der Feier des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum eigenen 25. Geburtstag und dem 60. der Bundesrepublik fand Jan Feddersen vor allem eine Rede des in Turin lehrenden Politologen Gian Enrico Rusconi bemerkenswert: "Rusconis Vortrag bestach durch die Kälte der Analyse des Begriffs von Zivilgesellschaft. Eine Linke, die gegen das Großeganze immer nur diese Vokabel ins Feld führe, verkenne, dass Berlusconi deren Verwahrheitung sei. Er liebe das Informelle, das Kommunikative mit dem Volk - und sei deshalb sehr nah an der klassisch-linken Verachtung für formale Strukturen. Gramsci - ein Theoretiker des Medienministerpräsidenten? Ein Regierungschef, der im Wortsinn alle Fäden zur Zivilgesellschaft in Händen halte - und wisse, was es gut fände? Rusconi gründlich verstanden, muss Gramsci und seine Verherrlichung von Informalität und einer Kultur des (auch immer: völkisch) Ungefähren anders gelesen werden."

Besprochen werden Filme, die sich mit 68 auseinandersetzen (oder auch nicht) beim Münchner Filmfest, das Auftaktkonzert in München zu Brian Wilsons Deutschlandtournee, die Ausstellung "Gesunde Wohnungen - glückliche Menschen" in der Wiener Generali Foundation und die Aufführung des Theaterstücks "The Infernal Comedy" mit John Malkovich im Wiener Ronacher-Theater.

Auf der Meinungsseite fordert Leo Y. Wild, das deutsche Transsexuellengesetz dem Grundgesetz anzupassen.

Und Tom.

FAZ, 06.07.2009

Ein Art Ufo ist in Seoul gelandet, gebaut hat es Rem Kohlhaas. Lang leben wird es nicht, wie Verena Lueken berichtet, die auch ein zwei Wochen dauerndes kleines Filmfestival im Halbdunkel des Gebäudes annonciert: "Das 'Transformer' genannte Gebilde, das Rem Koolhaas und seine Architekten für das Modehaus Prada gebaut haben, ist ein merkwürdiges Ding. Die Stahlträger, aus denen es zusammengesetzt ist, bilden Kreise oder Kreuze, Vierecke oder Sechsecke. Jede dieser Flächen kann Boden sein, Wand oder Decke, und je nachdem, wie man das Ding dreht oder kippt - was ein paar Kräne in wenigen Tagen schaffen -, wird ein offener, lichter Raum daraus oder ein Kino, Galerie oder Laufsteg... Auch sonst handelt dieses Gebäude vom Verschwinden. Im September ist es wieder weg." (Hier gibt es Eindrücke vom Gebäude.)

Weitere Artikel: Swantje Karich informiert über jüngste Mail- und Chatnachrichten aus dem Iran - die Kämpferinnen und Kämpfer klingen sehr erschöpft, müde und auch ein wenig mutlos. Sandra Kegel reicht eher positive Verkaufszahlen vom Buchmarkt weiter. In der Glosse lässt Oliver Jungen Heino den deutschen Manager-Blues singen und weiß, wie man aus dem Grab mit den Lebenden telefoniert. Jürgen Kaube meldet, dass die Historiker sich nicht von deutschen Wissenschaftsrat raten lassen wollen. Im Glossar der Krise befasst sich Uwe Ebbinghaus mit der "Chance". "Oll." schreibt einen Nachruf auf den Neutestamentler Martin Hengel. Jan Brachmann verabschiedet den Intendanten des Konzerhauses am Gendarmenmarkt, Frank Schneider, in den Ruhestand. FAZ-Glückwunsch-würdige Geburtstage feiern in dieser Woche der Filmregisseur Pawel Lungin (60), die Politologin und Academie-Francaise-Vorsitzende Helene Carrere d'Encausse (80) und der Rechtshistoriker Bernhard Diestelkamp (80).

Besprochen werden ein Regina-Spektor-Konzert in Köln, Jens-Daniel Herzogs Münchner Inszenierung von Schillers Carlo-Gozzi-Bearbeitung "Turandot" (für Gerhard Stadelmaier bewegt sich der Abend "zwischen Schwachsinn und Schmarrn") und Bücher, darunter Gedichte und Briefe von Friedrich Glauser (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 06.07.2009

Die SZ gehört zu den deutschen Zeitungen, die während der iranischen Unruhen nur über Twitter berichteten, aber anders als der Guardian oder die New York Times keine neuen journalistischen Formate daraus entwickelten (mehr dazu hier). Nun lässt sich Johannes Boie im Interview vom Internetkritiker David Golumbia bestätigen, das Twitter sowieso überschätzt wurde: "Genau genommen hat der starke Fokus auf den technischen Aspekt die ernsthafte Debatte über das, was wirklich geschieht, sogar gestört. Die Technik-Fans glauben, dass man soziale Probleme mit digitalen Mitteln lösen kann. Nur die allerwenigsten beschäftigen sich allerdings mit den komplexen sozialen Problemen, für deren Lösung man neue Ideen benötigt." Golumbias Buch "The Cultural Logic of Computation" erscheint demnächst in der Harvard University Press.

Weitere Artikel: In den "Nachrichten aus dem Netz" erzählt Dominik Schottner, wie die Indierocksängerin Amanda Palmer von den Dresden Dolls ihre Follower per Twitter dazu brachte, innerhalb von zwei Stunden einen Internetshop aufzumachen und T-Shirts zu verkaufen, die ihr Einnahmen von 19.000 Dollar brachten. Jörg Häntzschel hat sich auf Michael Jacksons Ranch "Neverland" umgesehen ("Man könnte Protz und Prunk erwarten, doch Michael Jacksons Versuche, sich selbst und anderen das Glück zu kaufen, rühren an, statt abzustoßen"). Malte Dahlgrün informiert über eine neue Strömung der amerikanischen Philosophie, die nicht davor zurückscheut, ihre Behauptungen mit Experimenten zu belegen - zu den Autoren gehören Joshua Knobe (mehr hier), Eddy Nahmias (mehr hier) und Stephen Stich (mehr hier). Orhan Pamuk flaniert über die Biennale in Venedig, und wir erfahren: "Ein Gang durch die Biennale ist für mich nur ein Gewinn, wenn ich die gezeigten Arbeiten mit meinen eigenen Vorstellungen und Entwürfen in Verbindung bringen kann." Alexander Kissler beobachtete eine Sloterdijk-Lesung in München, die ihm wie ein Hochamt vorkam.

Auf der Medienseite erklärt Simon Feldmer neue Messverfahren der "Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern" (IVW), um die Werberelevanz von Online-Medien zu ermitteln - Bilderstrecken, mit denen sich auch die SZ hervortat, werden dabei auf der Strecke bleiben.

Besprochen werden Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Schillers "Turandot" in München, neue DVDs, eine CD mit Beethoven-Variationen, eingespielt von dem jungen Pianisten Florian Uhlig (Joachim Kaiser findet sie bezaubernd), eine "Götterdämmerung" mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle in Aix-en-Provence und Bücher, darunter ein Band, der die Intentionen der Neuerrichter des Berliner Stadtschlosses erklärt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf Seite 2 bringt die SZ einen Artikel des iranischen Journalisten Issa Saharkhiz: "Der Konfrontationskurs der Machthaber gegen eine Mehrheit der Bevölkerung wird die Legitimität des Systems und seiner Führung als Ganzes in Frage stellen - und dies über die Tatsache hinaus, dass sich die Bevölkerung standhaft weigert, die Wahlergebnisse zu akzeptieren." Saharkhiz scheint inzwischen festgenommen zu sein. Die Ynet News meldeten gestern, dass sein Sohn Mehdi Saharkhiz in seinem Blog Achmadinedschad in scharfen Worten aufforderte, seinen Vater aus der Haft zu entlassen. Auch die FR berichtet über zahlreiche Festnahmen im Iran.