Heute in den Feuilletons

Castros Robespierre

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2008. Steven Soderberghs Biopic über Che Guevara lässt die Kritiker an der Croisette ratlos zurück. Die taz greift den Streit um den Verkauf des Aufbau-Verlags durch die Treuhand auf. Die SZ goutiert das Plagiat, zumindest in der Literaturtheorie. Die NZZ findet den deutschen Neofeminismus reichlich unbedarft. In der FR erinnert Christoph Nix an sein Wirken in der Schülergruppe Ho-Chi-Minh.

NZZ, 23.05.2008

Joachim Güntner rümpft die Nase über die "die theoretische Unbedarftheit des neudeutschen Feminismus" von Jana Hensel, Elisabeth Raether oder Charlotte Roche. Er empfiehlt lieber Walter Hollsteins Buch "Was vom Manne übrig blieb", blickt "neidvoll auf seine Geschlechtsgenossen in Osteuropa und seufzt: Pole müsste man sein; gern auch Bulgare oder Ukrainer. Das ist natürlich nur eine kurze Anwandlung, und sie wird pflichtschuldigst unterdrückt. So ganz aber kann er nicht verdrängen, welche Verhältnisse auf den Straßen und in den Restaurants von Breslau, Sofia oder Lwow herrschen, wie sehr sich die Männer dort gehen lassen dürfen und wie wenig das die Frauen stört. Simpel gekleidete, aus dem Leim gehende Typen an der Seite eleganter feingliedriger Weibchen. Als er eine Polin fragte, wie das denn möglich sei, dass solche verfetteten Kerle mit Frauen solchen Formats - da lachte sie und meinte, Männer müssten nun mal 'stattlich' sein. Stattlich? Sind das, wollte er bissig erwidern, nicht vielmehr Fleischklöße? Aber die Antwort gab er sich gleich selbst: Besser ein in sich ruhender Kloß als ein desperates armes Würstchen."

Weiteres: Rudolf Stamm fasst die Ereignisse des Pariser Mai 1968 zusammen, die er als Korrespondent miterlebt hat, und beschreibt sowohl die Universitätsreform als auch die generelle Auflockerung der "verstaubten Ordnung" als Ergebnis der Revolte. Christian Gasser stellt die neuen autobiografischen Comics von Lewis Trondheim und Hideo Azuma vor. Eine Meldung informiert uns über die drohende Zwangsversteigerung des großen Landhauses der Schriftstellerin Edith Wharton.

Besprochen werden "Sex brennt", eine Ausstellung zum Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld im Medizinhistorischen Museum der Berliner Charite, die Ausstellung "Enigma Helvetia" in zwei Museen Luganos sowie neue Musik von Bernadette La Hengst, A Mountain of One, Neil Diamond und Paul Weller.

Sind die Medienhäuser in Gefahr, von Private-Equity-Firmen ausgesaugt zu werden? Laut Christian Zabel und Jan Lingemann besteht diese Gefahr nicht. "Die Finanzinvestoren beteiligen sich in erster Linie an Kabelnetzen, Kinoketten, Satellitenbetreibern sowie an den nur mittelbar publizistischen Verteilmedien wie Adressbuchverlagen oder Informationsdiensten (siehe Tabelle). Die PE-Häuser bevorzugen offenbar Segmente mit stabilen Geschäftsmodellen, die kaum vom volatilen Werbemarkt abhängen und die durch hohe Cashflows und Margen gekennzeichnet sind. Dieses Anforderungsprofil erfüllt die riskante und kostspielige publizistische Inhalteproduktion nur begrenzt."

Weitere Artikel: ras. empfiehlt europäischen Zeitungen, sich weniger vor global agierenden Investoren zu fürchten und lieber von ihnen zu lernen: "dass beispielsweise ein Blick über den Gartenzaun neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet." Christian Meier untersucht den Trend zum grünen Lifestyle in der Medienlandschaft. Ruth Haener denkt über Vorteile und Risiken des eGovernments nach. Leif Kramp beschreibt das weltgrößte Archiv für audiovisuelle Inhalte in der Library of Congress.

TAZ, 23.05.2008

Der Streit um den Verkauf des Aufbau-Verlags durch die Treuhand hat ein weiteres Nachspiel. Anhand eines vom jetzigen Eigentümer Bernd F. Lunkewitz veröffentlichten Briefwechsels ist für Jörg Sundermeier weitgehend klar, dass der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink der Treuhand 1995 ein Gefälligkeitsgutachten ausstellte. "Unter www.buchmarkt.de kann man seit Montag die Originaldokumente des oben erwähnten Briefwechsels einsehen. Ihnen ist zu entnehmen, dass, was Schlink tat, nicht so hochanständig aussieht, wie Schlink es gern hätte. Sein Assistent Hohmann nämlich teilte der Treuhandanstalt/BVS im Dezember 1994 mit, dass sie gegenüber Lunkewitz' Ansprüchen auf 'verlorenem Posten' stehe. 'Deshalb habe ich auch davon Abstand genommen, Herrn Prof. Schlink von mir aus einzuschalten ?' Rund drei Monate später schickte Schlink der Treuhand/BVS eine Rechnung für ein gemeinsam mit Hohmann erstelltes, nun komplett anders lautendes Gutachten. Und schlimmer noch: Ein Mitarbeiter der Treuhand/BVS bezeichnete es als 'Gutachten, das unter unserer Mitarbeit entstanden ist'."

Die Videospiele "Rockband" und "Guitar Hero", in denen die Spieler mit kleinen Plastikinstrumenten Rockmusiker imitieren können, werden mittlerweile von echten Bands mit Liedern beliefert, wie Carsten Göring berichtet. Detlef Diederichsen erinnert an die kalifornische Hippie-Band "The Grateful Dead", die nun 18 ihrer Songs für "Rockband" aufbereitet haben. In Cannes langweilt sich Cristina Nord mit Steven Soderberghs viereinhalbstündigem "Che"-Epos. In der zweiten taz nähert sich David Denk dem Moderatorenveteran Hugo Egon Balder.

Gemeinsam besprochen werden Platten von den La's, den Charlatans und von James.

Und Tom.

Welt, 23.05.2008

Ziemlich ratlos hat Steven Soderberghs fünfstündiges Film-Doppel "Che" Hanns-Georg Rodek in Cannes zurückgelassen: "Wir bekommen weitgehend das Heiligenabziehbild von St. Revoluzionario zu sehen, der streng aber gerecht ist, seine Genossen nicht im Stich lässt und selbst noch auf der Flucht Zeit findet, sich um die Zähne armer Eingeborenenkinder zu kümmern. Die weißen Stellen in unserem Bild des ausgebildeten Arztes - seine Terrorherrschaft als Castros Robespierre, sein Scheitern im Kongo - spart Soderbergh konsequent aus. Selbst sein Liebesleben wird auf ein Minimum reduziert, was Franka Potente erneut eine äußerst undankbare Rolle einbringt."

Weiteres: Uwe Wittstock preist die "großartige", "liebevoll und sorgfältig zusammengestellte" Ausstellung "Die Launen des Olymp" im Frankfurter Liebieghaus, die sich mit exzellenten Leihgaben dem musikalischen Wettstreit zwischen Marsyas und Apoll widmet. Für Josef Engels kann das sonderbare Wiederauftauchen von Jaco Pastorius' legendärem Fender-Jazz-Bass nicht darüber hinwegtäuschen, dass die große Zeit der Bassisten vorbei ist. Ausführlichst begutachtet Hendrik Werner das dürre Gefühlsleben deutscher Tatort-Kommissare. Peter Dittmar setzt Hoffnungen auf die EU-Initiative, Garantien für auf Reisen geschickte Kunstwerke zu übernehmen.

Besprochen werden Luc Bondys Inszenierung von Marivaux' "La Seconde Surprise de l'amour" und Nathan Englanders Debütroman "Das Ministerium für besondere Fälle".

FR, 23.05.2008

Christoph Nix, Jahrgang 1954 und heute Intendant des Theaters in Konstanz, erinnert sich aus der Perspektive des überzeugten Provinzlers an das Jahr 1968: "Mitten auf dem Lande, also in Mittelhessen haben wir im Frühjahr 1968 die 'Schülergruppe Ho-Chi-Minh' gegründet. Wir haben den kleinen dünnen Mann verehrt, weil er im Gartenhaus gewohnt hat und auch noch Gedichte schrieb. Wir wollten etwas haben von dieser Bescheidenheit und doch auch rauskommen aus dem Ländlichen, aber wir haben den Städtern misstraut, ihren Kopfgeburten und ihrer Kühlheit, wir haben uns eins gefühlt mit der großen antiautoritären Bewegung des Jahres 1968, aber wir sind den großen Stadtbewegungen immer fremd geblieben, ... wir kamen vom Lande und da hat man Minderwertigkeitskomplexe, aber wir wussten, dass letztlich die Revolution vom Lande herkommt, aus dem Westerwald und aus Bolivien."

Weitere Artikel: Steven Soderberghs viereinhalbstündiger Che-Guevara-Film in Cannes war für Daniel Kothenschulte eine "frustrierende Seherfahrung". Judith Sternburg widmet der Frage nach dem Anspruch auf Ellenbogenfreiheit zum Beispiel im Kino eine Times Mager. Den Comic-Szenaristen Alan Moore porträtiert Sebastian Gehrmann. Über den Streit um die Innensanierung der Berliner Lindenoper informiert Harry Nutt. David Goeßmann verabschiedet "Polylux" und "Radio Multi-Kulti", die beide aus Kostengründen vom Sender RBB eingestellt werden.

Besprochen werden die Ausstellung des Werks "Red Broken Mountainous Labyrinth" der Künstlerin Haegue Yang im Frankfurter Portikus, Igor Bauersimas Stuttgarter Inszenierung von Rossinis Oper "Le Comte Ory", ein Frankfurter Konzert des Singer/Songwriters Kevin Devine und Bücher, darunter Alexandra Lavizzaris Biografie "Fast eine Liebe. Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 23.05.2008

Christian Geyer nutzt die Glosse für ein flammendes Enkomion auf die, wie er findet, geborene Bundespräsidentin Gesine Schwan. Im Gespräch mit Angela Heinick spricht der Künstler Richard Serra über sein aktuelles Werk "Promenade" im Pariser Grand Palais - und auch darüber, wie er auf die Stahlplatte kam. Jürg Altwegg kommentiert den Fund eines Gedichts des sechzehnjährigen Arthur Rimbaud über Bismarck - und übersetzt den Text gleich dazu. Extra nach Lübeck gefahren ist Patrick Bahners, um dort Günter Grass und Joschka Fischer über 68 diskutieren zu hören. Und Literaturredakteur Hubert Spiegel ist gar, um die Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu besuchen, ins galizische Lemberg bzw. ins ukrainische Lviv gereist. In Cannes hat sich unterdessen Verena Lueken in Steven Soderberghs Viereinhalb-Stünder über Che Guevara rechtschaffen gelangweilt. Den Zustand der "rechtsextremen Regionalpartei" NPD vor ihrem Parteitag analysiert Olaf Sundermeyer. Andreas Platthaus gratuliert der von Philippe Geluck geschaffenen Comic-Figur "le Chat" (Bilder) zum Fünfundzwanzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Launen des Olymp" im Frankfurter Liebieghaus, Tilmann Köhlers "Hamlet"-Inszenierung am Berliner Gorki-Theater, Giuseppe Tornatores Film "Die Unbekannte" und Bücher, darunter mehrere von und über Annemarie Schwarzenbach, die heute ihren hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, und Hans Beltings Blickgeschichte "Florenz und Bagdad" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 23.05.2008

Lothar Müller greift das in der London Review of Books publizierte, postmodern verspiegelte Bekenntnis zum Plagiat des Anglisten Kevin Kopelson auf (das wir in unserer Magazinrundschau so resümierten): "Kopelsons Text setzt die Schere zwischen der juristischen Belangbarkeit des Plagiats und seiner Unbelangbarkeit in der Literaturtheorie voraus. Seine Apologie des Plagiats sagt: ich plagiiere die Texte derjenigen Kollegen, mit denen ich mich identifiziere. Ich identifiziere mich so sehr, dass ich mit ihrer Stimme spreche. So ist sein Text unter der Rousseau-Maske ein launiges Spiel mit dem Tabu: nahezu alle Kollegen, die er ausgeschlachtet zu haben behauptet, gehören zum engeren Freundeskreis, der sich ohnehin dauernd wechselseitig zitiert. Es ist der Freundeskreis der 'queer studies', deren Texte von Anspielungen auf die eigene (männliche oder weibliche) Homosexualität durchsetzt sind." Auch Gawker hat den Text kommentiert.

Weitere Artikel: Thomas Urban führt ein in die nicht unkomplizierte, aber erbitterte polnische Historikerdebatte zwischen Bogdan Musial und dem viel geehrten Wlodzimierz Borodziej, dem Musial vorwirft, den Kommunisten zu nahe gestanden und die Rolle der Polen bei der Vertreibung der Deutschen falsch dargestellt zu haben. Volker Breidecker erinnert an Annemarie Schwarzenbach, die heute hundert Jahre alt würde. Jens Bisky verteidigt den "sozialistischen Klassizismus" des jetzigen Zuschauersaals der Berliner Staatsoper, der durch einen publikumsfreundlicheren ersetzt werden soll. Helmut Böttiger berichtet über einen Czernowitzer Streit um die Frage, ob das als solches ausgewiesene und mit Plaketten versehene Haus tatsächlich das Kindheitshaus Celans war. Johannes Willms begutachtet eine von Richard Serra für das Pariser Grand Palais geschaffene Monumentalplastik (mehr dazu hier). Günter Kowa kommentiert den unklar ausgegangenen Wettbewerb um die Ergänzung der von Walter Gropius entworfenen, im Krieg zum Teil zerstörten Dessauer Meisterhaussiedlung. Tobias Kniebe berichtet aus Cannes über Soderberghs "Che". Volker Breidecker verfolgte Vorträge des Ägyptologen Jan Assmann in Luzern.

Besprochen werden Vladimir Malakhovs Choreografie "With / out tutu" an der Berliner Staatsoper, Hilary Hahns Aufnahme des Violinkonzerts von Arnold Schönberg, Tilman Köhlers "Hamlet"-Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater, Peter Steins Inszenierungen von Opern Dallapiccolas und Bartoks an der Scala, Giuseppe Tornatores Film "Die Unbekannte" und Bücher, darunter James Sheehans Studie "Kontinent der Gewalt - Europas langer Weg zum Frieden" (mehr hier).