Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2007. In der Welt erklärt Gore Vidal das Sexualverhalten in den literarischen Zirkeln der USA. Die FR erzählt, was Dani Levy in seinem Film "Der Führer" weggelassen hat. Die taz verstrickt sich in den Verzweigungen der Dancefloor-Musik. Die SZ berichtet von Kunst stehlenden amerikanischen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Die FAZ beschreibt die Aktivitäten des Penguin Verlags in China.

Welt, 09.01.2007

Gore Vidal, dessen letzter Memoirenband gerade erschienen ist, spricht im Interview über die nächsten Wahlen in den USA, Hollywood, den Islam und seinen langjährigen Lebensgefährten Howard, den er auf dem Sterbebett zum ersten Mal geküsst habe. "... in Amerika gilt jede Beziehung gleich als sexuell. Viele Beziehungen sind es nicht. Ich predige das den Briten seit Jahren. Sie werden wütend, insbesondere wenn ich auf den Bloomsbury-Kreis zu sprechen komme, wo jeder jedermanns Mann, Frau oder Kind gebumst hat. Inzest war tatsächlich nichts Unbekanntes. Mir könnte es egaler nicht sein. Wenn es das ist, was die Leute wollen - mich geht es nicht an. Hier in den literarischen Zirkeln der USA aber gehen wir mit Freunden nicht ins Bett. Ich wüsste keine zwei Freunde, die Sex miteinander gehabt hätten. Ich spreche hier nicht von Heterosexuellen."

Weitere Artikel: Großbritannien, du hast es besser, seufzt Michael Pilz mit Blick auf die dortigen Hitparaden, die seit dem 1. Januar auch Downloads auswerten. Wolfgang Sofsky hält die "Nivellierung weltanschaulicher Gegensätze" in Deutschland, die alle und jeden zu potentiellen Freunden macht, für einen Fehler. Ulli Kulke verneigt sich vor Daisy Duck, die vor 70 Jahren erstmals die Bühne betrat. Thomas Kielinger meldet erfreut, dass der Vatikan Oscar Wilde in eine Anthologie mit Aphorismen für ein anti-konformistisches Christentum aufgenommen hat. Michael Pilz erzählt von einem Brief, den Elvis einst an Nixon schrieb, um sich als Drogenfahnder anzudienen.

Gemeldet wird, dass FAZ und SZ nach dem verlorenen Prozess gegen den Perlentaucher (mehr hier) in Berufung gehen.

Besprochen werden Stephen Frears Film "The Queen" mit einer "überragenden" Helen Mirren in der Hauptrolle, CDs der Oboisten Albrecht Mayer und Christoph Hartmann und die Aufführung von Feridun Zaimoglus und Günter Senkels "Max und Moritz" am Nationaltheater Mannheim.

FR, 09.01.2007

Zwar kein Meisterwerk, aber der beste Film Dani Levys ist "Mein Führer" in den Augen Daniel Kothenschultes. Levy habe den Film "überraschend leicht" gestaltet und gut daran getan. "Von der verstörenden Widersprüchlichkeit jener Fassung, die Helge Schneider gelesen und gespielt hat, ist offenbar nicht mehr viel übrig. Im Vergleich zum Drehbuch ist der Film, der diesen Donnerstag ins Kino kommt, in ungleich leichterem Ton gehalten - hatte doch zunächst nicht die sympathische Figur des von Ulrich Mühe gespielten Grünbaum erzählerisch in das Geschehen eingeführt. Es war die 'uralte Stimme' des 116-jährigen Hitler, die sich mit einer Rechtfertigungsrede an die potenziellen NPD-Wähler von heute wandte: 'Ich habe akzeptiert, was ich dem Deutschen Reich angetan habe, und dem ganzen Europa und der ganzen Welt', beginnt er da in heiserem Pathos. 'Und ich fühle tiefe Trauer.' Auf das Testpublikum muss das derart gespenstisch gewirkt haben, dass sich Levy - zum Missfallen Schneiders - entschloss, den Film vollkommen umzuarbeiten und weit zugänglicher zu gestalten."

Weiteres: Die Deutschen lesen Krimis "wie nicht gescheit", bemerkt Sylvia Staude zu einem Genre, das 2006 ein Drittel der Spiegel-Bestsellerliste ausmachte. Harald Justin berichtet vom Jazzfestival in Münster. Besprochen wird die Aufführung von Marius Mayenburgs "Der Hässliche" an der Berliner Schaubühne.

TAZ, 09.01.2007

Uh-Young King hangelt sich an den neuesten Verzweigungen der Dancefloor-Musik entlang und entdeckt einen Hang zur Entschleunigung, "ob es das Londoner Garage-Hybrid Dubstep ist, das im vergangenen Jahr die kritische Masse erreichte und über die Grenzen des Vereinigten Königreichs nach Kontinentaleuropa schwappte; ob es der Neo-Disco-Sound des sogenannten Beardo House ist, der in den Clubs von Berlin bis Ibiza immer beliebter wurde; oder ob es die zeitlupenhaften Screwed & Chopped-Versionen sind, mit denen Rapper aus dem Süden schon seit einigen Jahren die U.S.-Charts bespielen."

Weiteres: Die neureichen Russen lassen sich heutzutage stiltechnisch nichts mehr vom verfeinerten Westen sagen, meint Robert Misik außerdem zu beobachten. Besprochen werden Rafael Sanchez' "launig lustige" Inszenierung von Kleists "Zerbrochenem Krug" am Schauspiel Hannover und William Boyds Roman "Ruhelos" als Gegenbuch zu Philip Roths "Verschwörung gegen Amerika".

Und Tom.

NZZ, 09.01.2007

Besprochen werden Theu Boermans Inszenierung des "Sommernachtstraums" am Burgtheater in Wien, die Aufführung von Ariane Mnouchkines siebenstündigem neuen Stück "Les Ephemeres" in Paris, die Ausstellung "New Moscow 4" in Mendrisio, eine Ausstellung mit venezianischen Zeichnungen im Frankfurter Städel und Bücher, darunter ein Gedichtband von Christoph Meckel und ein Opernführer für Fortgeschrittene (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 09.01.2007

Begleitet von dem vorsichtigen Hinweis, dass dieser Artikel keinerlei Opferrolle für die Deutschen beanspruchen will, berichtet Stefan Koldehoff von den amerikanischen Soldaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg als "Monument's Men" (Buch) für die Sicherung der deutschen Kunst zuständig waren und manchmal schwach wurden. "In einem Museum in Florida tauchte Meißener Porzellan aus den Leipziger Kunstsammlungen wieder auf; ein reumütiger amerikanischer Pfarrer bekannte auf dem Totenbett, dass er als junger Soldat 1945 in Deutschland Zeichnungen gestohlen hatte. Griechische Vasen aus den geplünderten Beständen der Würzburger Kunstsammlungen befinden sich angeblich noch immer im Art Institute of Chicago, das die Identität der Stücke aber bestreitet."

Weiteres: Der in Zürich lehrende Philosoph Michael Hampe glaubt nicht, wie er von etwa Hans-Ulrich Gumbrecht und Hans-Ulrich Wehler gehört hat, dass mit ihnen die Epoche der Meisterderdenker vorbei sei. "Den Abgesang der Alten auf sich und ihre Epoche, der ihnen das Abtreten erleichtert, gilt es dagegen mit Geduld zu ertragen." Lothar Müller berichtet über den französischen Streit um die geplante Dependance des Louvre in Abu Dhabi. Erleichtert kann Henning Klüver nach achtzehn Jahren die Wiedereröffnung des restaurierten Palazzo Madama in Turin melden. In einer "Zwischenzeit" ruft sich Joachim Kaiser Golo Mann und Katja Mann ins Gedächtnis zurück, beobachtet beim Urlaub in Wildbad Kreuth. Jörg Königsdorf bezeugt froh, dass Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit sich für eine Beteiligung der Stadt an der Sanierung der Staatsoper ausgesprochen hat. Mit seinem neuen Buch, in dem er Israel Apartheid gegenüber den Palästinensern vorwirft, sorgt Ex-Präsident Jimmy Carter für Wirbel, meldet Britta Voss.

Im Interview mit Johannes Willms lüftet Rotraut Klein, Witwe des Künstlers Yves Klein, das Geheimnis seines patentierten "International Klein Blue". "Es ist ganz gewöhnliches Ultramarinblaupigment und insofern gar nichts Besonderes. Dieses Pigment wurde einfach auf eine Polyesterbasis mit Aceton vermischt aufgetragen, die es fixierte, aber die Leuchtkraft des Pigments nicht tötete."

Besprochen werden die Inszenierungen von Theu Boermans' "Sommernachtstraum" und Gregor Jarzynas "Medea" an der Wiener Burg, die Aufführung von Klaus Pohls Ein-Personen-Stück "Kühlschrank" am Hamburger St. Pauli-Theater (der "introvertierten Rampensau" Monica Bleibtreu auf den Leib geschrieben, wie Werner Burkhardt betont), und Bücher, darunter Hans-Peter Kunischs Roman "Die Verlängerung des Marktes in den Abend hinein" sowie David Thimmes "subtile" Biografie des Mediävisten Percy Ernst Schramm (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.01.2007

Ursula Rautenberg schildert die Aktivitäten des Penguin Verlags in China. "Um einen Fuß in der Tür zu haben, sollten sich in der Zukunft die Beschränkungen doch einmal lockern, setzt Penguin auf eine doppelte Strategie: Mit Übersetzungen englischsprachiger Klassiker ins Chinesische, die dank eines neuen Jointventure mit der 'Chongqing Publishing Group' unter dem Namen und dem Logo von Penguin erscheinen können, wird die Marke etabliert. Andererseits sucht man nach geeigneten Werken chinesischer Autoren für den englischsprachigen Markt. Vier oder fünf Titel will Penguin jedes Jahr weltweit herausbringen. Einer der ersten ist 'Wolf-Totem', angekündigt für 2007. An Boshun, der die internationalen Rechte für den Autor vertritt, hält den Lizenzverkauf für den bislang größten internationalen Deal eines volksrepublikanischen Titels." (Mehr über das Buch hier.)

Kerstin Holm hat Silvester im dreihundert Kilometer östlich von Moskau gelegenen Industrienest Schiblow verbracht. War nicht so amüsant. "Den Elektriker Stepan, dessen Festtagsrausch schon drei Tage anhält, holt seine Frau aus der Haftzelle auf der Polizeiwache ab."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube rümpft die Nase über die Nutzer des Internetportals StudiVZ: "Die Studenten, klagen Verlage und Professoren, kaufen und lesen keine Bücher mehr. Dafür scheinen sie mit dem fortwährenden Versenden kleiner Botschaften beschäftigt." Lachen über Hitler? Darf man, versichert Edo Reents in der Leitglosse, "außerdem kann Hitler es einem nicht mehr verbieten". Na dann. Jürg Altwegg berichtet über den Streit um die geplante Filiale des Louvre in Abu Dhabi, für die reichlich Leihgaben zur Verfügung gestellt werden sollen. Eleonore Büning meldet, dass das Musikalienhaus Hans Riedel in Berlin dank einer "Noten-Shopping-Aktion von sagenhaftem Umfang" durch den Unternehmer Hans Wall vor dem Konkurs gerettet werden konnte. Am Wochenende will die Scientology-Organisation feierlich ihre neue Berlin-Zentrale einweihen, Heinrich Wefing spekuliert über Risiken und Gefahren.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg, welchen Preis die Redakteure von Liberation zahlen mussten, um ihre Zeitung vor dem Aus zu bewahren. Nina Rehfeld schüttelt sich angesichts einer von MTV ausgestrahlten Realityshow in der Redaktion des Rolling Stone. Auf der letzten Seite porträtiert Barbara Kirchner die Wissenschaftlerin Sigrid Peyerimhoff, eine Pionierin auf dem Gebiet der theoretischen Chemie. Paul Ingendaay schildert die Reaktionen spanischer Schriftsteller auf das jüngste Attentat der Eta.

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk des Comiczeichners Herge im Pariser Centre Pompidou und "Ein Sommernachtstraum" in der Inszenierung von Theu Boerman am Wiener Burgtheater. Auf der DVD-Seite beginnt Dominik Graf seine Besprechung von George Roy Hills "Tollkühne Flieger" mit dem schönen Satz "Ein Film von mausoleumshafter Klarheit." Vorgestellt werden weiter die Kompilation "Lost and Found" mit einem kurzen Dokumentarfilm von Jasmila Zbanic, Filme von Pier Paolo Pasolini und das Anime "Millennium Actress" von Kon Satoshi.