Heute in den Feuilletons

Langgezogenes Boooom der Basstrommel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2008. Die taz erklärt, wie die Musikindustrie jetzt ihre letzten Kunden vergrätzen will. Die NZZ outet die arrangierte Ehe nach indischer Tradition als topmoderne Dating-Technik, welche jetzt von der BBC zur Reality-Show verarbeitet wird. In der FAZ erklärt die Autorin Barbara Frischmuth, warum sich immer mehr türkische Intellektuelle für die alevitische Kultur interessieren. Und die FR erlebte in der ratzebutz ausverkauften Alten Oper, wie Julia Fischer fast gleichzeitig Geige und Klavier spielte, und zwar erstklassig. Die SZ meldet: Das momentane große Ding heißt Baile Funk.

TAZ, 04.01.2008

In der taz ist heute die massive Klagewelle der Musikindustrie gegen Tauschbörsennutzer Titelthema. Thomas Winkler hat in einem großen Hintergrundbericht Daten und Zahlen: "Es ist das Prinzip Abschreckung: Die Musikindustrie will, so hat sie ganz offiziell verkündet, möglichst flächendeckend Strafverfahren einleiten, sodass irgendwann jeder potenzielle Kunde einen ertappten Downloader kennt oder zumindest von einem gehört hat. Dass sehr viele der File-Sharer minderjährig sind, stört da nicht: Haftbar ist der Besitzer des Internetanschlusses, also im Zweifel die Eltern. Jeden, so die übermittelte Botschaft, kann es erwischen." Im Titelkommentar konstatiert Tobias Rapp, dass der Musikindustrie nicht mehr zu helfen ist: "Von einer Industrie, die in wenigen Jahren fast die Hälfte ihres Umsatzes eingebüßt hat, müsste man eigentlich die Einsicht erwarten können, dass ihr Produkt zu teuer ist und irgendetwas mit dem Vertrieb nicht stimmt."

In einem weiteren Artikel erklärt Tobias Rapp außerdem, warum es mit der Single-Kultur im Reggae zuende geht. Cord Riechelmann ist in Tasmanien Blutegeln, Zypressen, aber keinen Aborigines begegnet. Besprochen werden neue CDs von Radiohead und Get Well Soon. Auf der Meinungsseite stellt Wolfgang Neskovic, rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion, fest, dass natürlich auch die Computer potenzieller Terroristen verfassungsrechtlichen Schutz genießen und nicht einfach heimlich durchsucht werden dürfen..

In der zweiten taz berichtet Erik Heier von schweren Vergiftungen in Leipzig: Hier wurde mit Blei versetztes Marihuana verkauft. Philipp Mausshardt kommentiert in seiner Kolumne die Tatsache, dass Amerikaner Fleisch und Fisch nur ertragen, wenn sie weder nach Fleisch noch nach Fisch aussehen. Lana Stille staunt, dass Steffi Graf noch immer die beliebteste Deutsche sein soll.

NZZ, 04.01.2008

Auf der Medienseite berichtet Lilo Weber von einer Reality-Show der BBC, "Arrange Me a Marriage", die zeigen will, "dass die Kultur orientalischer Ehestiftung keineswegs eine bäuerliche Sitte aus dem letzten Jahrhundert ist, sondern eine Dating-Technik, die sich durchaus mit modernem Leben verbinden lässt": "'Typische Briten treffen jemanden rein zufällig', sagt Aneela Rahman einer Nation von mehr und mehr Einzelmenschen: 'Man geht aus, betrinkt sich, fällt ins Bett, um Jahre später aufzuwachsen und sich zu fragen, warum man immer noch Single ist. Man würde kein Auto und kein Haus betrunken kaufen, warum also erwartet jemand, so einen Lebenspartner zu finden?'"

Religiöse Propaganda, frömmelnden Kitsch und viel Belanglosigkeit hat ein zunehmend verärgerter Heribert Seifert im ZDF-Blog dreier Mekka-Pilger entdeckt: "Wir lesen und sehen, wie das 'Verkehrschaos in Mekka' den Pilgern die Fahrt zu den heiligen Stätten beschwerlich macht, hören, was Mariam, eine Konvertitin aus Hamburg, vom Besuch der Kaaba erwartet ('Ich bin total neugierig'), und sind dabei, wenn persische Pilger in freudiger Aufregung dem Besuch des iranischen Präsidenten entgegenfiebern. Da gibt es schon einmal Misstöne, wenn die frommen Pilger plötzlich in 'Tod Amerika'-Rufe ausbrechen, was vielleicht nicht ganz zur spirituellen Atmosphäre des Ortes passt, von dem die ZDF-Blogger sonst schwärmen."

Im Feuilleton erklärt Renate Klett, was es mit dem Festival für Monodramen im arabischen Emirat Fujairah auf sich hat. Urs Hafner fragt, was sich hinter dem neuen Zürcher Studiengang für angewandte Geschichtswissenschaft verbirgt. Peter Kropmanns besucht eine Ausstellung zu Chaim Soutine in der Pinacotheque in Paris. Stephan Templ besichtigt das Kloster des Architekten John Pawson im tschechischen Novy Dvur. Auf der Phono-Seite stellt Marco Frei Werner X. Uehlinger und dessen Label HatHut vor, Rolf Urs Ringger hört Werke von Franz Schreker und seinen Schülern.

Welt, 04.01.2008

Bei Gießen soll ein Kelten-Museum gebaut werden. Aus diesem Anlass fragt Dankwart Guratzsch: "Was wissen wir wirklich über diese Vorfahren?" Uta Baier kommentiert ein amerikanisches Urteil, das nun auch Kunstwerke aus jüdischem Besitz als unrechtmäßig erworben ansieht, die mit - zumeist ja erzwungener - Zustimmung des ehemaligen Besitzers versteigert wurden. Siegfried Tesche berichtet, dass die Freilichtbühne Bregenz mit ihrer aktuellen "Tosca"-Produktion einer der Drehorte für den nächsten "Bond" sein wird. Michael Loesl unterhält sich mit dem Elektronikmusiker Jean-Michel Jarre über sein vor dreißig Jahren erschienenes Album "Oxygene". Der Dokumenarfilmer Uli Gaulke hat in seinem neuen Film "Comrades in Dreams" Filmvorführer in mehreren Ländern porträtiert und schildert seine Erlebnisse in Nordkorea. Und Michael Brug schreibt über verschiedene Versionen von Rossini-Opern, die an manchen Häusern gar parallel aufgeführt werden.

Außerdem startet die Welt eine tägliche Reihe über das Epochenjahr 1968. Tag für Tag wird an ein Ereignis vor vierzig Jahren erinnert. Heute an den "Congresso Cultural de Habana", wo unter Präsenz von Hans Magnus Enzensberger mehrstündige Castro-Reden abgehalten wurden.

Im Forum plädiert der Urbanist Gerd Held für einen erweiterten Begriff der architektonischen Moderne. Und Maxeiner und Miersch sehen die Proteste der Aleviten gegen einen "Tatort" als gerechtfertigt an, weil er - vielleicht unbewusst - Ressentiments bedient habe, wie übrigens ihrer Meinung nach viele deutsche Fernsehkrimis: "Gerüchte, die selbst in Kreisen von Verschwörungsgläubigen umstritten sind, können umstandslos zur besten Sendezeit ausgebreitet werden - es muss nur Krimi draufstehen. Zum Beispiel habe hinter der RAF das BKA gesteckt. Dafür gab es sogar den Adolf-Grimme-Preis. Wie kommt das?"

Ferner verweisen wir auf die qualitätsjournalistische Bildstrecke "Die schönsten Frauen 2007 - Hat Maxim Ihren Geschmack getroffen?" 100 Bilder, 100 Klicks - gratuliere!

FAZ, 04.01.2008

Die Schriftstellerin Barbara Frischmuth hat sich in ihren Romanen mit den Aleviten befasst, die durch ihren Protest gegen eine "Tatort"-Folge gerade in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind. Zur Lage der Religionsgmeinschaft in der Türkei erklärt Frischmuth im Interview: "Auf der einen Seite interessieren sich vor allem türkische Intellektuelle immer mehr für die alevitische Kultur. Denn das alevitische Religionsmodell ist ein nichtwestliches und hat sich gleichzeitig als viel kompatibler für die Moderne gezeigt als das der Sunniten. Viele Türken entdecken plötzlich ihre alevitischen Wurzeln. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Konflikte mit orthodoxen Muslimen. Die Aleviten sind sehr enttäuscht worden in der Türkei. Man hatte versprochen, sie als Religionsgemeinschaft anzuerkennen. Doch das ist bis heute nicht der Fall."

Weitere Artikel: Von Mark Siemons gibt es die erste Lieferung eines "Olympischen Lexikons" - darin werden wir zunächst von A wie Ausländer bis C wie Chinglish über "China im Jahr seiner größten Bewährung" aufgeklärt. Dirk Schümer stellt kurz einen holländischen YouTube-Film vor, in dem Al Qaida verulkt wird: Eine "Liberation Army Against Freedom" scheitert darin beim Zünden einer Silvesterrakete. Verena Lueken findet in der Glosse, dass die Cannes-Entscheidung, Sean Penn den Jury-Vorsitz zu geben, die Berlinale mit Constantin Costa-Gavras mal wieder alt aussehen lässt. Der Jurist Walter Grasnick weiß, was, wie er meint, kaum einer weiß, auch unter den Juristen nicht - dass es im deutschen Recht nämlich nicht auf das Was der Gesetze, sondern auf das Wie des Rechtsprechens ankommt. Über die Verhältnisse in Kenia und ihre Vorgeschichten informiert Andreas Eckert. Eduard Beaucamp freut sich darüber, dass Deutschland endgültig die Nachkriegsskrupel gegenüber altdeutscher Kunst hinter sich gelassen hat. Heftigen Einspruch erhebt Dieter Bartetzko gegen Christoph Schlingensiefs Schauspielerbeschimpfung: das eigentliche Übel des Gegenwartstheaters seien doch die Regisseure. Noemi Smolik porträtiert die Performerin Joan Jonas, zu der der Ruhm erst relativ spät kam. Gerhard Stadelmaier würdigt den mit dreiundneunzig Jahren vestorbenen Theaterkritiker und Satiriker Armin Eichholz.

Besprochen werden die Aufführung des wirklichkeitsnahen Stücks "Caucus!" im vorwahlkampfgeplagten Iowa, die Amadeo de Souza-Cardoso-Ausstellung in Hamburg, eine Ausstellung mit Fotografien von Zoe Leonard in Winterthur, die Shrinking-Cities-Ausstellung im Architekturmuseum Frankfurt und Bücher, darunter Michael Walkers Hippie-Geschichtsbuch "Laurel Canyon" und Lars Fiskes und Steffen Kvernelands Gulbransson-Sachcomic "Olaf G." (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 04.01.2008

Medienlese präsentiert einige Voraussagen für das Internetjahr 2008 aus Blogs und Medien, zum Beispiel diese aus Thomas Knüwers Blog Indiskretion Ehrensache: "Geht es der Wirtschaft nach den vergangen recht guten zwei Jahren wieder mieser, werden die Werbeeinnahmen sinken. Und so könnte es schon Ende 2008, spätestens aber Mitte 2009 zur nächsten Entlassungswelle bei Print-Journalisten kommen."
Stichwörter: Blogs

FR, 04.01.2008

Dieses Silvester hat Arno Widmann nicht bügelnd zu Hause verbracht, sondern Mund und Ohren aufsperrend in der Frankfurter Oper. Da gab's nämlich eine Sensation namens Julia Fischer. "Vor der Pause des 1822-Neujahrskonzerts im ratzebutz ausverkauften Großen Saal der Frankfurter Alten Oper spielte sie eines der Glanz- und Renommierstücke des Violinenrepertoires, Camille Saint-Saens 3. Violinkonzert, opus 61 aus dem Jahre 1880, nach der Pause setzte sie sich an den Flügel und spielte das eher noch schwierigere Klavierkonzert a-moll, opus 16 von Edvard Grieg aus dem Jahre 1868. Mit Sicherheit kann man es natürlich nicht sagen, aber es ist ganz unwahrscheinlich, dass es so etwas schon einmal gegeben hat. Aber ganz und gar sicher ist, dass wer immer schon einmal beides in einem Konzert spielte - es ist ausgeschlossen, dass er es so frei, so souverän, so sicher, so begeisternd tat wie Julia Fischer. Man hätte davon gehört."

Weiteres: Thomas Winkler untersucht das Phänomen Udo Jürgens, der mit 73 Jahren "noch problemlos die größten Konzerthallen der Republik füllt". Tilman P. Gangloff hat sich von Fernsehproduzenten die neuesten Marketingstrategien vorstellen lassen. In Times Mager hält Daniel Kothenschulte fest, dass immer weniger Independent-Filme in deutsche Kinos kommen. Besprochen werden Bücher, darunter Wolfgang Pytas Hindenburg-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.01.2008

Benedikt Sarreiter hat den amerikanischen DJ Diplo auf der Suche nach den neuesten Beats in Rio de Janeiro beobachtet. Das momentane große Ding heißt Baile Funk und entwickelte sich aus Miami Bass. "Nach und nach entwickelten die brasilianischen Produzenten einen eigenen Beat, den Tamborzao. Sie ersetzten die elektrischen Rhythmen der amerikanischen Vorbilder mit den Perkussionsklängen des Samba. Die Kickdrum, ein langgezogenes 'Boooom' der Basstrommel, mit dem schon Galeerensklaven angetrieben wurden, ist im heutigen Baile Funk oft eine mit Soundeffekten bearbeitete Atabaque, die brasilianische Conga. Das Beatmuster blieb erhalten. Nach dem letzten knallend nachhallenden spitzen Snare-Geräusch jedes Taktes hält der Beat kurz inne, stürzt fast ab, bevor ihn die Tieffrequenz-Bassdrum auffängt und alles weiter rollt." Derweil ist Mr. Diplo schon ein wenig weiter. "Von seinem Besuch in Buenos Aires hat er 30 CDs mit Cumbia Villera mitgebracht ... ja klar, Cumbia ist das nächste große Pop-Ding", über das Arte allerdings schon 2003 berichtete.

Weitere Artikel: Christian Kortmann beobachtet einen Trend zu Übergrößen bei Kühlschränken, Sonnenbrillen und Herrenarmbanduhren. Jsl. meldet weitere skeptische Bemerkungen von Altertumsforschern zu Raoul Schrotts "Homer als Kilikier"-These. Franziska Brüning berichtet von einer frischen Brise im französischen Erziehungssystem, die Kinderbücher wie Pippi Langstrumpf ausgelöst haben. Florian Kessler besucht das amerikanische Soldatentheater in Heidelberg wo ein "Seussical" gegeben wurde. Der emeritierte Völkerrechtler Michael Bothe beschreibt seine Erwartungen an das Völkerrecht in Bezug auf Friedenserhaltung, Schutz der Menschenrechte, Umweltschutz und eine faire Wirtschaftsordnung. Christine Dössel schreibt zum Tod des Münchner Kritikers und Satirikers Armin Eichholz.

Besprochen werden eine Rekonstruktion der Werkbund-Ausstellung Paris 1930 im Bauhaus-Archiv Berlin, eine Ausstellung des Fotokünstlers Jeff Wall im Guggenheim Berlin und Bücher, darunter Joe Boyds "White Bicycles", ein Buch über die Musik in den 60er Jahren (mehr in unserer Bücherschau heute aber 14 Uhr).