Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2005. In der FAZ bemüht sich Botho Strauß, den Grünen und der Union doch noch eine Zweckehe schmackhaft zu machen. Diedrich Diederichsen diagnostiziert in der SZ bei einigen schwarz-gelben Kollegen den Juckreiz einer normativen Zeitgenossenschaft. Beim Anblick der Szenen von Ceuta und Melilla kommt beim senegalesischen Schriftsteller Boubacar Boris Diop in der NZZ dumpfe Wut auf. In der FR rechnet Alexander Schnackenburg vor, dass das mit 4,7 Millionen Euro verschuldete Theater Bremen vielleicht doch schuldenfrei ist. Der französische Philosoph Camille de Toledo bekommt in der globalisierten Welt keine Luft mehr, wie er in der taz bekennt.

NZZ, 21.10.2005

Wütend betrachtet der senegalesische Schriftsteller und Journalist Boubacar Boris Diop die Bilder aus Ceuta und Melilla - wütend auf die EU, die sich derart gegen Flüchtlinge abschottet, und auf die afrikanischen Regierungen, die ihren Menschen das Leben in der Heimat unmöglich machen. "Das Schauspiel dieser erbärmlichen Exil-Kandidaten, wie Schlachtvieh bereit, ihr Schicksal auf sich zu nehmen, hat am meisten geschmerzt. Als Afrikaner empfand man bei ihrem Anblick Scham und - es sei zugegeben - eine dumpfe Wut. Wenn man schon bereit ist, sein Leben zu opfern, um die Heimat zu verlassen: warum dann nicht besser diesen Opfermut in den Dienst der Heimat stellen, sein Leben dort investieren, zumindest im Interesse der künftigen Generationen? Das zu verstehen, fällt schwer."

Von der Frankfurter Buchmesse berichtet Joachim Güntner über Heiliges, Profanes und Großspuriges, wie etwa die Ankündigung Suhrkamps, einen Verlag der Weltreligionen zu gründen. Carole Gürtler meldet einen neuen städtebaulichen Ehrgeiz aus Lissabon: "450 Häuser in den historischen Vierteln Baixa, Barrio Alto, Chiado und Alfama sollen teilweise oder ganz renoviert werden." Marc Zitzmann stellt den kulturpolitischen Maßnahmenkatalog vor, den Frankreichs Premier Dominique de Villepin angekündigt hat und der unter anderem eine Senkung der Mehrwertsteuer für Videos und eine Stärkung des Urheberrechts vorsieht. Roman Hollenstein besucht eine Ausstellung zur Denkmalpflege in Dresden.

Auf der Filmseite werden Wolfgang Jacobsens und Rolf Aurichs Konrad-Wolf-Biografie "Der Sonnensucher" besprochen, Robert Schwentkes "Post-9/11"-Thriller "Flightplan" mit Jodie Foster und Danny Cannons Fußball-Epos "Goal". Und Josef Nagel war im Filmmuseum Turin.

Auf der Medienseite berichtet Ursula Schnyder von der wachsenden Kritik an der vor wenigen Monaten noch als Märtyrerin gefeierten New-York-Times-Journalistin Judith Miller. "ras" gewinnt dem Wunsch britischer Investoren, den Berliner Verlag zu kaufen, auch etwas Positives ab: "Der Blätterwald lebt und ist ein begehrtes, lohnendes Objekt." Und Muris Bajrica hält das neue Magazin Datum für eine wahre "österreichische Trouvaille".

SZ, 21.10.2005

Der Popdenker Diedrich Diederichsen kommentiert die schwarz-gelben Bemühungen des vergangenen Wahlkampfs, das hedonistische, urbane rot-grüne Milieu zu gewinnen. Der "Spezialist für DJ-Culture und Mode" Ulf Poschardt und seine Plädoyers für die Liberalen (hier ein Beispiel aus der Zeit, hier eins aus der taz) haben es Diederichsen besonders angetan. "Poschardt ist nicht einmal strategisch, denn ihn selbst plagt ganz authentisch der Juckreiz einer normativen Zeitgenossenschaft. (...) Der Zwang, das NOW! geil zu finden, ist so stark, dass, wenn keine Utopie in Sicht, einfach die Dystopie zur Utopie gemacht wird. Wie alle neoliberalen Ideologen badet er in dem Selbstwiderspruch, einerseits sei die Globalisierung eine unausweichliche Entwicklung, der man sich stellen müsse, auch wenn das hart ist. Zugleich aber berge sie viele Chancen und sei die toffeste Wirtschaftsordnung, die die Welt sich wünschen könne."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck kolportiert, dass der Unternehmer und Hobbyforscher Robert Bittlestone in seinem Buch "Odysseus Unbound" den westlichen Teil der Insel Kefalonia (hier) für Odysseus" Heimat Ithaka hält. Titus Arnu gibt sein in einer Ausstellung im Wiener MAK über Mangas erworbenes Wissen weiter, etwa die Tatsache, dass man für eine Seite der japanischen Comics weniger als 4 Sekunden braucht. Jonathan Fischer stellt die mittlerweile ergrauten Rapper der "Last Poets" (Biografie) vor, die 1968 bei einer Gedenkveranstaltung für Malcolm X in einem Park in Harlem erstmals aufgetreten sind und vom Nachwuchs nun mehr politisches Bewusstsein fordern. Bernd Graff erfährt von Electronic-Arts-Chefentwickler Neil Young, dass die Zusammenarbeit mit Steven Spielberg Spiele mit mehr Narrativ zeitigen soll. "Story ist so etwas wie ein Bild, das übermittelt wird und im Spielverlauf allmählich scharf wird. Narrativ dagegen ist allmähliche Progression, das Voranschreiten in plausiblen Schritten ohne ein solches Phantasma." Alles klar?

Besprochen werden Angelina Maccarones Film "Fremde Haut", die Schau "Projekt Migration" im Kölnischen Kunstverein (Dirk Peitz ärgert es jedes Mal, "wenn die neuen oder neugefundenen Bilder häufig die Klischees bestätigen"), die Aufführung von Jens Joneleits Quasi-Sinfonie "le tout, le rien" in Dresden (Bei der Helmut Mauro "mit den Klangverschiebungen wie ein Elch durch die Tundra wandert"), und Bücher, darunter Susanne Fröhlichs Roman "Familienpackung", Edo Reents" Biografie über "Neil Young" sowie Cees Nootebooms Erzählung "Paradies verloren" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 21.10.2005

Das Theater Bremen hat angeblich 4,7 Millionen Euro Schulden. Die Stadt will nicht zahlen, es droht die Insolvenz. Alexander Schnackenburg glaubt aber nicht an ein Ende. Und der beurlaubte Geschäftsführer Lutz-Uwe Dünnwald kann an der derzeitigen Finanzlage nichts Ungewöhnliches finden. "So sei die Stadt Bremen fast schon traditionell in den Monaten November und Dezember außer Stande, die längst bewilligten Zuschüsse für das Theater (verteilt auf ein Jahr derzeit 23,5 Millionen Euro) tatsächlich auszuzahlen und habe dem Theater in den vergangenen Jahren daher für diese Zeit eine Bürgschaft ausgestellt, so dass man die Monate November und Dezember mit Hilfe von Bankkrediten finanzieren konnte. Zu Beginn des neuen Jahres habe die Stadt dann jeweils für einen Ausgleich gesorgt. Diesmal aber weigert sich die Stadt für das fehlende Geld zu bürgen, das zu zahlen sie laut Wirtschaftsplan verpflichtet wäre."

In Times mager nimmt sich Harry Nutt vor, Norbert Lammerts geplante "geistige Mobilmachung" in Sachen Leitkultur genau zu beobachten. Auf der Medienseite stellt Claus Lochbihler das "Aktuelle Magazin für Deutsch-Lerner" des Münchner Spotlight-Verlags vor. Besprochen werden die "mitreißende" Ausstellung "Rundlederwelten" im Berliner Martin-Gropius-Bau sowie Lee Ki Dos Inszenierung des südkoreanischen Horrormärchens "Sonnenschein im Geisterhaus" am Schauspiel Frankfurt.

TAZ, 21.10.2005

Der französische Autor und Philosoph Camille de Toledo spricht im Interview mit Jochen Förster über sein Buch "Goodbye Tristesse" und die globalisierte Weltordnung: "Das so genannte freiheitlich-demokratische System ist in sich abgeschlossen, sprich ignorant. Seit dem Mauerfall herrscht im Westen die ökonomische Rationalität von Produkt und Service, Merchandising und Konsum. Sie verbreitet sich rasant, dabei ist sie zynisch, hohl und lackiert. Stellen Sie sich vor, Sie sind Christoph Kolumbus und wollen wissen, was am Ende des Meeres ist, und einer kommt und sagt, lass es, wir wissen es schon, es ist auf unserer Karte. Es gibt kein Außerhalb in dieser Ordnung, deshalb haben wir ein Atemproblem."

Weiteres: In seiner Buchmessen-Kolumne erzählt Gerrit Bartels vom Kritikerempfang im Hause Suhrkamp. Diedrich Diederichsen schätzt am neuen Album "Feel" von Animal Collective die "schneidend genaue Hippie-Freundlichkeit".

In der tazzwei empört sich Klaus Harpprecht: "Kein Journalist, der den Namen dieses elend-schönen Standes verdient, keiner, dem die Unabhängigkeit einer Zeitung einen Stoßseufzer wert ist, keiner, der einen Funken Respekt vor dem Widerstand des Schwächeren gegen das Gesetz des Stärkeren hat - kurzum: keiner, mit dem man ein Glas Bier trinken möchte, verweigert den Kollegen von der Berliner Zeitung seine Bewunderung für ihre hartnäckige und so tapfere Resistenz gegen den geplanten Ausverkauf an eine britische Investorengruppe.... nur Roger Köppel nicht, Chefredakteur der Welt."

Dem "Plattmacher-Kampf" um den Berliner Verlag widmet Johannes Gernert auch eine Reportage im vorderen Blattteil.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 21.10.2005

Christina Tilmann und Michael Zajonz unterhalten sich mit dem Maler Bernhard Heisig ("Ikarus") über die große Retrospektive, die nach Leipzig und Düsseldorf nun nach Berlin kommt, und die Leipziger Schule, als deren Gründungsvater Heisig gehandelt wird. "Ich kann dazu nichts sagen. Neo Rauch wurde damals von Arno Rink zu mir geschickt, um bei mir Meisterschüler zu werden. Nach dem fünften Atelierbesuch hat er alles anders gemacht, als ich sagte. Da habe ich gesagt, wir lassen das besser. Wie er programmiert war, habe ich einfach nicht verstanden. Aber die so genannte Leipziger Schule war ohnehin immer ein fragwürdiger Begriff. Wir bildeten eigentlich gar keine Schule. Es gab zum Beispiel künstlerische Gegensätze zwischen Mattheuer ("Guten Tag") und mir. Auch Tübke ("Mensch - Maß aller Dinge") hatte eine ganz andere Geisteshaltung. Aber uns verband das Festhalten an der menschlichen Figur. Wir hielten das für das wichtigste Medium des Künstlers."

Welt, 21.10.2005

Iris Alanyali ist dem japanischen Zahlenrätsel Sudoku verfallen, das ihrer Meinung nach nur ein "bisschen Intelligenz, aber viel Geduld" erfordert: "Sudoku macht süchtig und ist auf dem besten Weg, der 'Rubik's Cube' der Gegenwart zu werden. In England kann es sich keine Tageszeitung mehr leisten, ihren Lesern nicht zumindest ein wöchentliches Sudoku anzubieten. Die New York Times hat nachgezogen."

Weiteres: Wibke Gerking berichtet von den Donaueschinger Musiktagen, die vor allem Beat Furrer mit seinem Stück "Fama" zum Ereignis gemacht hat. Elmar Krekeler meldet von seinem jüngsten Rundgang über die Frankfurter Buchmesse: "Gestern war's mau. Heute ist's voll. Es begibt sich das Übliche."

FAZ, 21.10.2005

Botho Strauß macht sich milde Gedanken, wie die Christdemokraten etwas konservativer und die Grünen etwas technologiefreundlicher werden könnten. Zum Beispiel beim Klimawandel. "Wäre es nicht eine Frage der erkenntniskritischen Bescheidung, hier als einen seltenen, als einen Grenzfall der Moral den Standpunkt des Sowohl-Als-auch zu vertreten?"

Gina Thomas berichtet, wie Großbritannien Lord Nelson feiert. Alexandra Kemmerer berichtet über eine Tagung zur Provenienzforschung bei Raubkunst. Die Buchwissenschaftlerin Ursula Rautenberg berichtet über Veränderungen auf dem chinesischen Buchmarkt, der langsam entstaatlicht wird. Timo John berichtet, dass zwei Bauten in Wildbad durch Bürgerengagement vor dem Abriss bewahrt werden konnten. Wolfgang Krischke stellt das mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfende Projekt "Klassikerwortschatz" der Universität Freiburg vor. Rudolph Ganz resümiert unzufrieden das Gamelan-Festival bei den Berliner Asien-Pazifik-Wochen: Es gab zuwenig traditionelle Musik.

Auf der Medienseite erklärt Stefan Niggemeier, dass der Deutsche Fernsehpreis so wenig Bedeutung hat, weil er es allen Recht machen will. Auf der letzten Seite porträtiert Judith Lembke den amerikanischen Autor und Weblogger Chad Kroski, eine Erfindung der Werbeagentur Saatchi & Saatchi. Andreas Rossmann warnt vor dem Verfall der Zeche Zollverein. Und Renate Klett schreibt über das Theaterfestival "Dialog" in Breslau.

Besprochen werden eine Watteau-Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig, der für den Auslands-Oscar nominierte schwedische Film "Wie im Himmel" und Bücher, darunter Dagmar Herzogs Studie über die "Politisierung der Lust" im 20. Jahrhundert (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).