Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2005. Ist der neue Wenders der beste Wenders seit Jahren? Manche Zeitungen meinen: ja, andere Zeitungen sagen: nein. Die Welt klagt: Leipzig schrumpft nicht nur, Leipzig schrumpft auch noch an den falschen Stellen. Die FR polemisiert gegen Jean Baudrillard, der gegen Europa polemisiert.

NZZ, 20.05.2005

Das "schöne deutsche Wort Scheindemokratie" habe an der Tafel in einem der Unterrichtsräume des am 28. April gebrandschatzten Goethe-Instituts in Togos Hauptstadt Lome gestanden, hat Hakeem A. Jimo von Herwig Kempf, dem Leiter des Instituts, erfahren. Dem blieb das Lachen beim Blick auf die Überreste seiner Einrichtung jedoch im Halse stecken. Immerhin: "'Auch zwei Wochen nach der Brandstiftung kommen noch Leute vorbei und sprechen uns ihr Beileid aus, als sei jemand aus unserer Familie gestorben'".

Günter Peperkorn, einer der wenigen deutschen Verleger koreanischer Autoren, glaubt nicht, dass der Korea-Schwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse nachhaltiges Interesse an koreanischer Literatur auslösen wird, berichtet Ludger Lütkehaus und zitiert Peperkorn: "'Eine Reihe von Buchhandlungen wird ihre Schaufenster schwerpunktbezogen dekorieren, es werden sicher erheblich mehr Bücher bestellt werden - und ein großer Teil davon wird Ende Oktober remittiert werden.'"

Weiteres: Samuel Herzog würdigt in einem Nachruf den in der vergangenen Woche in Bern verstorbenen Künstler Franz Fedier. Besprochen werden die Ausstellung "Velazquez a Capodimonte" in Neapel, die von Dirigent Nikolaus Harnoncourt und Regisseur Claus Guth geleitete Produktion der Mozart-Oper "Lucio Silla" bei den Wiener Festwochen sowie Hans Röthlisbergers Buch über "Böse Geschichten vom Bauen" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die Filmseite kommt natürlich um den "Star Wars"-Hype nicht herum. Andreas Maurer gesteht, dass er bereits als "dreikäsehoher Toggenburger" die Saga "in- und auswendig" kannte, obwohl er sie noch nicht einmal gesehen hatte. "Luke, das Zottelvieh Chewbacca und der drollig fiepende Miniroboter R2-D2 standen mir näher als manche Verwandte." Lucas habe mit seiner nun abgeschlossenen Hexalogie "ein Universum von Widersprüchen erschaffen: eine ewiggestrige Zukunftsphantasie, ein technikfeindliches Hightech-Wunder, ein Kriegsheldenepos, das den Frieden propagiert - goldglänzenden Weltraumschrott." Rezensionen gibt es zu Clemens Klopfensteins Satire "Die Vogelpredigt" sowie zu Lisa Rööslis volkskundlichem Porträt "Hinterrhein". Außerdem wird über den leicht rückläufigen Marktanteil des Schweizer Filmschaffens berichtet.

Auf der Medienseite nimmt Heribert Seifert die in Berlin ansässige Islamische Zeitung unter die Lupe und gewinnt einen "zwiespältigen Eindruck". Sie trete zwar "offensiv" für Integration ein, sei aber zugleich oft eine "Mischung aus Theologie, Verschwörungstheorie und politökonomischer Utopie. So druckte sie kürzlich das Traktat 'Al-Zilal - das Erdbeben', in der eine 'Deutung der Katastrophe aus islamischer Sicht' vorgelegt wurde. Ein 'Schaikh Dr. Abdalqadir As-Sufi' schwadronierte in einer Nachbetrachtung zum Tsunami nicht bloß darüber, dass 'Das-dem-Erdboden- Gleichmachen ein Zeichen der Manifestation göttlicher Gerechtigkeit' sei. Er verhöhnte auch die 'Orgie humanistischen 'Mitleids'' im Westen und ließ die wüste Tirade in eine Anklage der internationalen Finanzmacht und des dekadenten Tourismus münden."

FR, 20.05.2005

Recht empört greift Martina Meister ein Pamphlet des Philosophen Jean Baudrillard auf, der die französische Volksabstimmung zur europäischen Verfassung als Farce und Staatsterrorismus beschreibt, weil die Franzosen nach einem "Nein" ohnehin zu einem zweiten Referendum gezwungen würden: "Das Nein steht seiner Ansicht nach auch für mehr als nur die Ablehnung eines liberalen, anti-sozialen Europas und auch für mehr als lediglich die Angst um den Verlust nationaler Souveränität; das starke Nein steht für 'Liquidation jeglicher wahrhafter Repräsentation'. Denn, so mutmaßt er zynisch, Europa wird durchgesetzt, egal wie das Referendum in Frankreich ausgeht."

Der Soziologe Peter Fuchs findet eine Theorie des stilvollen Verarmens, wie sie der Autor Alexander von Schönburg in einem Bestseller propagiert, angesichts real grassierender Armut mehr als deplatziert: "Der Klamauk der Kapitalismusdebatte (die bisher ohne jeden Blick auf moderne gesellschaftstheoretische Möglichkeiten ablief) wird seinerseits gespiegelt in der Zumutung, man könne das banal Arme vom stilvoll Armen unterscheiden. Ich gebe zu, ich habe das alles nicht lesen können ohne das Empfinden einer extremen Peinlichkeit. In diesen Tagen trat der Herr, dem dies nicht peinlich war, in einer norddeutschen Talkshow auf. Wir haben, was selten ist, einmütig nach den ersten Worten umgeschaltet."


Hans-Jürgen Linke kommentiert die seit Jahren kursierende, offensichtlich aber nie zur Verwirklichung reifende Idee eines "Kulturlastenausgleichs" zwischen Frankfurt und den Umlandgemeinden. Katrin Hildebrand versucht anhand neuer Platten von Bloc Party, Maximo Park und Weezer Aufschluss über neueste Trends des Gitarrenrocks zu gewinnen. Außerdem werden in Frankfurter Theaterexperiment gleich drei Inszenierungen nach Schillers Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" vorbereitet, worüber sich Jutta Baier mit dem Regisseur Willy Praml unterhält.

TAZ, 20.05.2005

Cristina Nord zeigt sich in ihrer Cannes-Kolumne nicht gerade überzeugt von Wim Wenders' neuem Film "Don't Come Knocking": "Sicherlich, es ist reizvoll, wie Franz Lustigs Kamera mit den Weiten des amerikanischen Westens und mit den Neonlichtern in den Städten umgeht - wie sie zum Beispiel den konkreten Ort eines Casinos in ein Licht- und Farbdelirium verwandelt oder einer heruntergekommenen Minenstadt in Montana eine raue Attraktivität abtrotzt. Doch Wim Wenders neigt dazu, sobald er die Wahl zwischen einer subtilen und einer offenkundigen Auflösung hat, sich für Letztere zu entscheiden."

Besprochen werden die "Wunschwelten"-Austellung in der Schirn, die eine neue Romantik propagiert, neue CDs der Bands Jaga und Oneida und ein Buch über die Geschichte des Postpunk der Jahre 1978-84.

In den Tagesthemen greift Dorothea Hahn den Skandal um die Atomtests auf, die von der französischen Regierung seit den sechziger Jahren in der Südsee durchgeführt wurden: "Die französische Regierung war genau über die Strahlenrisiken informiert, denen sie die BewohnerInnen der Inselgruppen in Französisch-Polynesien aussetzte. Und: Die Regierung hat ganz bewusst darauf verzichtet, die Bevölkerung rechtzeitig vor einem nuklearen Fallout in Sicherheit zu bringen."

Und Tom.

Welt, 20.05.2005

In Leipzig gab es Proteste gegen den Abriss der Funkenburg, eines gründerzeitlichen Bauensembles. Immer mehr, so schreibt Dankwart Guratzsch in einem Kommentar, werden in den schrumpfenden Städten der neuen Länder schöne Bauten in den Zentren abgerissen, während Plattenbauten, in die erst recht keiner ziehen will, verschont bleiben: "Was hier geschieht, kann noch weittragende Auswirkungen haben, weil es ja nur den Anfang eines fundamentalen Umbauprozesses markiert. Das Abreißen identitätsstiftender Altbauten, das haben vor der 89er Revolution im Osten schon die 'Häuserkämpfe' der 68er im Westen gezeigt, wirkt wie ein Aufputschmittel für den Volkszorn. Und dieser Zorn geht in die Breite, weil Eigentumsstrukturen und volkswirtschaftliche Ressourcen, ja der ganze handwerkliche Mittelstand und Gründerexistenzen tangiert sind."

FAZ, 20.05.2005

In Cannes hat Verena Lueken den "erstaunlich entspannten" Wettbewerbsbeitrag von Wim Wenders gesehen. Der Film heißt "Don't Come Knocking" und basiert auf einem Drehbuch von Sam Shepard, der auch die Hauptrolle spielt. Wie bei Jarmuschs "Broken Flowers" geht es um einen Mann, der erfährt, dass er einen - inzwischen erwachsenen - Sohn hat. Lueken beschreibt "eine Szene, in der alles stillsteht und die sich noch lange in der Erinnerung festkrallen wird. Earl, Howards Sohn (Gabriel Mann), hat aus Wut über das Auftauchen seines Vaters zu einem Zeitpunkt, zu dem er ihn nicht brauchen kann, sein ganzes Mobiliar aus dem Fenster auf die Straße geworfen. Auch ein Sofa liegt da nun, und Howard, ohne jede Ahnung, was er jetzt tun soll, setzt sich auf diese Couch mitten auf dieser einsamen Straße, die nirgendwo hinführt. Die Kamera umkreist ihn viele Male, das Licht wechselt mit den Tageszeiten, Howard legt sich nieder, zieht den Hut ins Gesicht und schläft, während die Kamera weiterkreist. Es ist ein groteskes Bild, ein komisches, ein tief verlassenes Bild und eines der stärksten, die bisher in Cannes zu sehen waren." Beachtlich findet Lueken auch zwei deutsche Filme, die in den Nebenreihen laufen: "Schläfer" von Benjamin Heisenberg und "Falscher Bekenner" von Christoph Hochhäusler.

Weitere Artikel: Christian Schwägerl fürchtet die Erfolge der koreanischen Genforschung: "Gegen das freudenerfüllte Gesicht eines Menschen, der seine Krücken wegwirft, und gegen das ungläubige Staunen eines Kindes, das seinen Erbdefekt verliert, werden selbst Millionen Embryonen keine Chance haben." Gerhard Stadelmaier findet den Versuch, Frankfurts Kultur von den umliegenden Gemeinden mitfinanzieren zu lassen, eine Spur zu schlau: "Das Land zu allererst ist in der Pflicht. Nicht die Landkreise. Dann hätte das Land allerdings auch mitzureden - und die Frankfurter Kultur mitzuverantworten. Man muss die große Lösung suchen, nicht die schlaue." Joseph Croitoru berichtet aus Israel, dass militante Siedler Popmusik als Ausdrucksform für politischen Protest entdeckt haben. Gemeldet wird, dass die Hamburger Regisseurin Ulrike Grote mit ihrem Abschlussfilm "Der Ausreißer" den Studenten-Oskar 2005 in der Kategorie bester ausländischer Film gewonnen hat. Walter Haubrich beschreibt den Siegeszug von Roberto Bolanos nachgelassenem Roman "2666" in der spanischsprachigen Welt.

Auf der Medienseite erzählt Peter-Philipp Schmitt von Skandälchen rund um den Eurovision Song Contest. Auf der letzten Seite berichtet Robert von Lucius - leider viel zu kurz - über ein Treffen von 45 Schriftstellern, Dichtern und Wissenschaftlern in Vilnius: Präsident Valdas Adamkus hatte zu einem "Forum neuer Demokratien" eingeladen, die meisten Teilnehmer kamen aus dem "Gürtel zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer". Patrick Bahners war bei Christoph Markschies' Antrittsvorlesung als Ordinarius für Ältere Kirchengeschichte, die im Hörsaal der Pathologie der Berliner Charite stattfand. Und Jordan Mejias schildert den neuesten Stand der Diskussion in den USA über die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. Eins bleibt dabei immer gleich: "Dass auch der Mann, der seine Karriere nach wie vor auf ein reibungsloses Funktionieren seiner familiären Hilfstruppe baut, zu irgendwelchen Eingeständnissen zu bewegen sein sollte, steht so gut wie nie zur Debatte."

Besprochen werden eine Ausstellung mit der "wunderbaren Kunst des versunkenen Herculaneums" im Römermuseum Haltern, eine Tanzstück des finnischen Choreografen Tero Saarinen beim Tanzfestival des Volkswagenkonzerns in Wolfsburg, Eleonore Fauchers Debütfilm "Die Perlenstickerinnen", eine Ausstellung von Plastiken von Hans Josephson im Appenzeller Museum Liner, Konzerte beim Salzburger "Pfingsten+Barock"-Festival, Prokokofjews "Geschichte vom wahren Menschen" in einer offenbar stark gekürzten und veränderten Version an der Moskauer Helikon-Oper und Bücher, darunter ein Band über die Google-Gesellschaft (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 20.05.2005

"Keine Frage, alles sieht phantastisch aus, von Shepards gegerbtem Gesicht bis hin zu den sehnsuchtsschweren Edward-Hopper-Tableaus der Kamera", muss Tobias Kniebe Wim Wenders neuem Film "Don't come knocking" zugestehen. Aber der angekündigte "beste Wenders seit Jahren" war er bestimmt nicht: "Denn der wichtigste Verbündete von damals, eine entschlossene Lakonie, ist Wenders und Shepard in den letzten zwanzig Jahren abhanden gekommen."

Weiteres: Lothar Müller glaubt, dass mit den Wahlen am Sonntag in Nordrhein-Westfalen die alte Bundesrepublik Abschied von sich selbst nehmen wird. Und warum gerade dort? "Weil es das größte Bindestrich-Bundesland mit dem größten Bindestrich war." Sehr beeindruckt wandelt Petra Steinberger durch die große Ausstellung israelischer Kunst "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau, für die Israel einige "Herzblutstücke" herausgegeben hat: einen Teil der Qumran-Rollen, Theodor Herzls Tagebuch, die handschriftliche Vorlage für das Basler Manifest des Ersten Zionistischen Kongresses.

Weiteres: Alexander Menden begleitet britische Regisseure beim Besuch des Berliner Theatertreffens. Ganz begeistert sind die Gäste über so viel "Nacktheit und Geschrei", "extremes Make-up und Körperflüssigkeiten" auf deutschen Bühnen. Andrian Kreye erzählt, wie amerikanische Polit-Grüppchen um die Deutung der neuen "Star Wars"- Episode streiten. Jörg Königsdorf spricht mit Opernregisseur Nigel Lowery über seine neue Produktion von Rossinis "L'Italiana in Algeri".

Tobias Moorstedt sichtet die Palette von Computerspielen über den Zweiten Weltkrieg, die gerade die Hitlisten anführen. Der emiritierte Literaturwissenschaftler Joachim Dyck empfiehlt deutschen Universitäten mehr "Einfallsreichtum und etwas Verwegenheit" beim Fundraising.

Besprochen werden Wanda Golonkas Inszenierung von Becketts "Glücklichen Tagen" in Frankfurt und Bücher, darunter ein Band über die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm und Sam Shepards "Der große Himmel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).