Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2006. Die Welt bringt als einzige deutsche Zeitung die Mohammed-Karikaturen, die Dänemark an den Rand einer außenpolitischen Krise brachten. In der Welt erklärt Simon Rattle, welche Musik ihm Angst macht. In der Welt erklärt Robert Menasse, was ein gutes Kochbuch ist. In der Welt erklärt der ungarische Publizist Paul Lendvai, dass Istvan Szabo keineswegs der einzige prominente Stasi-Spitzel des Landes war. Die NZZ schildert eine perfide Variante des Skulpturendiebstahls: Eine Henry-Moore-Skulptur bringt als Altmetall 5000 Pfund. Die SZ stöhnt über den Fluch des Rohstoffreichtums.

Welt, 01.02.2006

Die Welt macht als einzige deutsche Zeitung die dänische Affäre um die Mohammed-Karikaturen, die im September in der Zeitung Jyllands-Posten veröffentlicht wurden, zum Aufmacher. Gestern entschuldigte sich der Chefredakteur der Zeitung, Carsten Juste, in einem offenen Brief bei allen Moslems. Die Welt veröffentlicht die Karikaturen - allerdings nicht im Internet. (Hier kann man sich die recht harmlosen Karikaturen ansehen.)

Korrespondent Reiner Gatermann schreibt: "Dänemark ist schockiert. Zwei Kulturen befinden sich auf Kollisionskurs. Die politischen Parteien haben sich auf einen Burgfrieden geeinigt, keine Attacken gegen die Regierung. Sie brauche Arbeitsruhe, um sich auf die Lösung des Konflikts konzentrieren zu können."

Im Politikteil wird außerdem ein Artikel von Mona Ethahawy, der am 24. Januar im Daily Star Beirut erschien, zitiert: "Können wir endlich zugeben, dass Muslime ihre Entrüstung über zwölf Karikaturen des Propheten Mohammed in einer dänischen Zeitung vergangenen September weit über alle Verhältnismäßigkeit hinaus aufgeblasen haben?" Auf der Forum-Seite schreibt Chefredakteur Roger Köppel: "Die Möglichkeit, selbst das Allerheiligste zu verspotten, ist ein Traditionskern unserer Kultur, unverhandelbar."

Im Kulturteil erinnert Wolf Lepenies an Arnold Gehlens Buch "Urmensch und Spätkultur", das vor 50 Jahren erschien. Uwe Schmitt hat sich im amerikanischen Fernsehen den Film "Flight 93" angesehen, mit dem die filmische Aufarbeitung des 11. September beginnt. Simon Rattle antwortet im Interview mit Volker Blech auf die Frage, ob es Musik gibt, vor der er Angst hat: "Ja. Die grundsätzliche Antwort lautet: Vor jedem Meisterwerk. Man muß Angst haben, das ist sehr wichtig. Manchmal ist die Angst etwas größer, etwa vor der Missa solemnis, die für uns alle ein großer, unerkennbarer Gipfel ist." Robert Menasse schreibt über die Frage, was ein gutes Kochbuch wirklich ausmacht. Und der ungarische Publizist Paul Lendvai erklärt in einem Kommentar: "Die Spitzeltätigkeit des Regisseurs Istvan Szabo ist in Ungarn beileibe kein Einzelfall."

Auf der Magazinseite erzählt Uta Keseling, dass die Frankfurter an der Oder eine Straßenbahn nach Polen hätten haben können, weitgehend von der EU finanziert, dass sie dann aber in einer Volksabstimmung doch lieber dagegen stimmten.

TAZ, 01.02.2006

Die Immigranten sollen sich künftig nicht nur integrieren, sondern mit Deutschland identifizieren, erfährt Nils Werber von Udo di Fabio und aus dem Handbuch "Integrationsarbeit" in NRW. Ghettos sollen in Zukunft um jeden Preis vermieden werden. "Als 'Krisenindikatoren' gescheiterter Integration gelten die 'Zunahme ethnischer Konzentrationen auf dem Wohnungsmarkt, die Stabilität innerethnischer Sozialkontakte (im Sinne des Entstehens von Parallelgesellschaften)' sowie die 'ausbleibende Identifikation mit dem Aufnahmeland auch im Generationenverlauf'. Ethnische Konzentration führt zu Parallelgesellschaften, und wo diese einen stabilen kulturellen Rahmen gewähren, bleibt die Identifikation mit der 'aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft' aus."

Außerdem fragt sich Andre Hille in einer Glosse, warum die Bandansagen in der Leipziger Straßenbahn auf Englisch und Französisch, nicht aber auf Russisch und Vietnamesisch über Endhaltestellen informieren.

Besprochen werden der Johnny-Cash-Film "Walk the Line" von James Mangold und der Roman "Tagame Berlin-Tokyo", mit dem der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe seinem Freund Juzo Itami ein Denkmal setzt (hier eine Leseprobe).

Und Tom.

FR, 01.02.2006

Auf der Medienseite untersucht Markus Brauck den medialen "Zerrspiegel" im Umgang mit den "Rabenmüttern" Ursula von der Leyen und Susanne Osthoff. "Die eine ist perfekt. Manchen allzu perfekt. Die andere lebt eher riskant. Manchen allzu riskant. Offenbar ist beides falsch, zumindest aber fragwürdig. In Wirklichkeit sind beide Frauen samt der Reaktionen der Medien auf sie erst dann richtig interessant, wenn man die Sache umdreht. Gemeinsam ist Ursula von der Leyen und Susanne Osthoff vielleicht nicht so sehr, dass sie Rabenmütter sind, sondern dass sie selbst sehr genau wissen, wie sie Mutter sein wollen, was sie sich unter eine gelungenen Karriere vorstellen und wie sie beides miteinander verbinden wollen. Da sind sie beide offensichtlich weiter als die meisten."

In einem Essay analysiert Robert Kaltenbrunner Alltagsarchitektur zwischen Kitsch und Rationalität. "Zur Funktion guter Architektur gehört auch, dem Irrationalen seinen Raum zu geben." Sandra Danicke porträtiert die neue Direktorin des Frankfurter Kunstvereins Chus Martinez und ihre Projekte. Peter Iden beschreibt, wie der Dieb der Wiener "Saliera" zum Medienhelden avanciert. Und in Times mager informiert Thomas Medicus über die Ausstellung "Erzwungene Wege", die das Zentrum gegen Vertreibungen von August bis Ende Oktober im Berliner Kronprinzenpalais zeigen wird.

Besprochen werden das neue Album der westafrikanischen Sängerin Salif Keita, und Bücher, darunter der Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" von Bernd Cailloux, Michael Krügers Buch "Turiner Komödie" über einen ungeschriebenen Roman und die Studie "Der Russland-Komplex" von Gerd Koenen (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 01.02.2006

In Großbritannien hat der Diebstahl von Skulpturen Methode, berichtet Georges Waser. "Wie die englische Polizei mitteilt, verschwanden innerhalb von nur sechs Monaten in London und Umgebung - so auch in Tunbridge Wells und Hawkhurst in der Grafschaft Kent - nicht weniger als zwanzig Skulpturen aus Bronze. Der Wert der einzelnen Werke variiert zwischen einigen tausend und drei Millionen Pfund (Moores 'Reclining Figure'). Allesamt sind es monumentale Skulpturen - Werke also, die bisher allein ihrer Größe wegen als 'unstehlbar' galten. Denn, so argumentierte man: Welcher Sammler oder Händler würde, von den Dieben angefragt, diese leicht erkennbaren Werke schon kaufen wollen?" Verkaufen können die Diebe sie nicht, aber einschmelzen! Als Altmetall würde Henry Moores "Reclining Figure" 5000 Pfund einbringen.

Weitere Artikel: Joachim Güntner beschreibt die wohltuende Wirkung von Blockbustern und prominenten Kinderbuchautoren aufs Buchgeschäft. Thomas Binotto vergleicht "Narnia" von C. S. Lewis und Tolkiens "Herr der Ringe". In der Reihe "Paris, gestern und heute" schlendert Marc Zitzmann über die Champs-Elysees. Derek Weber informiert uns über die Jubiläumsaktivitäten zu Mozarts Geburtstag - von Augsburg bis Prag und von Salzburg bis Wien.

Besprochen werden eine Ausstellung der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, neue Hörbücher und Kinder- und Jugendbücher.

SZ, 01.02.2006

Sonja Zekri beschreibt den Fluch des Rohstoffreichtums, der in den meisten betroffenen Ländern zu allem anderen als Demokratie und Wohlstand führt. Afrika versinkt in Kriegen, die arabischen Scheichs bestechen ihre Gesellschaften, um an der Macht zu bleiben, und "in Russland ... korrespondieren innere Erstarrung und Großmachtansprüche, und beides wird von märchenhaften Öl- und Gas-Gewinnen flankiert. Der Fall Chodorkowskij hat gezeigt, dass für Putin Pipelines und Gitterstäbe kommunizierende Röhren sind, gegen die Ukraine setzte Russland seine Energiereserven präzedenzlos offen als Druckmittel ein. Der Westen, selbst von den Importen abhängig, drang bislang nicht besonders hartnäckig auf die Einhaltung von Menschenrechten." Zekri verweist auf ein Dossier im Economist zum Thema.

Weitere Artikel: Ira Mazzoni stellt Pläne zur Umgestaltung der Museums- und Denkmal-Landschaft in Kassel vor. Jonathan Fischer schreibt zum Tod von Martin Luther Kings Ehefrau Coretta Scott King. Gemeldet wird, dass das Raubkopieren von Filmen im deutschen Internet immer populärer wird: "Insgesamt wurden im ersten Halbjahr 2005 fast 12 Millionen Filme aus dem Internet geklaut." Susan Vahabzadeh stellt die Liste der für die Oscars nominierten Filme vor. Christina Maria Berr verfolgte in Saarbrücken eine Diskussion zwischen Götz Aly und Romuald Karmakar über die Darstellung der Nazizeit im jüngsten Kino und Fernsehen.

Auf der Schallplattenseite porträtiert Christine Heise den Produzenten Joe Henry. Zudem werden neue CDs des Trompeters Jon Hassell , der Band Mutter und von Anthony Braxton vorgestellt. Auf der Literaturseite werden unter anderem Edward P. Jones' Sklaverei-Roman "Die bekannte Welt" und ein Band der monumentalen "Enzyklopädie der Neuzeit" besprochen.

Besprochen werden der Johnny-Cash-Film "Walk the Line" mit Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon und Ereignisse des Mozart-Jahrs in Wien, darunter der "Idomeno" an der Staatsoper.

In einem Interview im Politikteil rät der Historiker Hans Mommsen von einem Zentrum für Vertreibungen und überhaupt von jedweder populären Darstellung des Themas ab: "Die komplexe Multiperspektivität der Problematik ist in einer Ausstellung nicht zu leisten."

FAZ, 01.02.2006

Michael Althen hat in "Walk the Line", James Mangolds Filmporträt von Johnny Cash, einen Joaquin Phoenix in der Rolle seines Lebens gesehen. "Phantastisch, wie es Phoenix schafft, in jene Schuhe zu schlüpfen, die ihm eigentlich eine Nummer zu groß sein müssten. Wie die Hasenscharte quasi einsteht für die Narben und tief eingegrabenen Züge des Vorbilds. Wie er mit schiefem Grinsen zur Seite zu singen scheint. Wie er mit hochgezogenen Schultern die Gitarre wie ein Gewehr im Anschlag hält. Wie er den ganzen Habitus eines Mannes einfängt, der seine Songs mit so versteinerter Miene vortrug, als habe er selbst für jeden einzelnen ein Jahr in der Zelle verbüßt."

Hannes Hintermeier spricht mit dem Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschert, über Familienzentren, Deutsch auf dem Pausenhof und die Grundlinien seiner Politik: "Wir stehen am Anfang der Integrationspolitik, weil man erkannt hat, dass wir eine multikulturelle Gesellschaft sind. Das ist ein Faktum, über das man nicht streiten muss, auch wenn die Union das lange getan hat. Die Linke hat erkennen müssen, Multikulti ist nicht nur nett und bunt - man muss auch Anforderungen definieren. Wir brauchen jetzt eine Debatte über eine gemeinsame Leitkultur."

Weitere Artikel: Wolfgang Günter Lerch stellt die auf zwanzig Bände angelegte türkische Bibliothek vor, in der der Schweizer Unionsverlag auch Krimis aus der Türkei präsentieren wird. Henning Ritter macht sich eine Woche nach dem Start von Steven Spielbergs "München" noch einmal Gedanken um die Beschaffenheit der Gewaltspirale. Jordan Mejias schreibt zum Tod der amerikanischen Dramatikerin Wendy Wasserstein. Jürg Altwegg berichtet Neues von den Auseinandersetzungen zwischen Politikern und Historikerzunft in Frankreich. "oju" weiß vom Paläontologen Jean-Jacques Hublin, dass der Neandertaler wahrscheinlich gesprochen hat. "Rm." erinnert sich, dass die Fleischprüfung schon in Alois Brandstetters Roman "Zu Lasten der Briefträger" von 1974 eine Angelegenheit unter Freunden war.

Auf der letzten Seite streift Paul Ingendaay durch das Madrid des Drogenhandels und der Abhängigen. Hannes Hintermeier meldet, dass dem Journalisten und Autor Wolfgang Büscher der Börne-Preis zugesprochen wurde. Andreas Rossmann referiert einen Kölner Vortrag Josef Rüenauvers über Kirchenbauten. Im Medienteil weiß Nina Rehfeld von einer Serie des amerikanischen Weather Channel, in der die Katastrophe von New Orleans kurz vorher recht präzise geschildert wurde.

Besprochen werden eine "hektisch zusammengeräumte" Rembrandt-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum ("Als habe man Großvaters Geburtstag vergessen und nun noch schnell ein Präsent basteln müssen", spottet Niklas Maak), Thomas Hirschhorns "überbordende" Retrospektive "Anschool II" im Museu Serralves in Porto, Peter Steins Inszenierung von Tschaikowskys "Mazeppa" in Lyon, ein Auftritt der Popgruppe Tomte in Heidelberg, Leonard Bernsteins Musical "Candide" in der durch "Solidität" überzeugenden Version von Wolfgang Lachnitt, und Bücher, darunter Klaas Huizings Roman über "Frau Jette Herz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).