Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2006. In der FAZ erzählt Hans Magnus Enzensberger das Leben des Dichters Iwan Heilbut. In der Welt erklärt Thomas Ostermeier, warum es seit Ibsen und Strindberg nichts Neues unter der Sonne gegeben hat. In der SZ spricht Jon Fosse über Ibsen. Der FR graut vor der karnevalistisch anmutenden Tribalisierung der Gesellschaft. Die taz stellt den Pianisten Vijay Iyer vor, der mühelos Jazz mit Philosophie und Politik  verbindet.

FAZ, 23.05.2006

Am 6. Juni eröffnet das Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Die FAZ geht ihren archivalischen Neigungen nach und veröffentlicht ab heute eine Serie von Schriftstellertexten über Ausstellungsstücke des Museums. Den Anfang macht heute Hans Magnus Enzensberger mit einem traurig schönen Stück über den heute vergessenen Dichter Iwan Heilbut, dessen für eine Zeitung geschriebenes Gedicht "Welt und Wanderer" faksimiliert wird. Enzensberger erzählt von Heilbuts Anfängen in der Weimarer Zeit, von der Emigration nach Frankreich und in die USA und der Heimkehr in eine fremde Heimat und schließt: "Wahrscheinlich wird nie wieder jemand seine Schriften drucken. Womöglich reicht es nicht einmal zu einer Dissertation, und auch den Roman seines Lebens wird keiner mehr schreiben. Die Geschichte der Literatur ist vergesslich, und damit mag es am Ende sogar sein Bewenden haben. Die Menschheit kann und will sich nicht alles merken. Und doch sieht man das Blatt in der Vitrine mit anderen Augen an, wenn man weiß, wer es geschrieben hat."

Weitere Artikel: Der in Italien lebende Autor Tim Parks, bekennender Fan von Hellas Verona, schreibt über die Korruption im italienischen Fußball und ein System des Schweigens, das selbst der berühmte Schiedsrichter Pierluigi Collina nicht brach. Frank-Rutger Hausmann stellt einen bisher unbekannten Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und dem Romanisten Hugo Friedrich vor. In der Leitglosse schreibt Eberhard Rathgeb einen Nachruf auf eine Sau, die auf dem Transport zum Schlachthof die Flucht ergriff und von einem Polizisten erschossen wurde. Patrick Bahners resümiert einen Berliner Vortrag des ehemaligen Verfassungsrichters Dieter Grimm über die Frage der Religionsfreiheit. Verena Lueken berichtet über die neuesten Filme in Cannes. Regina Mönch unterhält sich mit dem Historiker Martin Sabrow über das unter seiner Leitung erstellte Gutachten zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Brita Sachs besucht den Augsburger "Glaspalast", einen neuen Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst.

Auf der Medienseite schreibt Erna Lackner über den ORF-Anchorman Armin Wolf, der bei einer Preisverleihung politische Einflussnahme in seinem Sender beklagte und damit mächtigen Ärger auslöste. Jürgen Dollase stellt die neue Gourmet-Zeitschrift GaultMillau vor. Gemeldet wird, dass der Bertelsmann-Konzern die Anteile des Milliardärs Albert Frere zurückkaufen will, deren Wert allerdings geringer schätzt als dieser.

Für die letzte Seite flaniert Richard Kämmerlings über die Messe der unabhängigen Rockszene Popup in Leipzig. Michael Gassmann hörte einer Kölner Diskussion über "Kultbilder" zu. Und Lisa Zeitz porträtiert Ji Lee, einen Werber und Erfinder des Bubbleprojects - er klebt Sprechblasen auf Werbeplakate, wartet, bis sie beschriftet werden und dokumentiert das Ergebnis im Internet.

Besprochen werden Salvatore Sciarrinos Oper "Kälte", inszeniert von Trisha Brown in Schwetzingen, eine neue CD der Geigerin Carolin Widmann und Volker Hesses Inszenierung von Harold Pinters Einakter "One for the road" im Berliner Maxim Gorki Theater.

NZZ, 23.05.2006

Caroline Kesser ist unbeeindruckt von der Kunstsammlung Francois Pinaults, die gerade im Palazzo Grassi vorgestellt wird. Marion Löhndorf schreibt über Tanz und Theater aus Indien auf der Biennale Bonn.

Besprochen werden ein Konzert von Andras Schiff mit Klaviersonaten von Beethoven in Zürich, Mozarts Oper "Zaide" bei den Wiener Festwochen und Bücher, darunter Hans Magnus Enzensbergers Versuch über den radikalen Verlierer "Schreckens Männer" und Michael Cunninghams Roman "Helle Tage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 23.05.2006

Zum hundertsten Todestag von Henrik Ibsen lassen sich Matthias Heine und Reinhard Wengierek vom Leiter der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier bestätigen, dass es seit dem ungleichen Paar Ibsen und Strindberg nichts Neues unter der Theatersonne gegeben hat. "Unser Hausdichter Marius von Mayenburg lehnt ja Ibsen total ab. Er sagt, Strindberg sei 1000mal abgründiger, böser, gemeiner, habe sich viel mehr dem Leben ausgeliefert, war dem Wahnsinn nahe - im Gegensatz zum ordentlichen, verschlossenen Ibsen. Allein schon dieser Bart ist ja wie ein Panzer. Seine Frau stieg auf Berge und badete in Seen, Ibsen lief höchstens mal 20 Meter und legte nie seinen Rock ab. Ibsen hat sich total eingezwängt. Strindberg hat mit 'Totentanz' das absurde Drama und Beckett vorweggenommen. Also hat Georg Hensel (mehr) wohl immer noch recht. Beim gesamten realistischen Schreiben, dem ganzen angelsächsischen Kram - ist nichts passiert. Auch Brecht ist eigentlich nicht viel weiter gegangen."

Weiteres: Manuel Brug porträtiert die vietnamesische Choreografin Ea Sola, die mit einer Kombination zweier ihrer Stücke bei dem Wolfsburger Movimentos-Festival dabei ist. Matthias Heine stimmt auf die heute in München beginnende Tournee der dandyhaften Band "Belle and Sebastian" aus Glasgow ein. In der Hamburger Kunsthalle erlebte Belinda Grace Gardner, wie ein zurückhaltender Neo Rauch über sich und seine Bilder sprach. In Cannes erfährt Hanns-Georg Rodek von Demonstranten, dass die koreanischen Kinos jetzt nur noch an 73 statt an 146 Tagen einheimische Filme ziegen müssen. "DW" meldet, dass der Umsatz der Buchbranche seit vier Jahren Minus 2005 wieder leicht angestiegen ist.

Im Medienteil berichtet Christiane Buck, dass die Europäische Kommission, die ohnehin schon die Europaberichterstattung bei Radio- und Fernsehsendern mit mehreren Millionen Euro finanziell entlohnt, nun auch den hauseigenen Fernsehdienst Europe by Satellite ausbauen will. Besprochen werden eine Potsdamer Ausstellung über Goethes Beziehung zu Preußen.

TAZ, 23.05.2006

Christian Broecking stellt den New Yorker Pianisten Vijay Iyer vor, der mühelos Jazz mit Philosophie und Politik verbindet: Er "wohnt in Manhattans Neighborhood Morningside Heights. Seine Tochter ist knapp zwei Jahre alt, seine Frau arbeitet um die Ecke in der Columbia University als Computerwissenschaftlerin. Iyer wurde 1971 in New York State geboren, studierte in Yale Physik und Philosophie, seine Dissertation kann man im Internet lesen. Er hat die Wechselwirkung von Körperhaltung und musikalischer Sprache untersucht, ihn interessiert das körperliche Vokabular des Künstlers genauso wie die Ideen, die ihn inspirieren und motivieren. Auf der ersten Fieldwork CD 'Your Life Flashes' (Pi Recordings) hat Iyer dieses Wechselspiel in dem Stück 'Accumulated Gestures' auch musikalisch thematisiert. Zu der Reflexion über körperliche Veranlagungen kommen bei Iyer die Experimente mit rhythmischen Strukturen hinzu. Es sei 'wie Monks Hände werden', wenn er die Kompositionen des Jazzrevolutionärs Thelonious Monk spiele, sagt Iyer." Zuletzt hat er zusammen mit dem Hiphop-Produzenten und Poeten Mike Ladd die CD "In What Language?" (Video) aufgenommen. Die europäische Erstaufführung kann man beim Salzburger Kontrakom-Festival hören

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt räsoniert über Parallelgesellschaften und den Motor des Disparaten. Cristina Nord sah in Cannes Nanni Morettis Berlusconi-Film "Il Caimano", der zeige, wie illusionslos Moretti dem Unterhaltungs-TV gegenübersteht. Jan Hendrik Wulf hat das neue "Kursbuch" zum Thema Folter gelesen. Und Harald Fricke stellt die Kandidaten für den Deutsche Börse Photography Prize vor.

In tazzwei erklärt der Kulturforscher und Wurstexperte Stephan Grünewald, warum vor vielen Metzgereien und Imbissbuden Bilder von grinsenden Schlachttieren sich selbst zum Verzehr anbieten.

Schließlich Tom.

FR, 23.05.2006

Ina Hartwig denkt über jugendliche Gewaltexzesse nach; sie diagnostiziert seit der Wende eine "karnevalistisch anmutende Tribalisierung der Gesellschaft", in der jeder "Stamm" seinem eigenen Kodex folge. "Typisch für die Tribalisierung ist, dass 'Glatzen' und 'Zecken', obwohl sie sich entgegengesetzten politischen Lagern zuordnen (rechts / links), denselben Rauschzuständen entgegenhecheln: den Gegner zur Unterlegenheit zu zwingen und sich an dessen Unterwerfungsgesten, an dessen Schmerzen zu berauschen." Hartwigs Fazit: "Die Politik muss gegen die zeitgenössische Ästhetik des Jugendschreckens gefeit sein. Es ist an der Zeit, anstatt über Leitkultur über Ächtung nachzudenken."

Weiteres: Stephan Kimmig schreibt anlässlich des 100. Todestages über das sich selber Fremdsein bei Henrik Ibsen. Und in Times mager beklagt Elke Buhr die Quotenphilosophie des Fernsehens und die daraus resultierende "Geschmacksdiktatur von Rentnern, Hausfrauen und anderen gelangweilten Zeitgenossen".

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert von Eros Ramazzotti "mit alten und neuen Krachern", eine Inszenierung des norwegischen Regisseurs Stein Winge von Smetanas "Verkaufter Braut" in der Oper Frankfurt und Sciarrinos Oper "Kälte" bei den Schwetzinger Festspielen.

SZ, 23.05.2006

Der norwegische Dramatiker Jon Fosse spricht im Interview mit Christopher Schmidt über Gemeinsamkeiten und Trennendes mit dem Landsmann und Kollegen Henrik Ibsen. Während Ibsen in dem weltläufigen Bokmal-Norwegisch schrieb (mehr), der Geschäfts- und Zeitungssprache, bleibt Fosse der Nynorsk-Variante (mehr) treu. "Die meisten wechseln irgendwann zum Bokmal, aber für das Theater ist Nynorsk ein echtes Geschenk. Es hat eine ungemeine Bühnenqualität, weil es weder Dialekt noch Soziolekt ist; es besitzt eine gewisse Abstraktheit, und in dieser Künstlichkeit liegt eine ungeheure Kraft. Für mich ist die Sprache entscheidend, weil sie etwas mit der Schönheit der Landschaft und den Menschen zu tun hat, über die ich schreibe."

Anna Kemper porträtiert die Künstler Mohammed Joha und Enas Saqa und deren schwierige Arbeitsbedingungen in Gaza-Stadt. Aus Cannes berichtet Tobias Kniebe über neue Filme von Nanni Moretti, Aki Kaurismäki und Oliver Stone. Resümiert werden eine Münchner Diskussionsveranstaltung über das "kosmopolitische Europa" mit Ulrich Beck, Navid Kermani und Daniel Cohn-Bendit und ein Berliner Symposium über den Pathologen Gottfried Benn. In der Kolumne Zwischenzeit sinniert Evelyn Roll über Modewörter. Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Ingeborg Hallstein zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden eine Architekturausstellung über Museen im 21. Jahrhundert im Düsseldorfer K20, Verdis "Simone Boccanegra" an der Pariser Bastille-Oper, die Sammlung des fünffachen Museumsgründers Pontus Hulten im Palazzo Franchetti in Venedig, der Abschiedsabend von Michael Schindhelm am Theater Basel, Claudio Abbados Dirigat von Schumanns "Manfred" in der Berliner Philharmonie und Bücher, darunter Bruno Preisendörfers Erzählungsband "Die Beleidigung des Glücks" und eine Einführung über "Klassiker der Politikwissenschaft". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)