Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2006. Die SZ staunt über die unglaubliche Mischung aus dezenter Bräune und klugen Statements bei George Clooney. In der FAZ verteidigt sich die Literaturkritik gegen die Kritik der Literaturkritik. Berliner Zeitung und FR empfehlen: Gehen Sie nach Neukölln, trinken Sie einen Latte Macchiato im Körnerparkcafe und genießen Sie die Gentrification.

Berliner Zeitung, 03.04.2006

Jörg Sundermeier versteht die jüngsten Debatten um Neukölln als untrügliches Zeichen für eine beginnende Gentrification: "In Rixdorf und um den Körnerpark herum muss man inzwischen schon lange suchen, bis man eine von jenen herumlungernden, pöbelnden Jugendbanden findet, die das Viertel angeblich zur Gänze beherrschen. Die Studienräte und städtischen Angestellten, die sommertags im Körnerparkcafe plauschen oder auf die Bäuche der nach Tempelhof einfliegenden Charterjets schauen, können sich darüber freuen, dass immer mehr gut gekleidete, besser gebildete junge Leute dort sitzen, wo sich gerade noch Großfamilien breitmachten."

FR, 03.04.2006

So schlimm ist es Berlin-Neukölln nun auch nicht, ruft Verena Mayer und zählt die positiven Seiten auf: "Die Armut ist in Kreuzberg und in Wedding höher. Nicht einmal bei den übergewichtigen Kindern und in Sachen Zahnfäule schafft es Neukölln auf den ersten Platz. Dafür gibt es Karstadt am Hermannplatz, das Kaufhaus mit seiner legendär teuren wie gut besuchten Lebensmittelabteilung. In Neukölln wird der Karneval der Kulturen organisiert, der jede Pfingsten Hunderttausende durch die Straßen tanzen lässt, und Berlins umsatzstärkstes Hotel befindet sich ebenfalls in Neukölln, das Hotel Estrel."

Weiteres: In Times Mager erzählt Elke Buhr von einer Kunstaktion des Warschauer Künstlers Pawel Althamer: Er "will während der Laufzeit der Biennale versuchen, einen Jugendlichen vor der Abschiebung aus Deutschland zu bewahren". Besprochen werden die Uraufführung von Rimini Protokolls "Blaiberg und Sweetheart19" im Schauspielhaus Zürich und Glucks Iphigenien am Staatstheater Darmstadt.

Welt, 03.04.2006

Hans Christoph Buch erzählt von einem Skandal, den die Memoiren des Tour-de-France-Reporters und Filmemachers Jorgen Leth in Dänemark auslöste, weil Leth vor Jahren eine Affäre mit der 17-jährigen Tochter seiner schwarzen Köchin hatte. Daraufhin brandmarkten ihn die Boulevardpresse und Feministinnen als Sexisten, Rassisten und Kolonialisten, das Fernsehen entzog ihm die Tour de France, und das Auswärtige Amt stellte die Vorwürfe gegen Leth auf seine Website. Der Wind drehte sich erst, als seine ehemalige Freundin im Fernsehen verkündete, sie habe fünf Jahre lang mit Leth zusammengelebt, und "beide hätten sich in gutem Einvernehmen voneinander getrennt. Ihrem Ex-Freund habe sie nichts vorzuwerfen: Er habe ihr Studium finanziert, und nur mit seiner Hilfe habe sie die Übersiedlung nach Santo Domingo geschafft, wo sie mit ihrer Familie heute lebt." Lars von Trier meinte zu der ganzen Affäre: "Das Unheimlichste an dem Phänomen war das Mitläufertum."

Weitere Artikel: Matthias Heine porträtiert den Schauspieler Andreas Schmidt ("Sommer vorm Balkon"). Brigitte Preißler war bei einer Buchpräsentation in der Sauna der finnischen Botschaft. Laut Manuel Brug haben Intermittents als Trittbrettfahrer des großen Streiks die Uraufführung von Kaija Saariahos Oper "Adriana Mater" an der Bastille-Oper platzen lassen: "Doch wir sind in Frankreich: Es gab Wein und Lachsbrötchen, der Direktor tröstete die heulenden Künstler mit einem Premierendinner ohne Premiere. Die Brasserie Bofinger gegenüber hatte einen blendenden Abend."

Im Forum erklärt die in Bayern geborene Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, warum die deutsche Wirtschaftspolitik sich besser an Erhardt orientieren sollte als an Thatcher.

Besprochen werden eine Ausstellung über Hans Holbein den Jüngeren im Basler Kunstmuseum, eine "mustergültige" Ausstellung in Marbach zu Leben und Werk von Arno Schmidt, Wilfried Minks' Inszenierung von Eugene O'Neills "Elektra" in Hannover, Hans Pfitzners letzte Oper "Das Herz" in Würzburg und Igor Bauersimas Drama "Boulevard Sevastopol" im Wiener Akademietheater.

FAZ, 03.04.2006

Literaturkritiker streiten mit Literaturkritikern, und Literaturhäuser mit dem Literaturfonds. "Warum Literatur und Kritik lebendig sind" erklärt Volker Weidermann im Aufmacher. Er verteidigt hier seine kleine Literaturgeschichte "Lichtjahre" gegen "arrivierte Herren des Betriebs", mit denen er neulich auf dem Podium diskutiert hat, und versteht sein Buch offensichtlich als Plädoyer für eine lebendige Literatur gegen einen akademischen Avantgardismus: "Seit viele deutsche Autoren die Theorie des Erzählens nicht mehr als Selbstzweck und unter Ausschluss möglichst vieler Leser betreiben, sondern den theoretischen Hintergrund als selbstverständliche Basis ihrer neuen Erzählfreude betrachten, seitdem ist die deutsche Gegenwartsliteratur nicht mehr unverkäuflich, sondern ein richtiger Publikumserfolg." Uns erschüttert allerdings, dass man als Redakteur dieser Zeitung im Literaturbetrieb noch nicht als arriviert gilt.

Felicitas von Lovenberg schreibt über die Kritik am Literaturfonds, der eine Ausgabe der Zeitschrift Volltext, mit der man während der Buchmesse millionenfach für die deutsche Literatur werben will, mit 300.000 Euro unterstützt. Ihr Schluss: "Dass eine 300.000 Euro teure, einmalige Sondernummer mit einer Million Exemplaren die österreichische Literaturzeitschrift Volltext mehr fördert als die deutschsprachige Literatur, liegt schon heute auf der Hand."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier kritisiert in der Leitglosse Handyverbote an bayerischen Schulen. Jordan Mejias hört sich auf CD erschienene Telefonprotokolle vom 11. September an und ist sich nicht sicher, ob man sie als Dokument eines Voyeurismus, "der zudringlicher kaum sein kann", oder als Mahnmal hören soll. Niklas Bender berichtet aus Paris über ein offensichtlich politisch motiviertes Schwanken zwischen Einschreiten und Wegschauen der Odnungskräfte bei Vandalismus in den Universitäten. Martin Wilkening resümiert das Berliner MaerzMusik-Fesitval. Ingeborg Harms wirft einen Blick in deutsche Zeitschriften.

Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld die amerikanische Serie "Black White" vor, die die Abgründe des Rassismus im Lande spielerisch ausloten will. Und Nils Minkmar berichtet von der Verleihung der Grimme-Preise in Marl. Für die letzte Seite besucht Paul Ingendaay den mondänen Badeort Estoril in Portugal, wo deutsche Emigranten einst auf ihr Schiff ins amerikanische Exil warteten. Gina Thomas schildert den britischen Streit um die Fusion der Buchhandelskette Waterstone's mit dem kleineren Konkurrenten Ottakar's. Und Eleonore Büning porträtiert den ehemaligen Intendanten der Berliner Philharmoniker Elmar Weingarten, der jetzt den Hauptstadtkulturfonds leitet.

Besprochen werden Cherubinis Oper "Medee" in der Inszenierung Achim Freyers in Mannheim, die deutsche Erstaufführung von Rolf Hochhuths Stück "Nachtmusik" im Berliner Schlossparktheater, Wilfried Minks' Inszenierung von O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" am Schauspiel Hannover und einige Sachbücher, darunter Pierre Vidal-Naquets Buch über den Mythos Atlantis (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 03.04.2006

Martina Dreisbach berichtet von den fortschreitenden Restaurationsarbeiten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Martin Schneider war bei einem Konzert von Wir sind Helden in Frankreich.

Besprochen werden die Uraufführung von "Blaiberg und sweetheart 19", jüngstes Projekt des Regiekollektivs Rimini Protokoll, am Zürcher Schiffbau, Elias Canettis "Hörwerk" und Pietra Rivolis "Reisebericht eines T-Shirts" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

NZZ, 03.04.2006

Verzückt berichtet Paul Jandl von den 36. Rauriser Literaturtagen im Salzburger Land. "In Rauris beweist sich der schriftstellerische Betrieb Jahr für Jahr, dass das meiste noch beim Alten ist. In dieser Enklave eines emphatischen Literaturbegriffs, der das Geschriebene als Stimme des Autors hört und deshalb vom Menschen hinter den Büchern nicht absehen will, füllen sich bei den Lesungen die Wirtshäuser immer noch mit Hunderten Zuhörern. Es wird im großen Kreis der Leser debattiert, und im kleinen der Schriftsteller Brot gebacken. Diesmal wenigstens scheint die Sonne auf der Kalchkendlalm am Fröstlberg."

Weiteres: Der Komponist Mikis Theodorakis erzählt Hansgeorg Hermann im Interview, dass seine Verantwortung gegenüber den Griechen jeden Tag größer wird. Klaus Völker schreibt zum Tod des Schauspielers, Seiltänzers und ehemaligen Jungmädchenschwarms des Zürcher Schauspielhauses Peter Brogle. Und Hans-Christian Oeser würdigt den verstorbenen irischen Autor John McGahern (mehr).

Barbara Villiger Heilig kann "Blaiberg und sweetheart19", dem neuen Stück und "wirren, disparaten, formlosen Potpourri" von Rimini Protokoll im Zücher Schauspielhaus nicht viel abgewinnen.

SZ, 03.04.2006

Fritz Göttler studiert zum Start von "Good Night, and Good Luck" den Hollywood-Liberalen George Clooney. "Er bringt Glamour und politisches Bewusstsein zusammen, Tuxedo-Eleganz und Intellekt. Er zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Mischung aus dezenter Bräune und klugen Statements. Clooney, der Junge aus Lexington, Kentucky, dem Herzen von Amerika, der heute viele Wochen in seiner Villa am Comer See verbringt und Partystimmung, aber ohne wirkliche Exzesse, mit ernster Besorgnis über den Zustand der Welt, die Zukunft der USA verbindet. Alles easy - so easy, dass man nicht mehr entscheiden kann, wo das Natürliche aufhört, das Künstliche anfängt - ein echter Postmoderner unter den Hollywoodstars."

Die Kriminologen Britta Bannenberg und Dieter Rössner setzen angesichts der Neuköllner Rütli-Hauptschule langfristig auf emotionale Anbindung und emotionale Einbindung, kurzfristig auf die Polizei. "Mit einer an Gesetz und Recht orientierten Konfrontation der Gewalttäter ist das Gewaltverbot als Ausgangssituation jedes pädagogischen Bemühens durchzusetzen. Vor jeder konstruktiven Gestaltung ist der Kreislauf der Gewalt machtvoll zu durchbrechen; Gewaltakte müssen isoliert werden. Daher ist zunächst Polizei einzusetzen, um Waffen zu konfiszieren, Intensivtäter zu isolieren und Gewalttaten strafrechtlich zu ahnden."

Weitere Artikel: Tobias Timm und Moritz Ege führen die geringe deutsche Beteiligung an den europaweiten Praktikanten-Demonstrationen auf "Du bist Deutschland" zurück. "jhl" meldet, dass die New York University wegen einer 200-Millionen-Spende der umstrittenen Antiquitätensammlerin Shelby White nun in der Kritik steht. Bei einem Shaggy-Konzert im tansanischen Dar es Salaam ist Klaus Raab klar geworden. "Rasta ist Marley ist Shaggy ist Jamaika. Und Jamaika ist Afrika." Paul Newman und andere Schauspielerveteranen setzen sich gerichtlich gegen ihre digitale Reanimation ein, wie Jens Christian Rabe kolportiert.

Im Medienteil sieht Hans Hoff die "gewohnte Tristesse langjähriger Volkshochschultradition" bei der Verleihung des Grimmepreises in Marl als Menetekel für den schleichenden Bedeutungsverlust der Auszeichnung.

Besprochen werden die "didaktisch" geprägte Hauptausstellung zum Rembrandt-Jahr im Amsterdam Rembrandthuis, die Aufführung von Luigi Cherubinis Oper "Medee" unter Achim Freyer und Gabriele Ferro im Mannheimer Nationaltheater, das Stück "Blaiberg und sweetheart19" von Rimini Protokoll im Schauspielhaus Zürich, die fünfte Folge der DVD-Werkedition des Regisseurs Claude Lelouch, die Präsentation des Nachlasses von Arno Schmidt im Marbacher Schiller-Nationalmuseum, und Bücher, darunter Jochen Jungs Roman "Venezuela" und eine Zusammenstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Liebe (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).