Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2004. In der FAZ begrüßt Mario Vargas-Llosa die Abwesenheit des lieben Gottes im europäischen Verfassungsentwurf. Für die taz besucht Gabriele Goettle das einzige Berliner Sterbehospiz für krebskranke Kinder. In der FR staunt Richard Wagner über die Renaissance des Billigen. Die NZZ wird mit dem Jubiläums-"Tell" auf dem Rütli nicht glücklich.

TAZ, 26.07.2004

Gabriele Goettle besucht den "Sonnenhof", das einzige Hospiz für schwer kranke und sterbende Kinder in ganz Berlin und Brandenburg. Goettle lässt die stellvertretende Leiterin Sabine Sebayang auch über die Vorbehalte gegenüber ihrer Einrichtung reden. "Die Stimmung war bei vielen Medizinern eindeutig gegen ein Kinderhospiz. Wenn der Krebsdoktor von Berlin zum Beispiel sagt, wir brauchen kein Kinderhospiz, weil die krebskranken sterbenden Kinder bereits gut versorgt sind, dann ist dieses Wort selbstverständlich Gesetz. Er ist natürlich ein Fachidiot - wie wir alle, letzten Endes - aber er wurde eben als Fachkompetenz vom Senat befragt."

Weitere Artikel: Cord Riechelmann bricht eine Lanze für die Elster, deren schlechten Ruf er einerseits als ungerecht, andererseits aber als Ausdruck des deutschen Wesens empfindet. Guido Kirsten winkt den Programmentwurf einer Gruppe junger Grüner mit dem programmatischen Titel "Links Neu" als "doppelten Etikettenschwindel" durch. Niklaus Hablützel schildert, wie Blogs, Tagebücher im Internet, mit ihren freizügigen Meinungsäußerungen amerikanische Politiker verärgern. Peter Unfried erzählt in seinem kalifornischen Tagebuch, warum er unbedingt nach Mendocino musste und warum dort wirklich niemand hin muss.

Aus gegebenem Anlass inspiziert Sebastian Moll auf den Tagesthemenseiten Lance Armstrongs "Waden des Grauens". Auf der Medienseite stellt Oliver Trenkamp die Jugendzeitschrift fluter vor, die von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert wird.

Besprochen werden eine Ausstellung über Robert Mapplethorpes Fotografie und deren Verbindung zur Antike in der Deutschen Guggenheim Berlin sowie Craig Thompsons autobiografisches Comic-Meisterwerk "Blankets" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 26.07.2004

Der Schriftsteller Richard Wagner bestaunt und beklagt lesenswert die Renaissance des Billigen. "Das Billige expandiert. Es beherrscht unsere Gesellschaft, die in ihrer Agenda ruht wie in einem Pool. Alles ist nichts und nichts ist alles. Die einen sind arm, die anderen tun so."

Holger Römers untersucht die Rolle des Dokumentarfilms im amerikanischen Wahlkampf als Gegengewicht zu Rupert Murdochs rechtslastigen Fox News. Thomas Meyer referiert eine Diskussion des Ägyptologen Jan Assmann und der Kulturphilosophin Eveline Goodman-Thau über die Konsequenzen der "Mosaischen Unterscheidung". Martina Meister lässt uns in Times mager spüren, wie sich Paris in den Sommerferien anfühlt.

Besprechungen widmen sich der "ungewöhnlichen" Eröffnungspremiere der Salzburger Festspiele, Henry Purcells "King Arthur" unter Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt, der ersten großen Retrospektive des belgischen Künstlers Luc Tuymans in der Londoner Tate Modern, Inge Deutschkrons Erfahrungsbericht "Offene Antworten" sowie vier neuen Bücher über den Ersten Weltkrieg (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 26.07.2004

Der russische Schriftsteller Oleg Jurjew knöpft sich in einer kleinen Tirade die russische Oligarchie vor, die Nouveauriches, "geschmacklos und mit Reichtum protzend, wie alle Emporkömmlinge auf dieser Welt, nur eben geschmackloser und reicher": "Wenn wahr ist, dass auch Vladimir Putin nicht ohne Hilfe der Gelder Beresowskis und anderer 'Oligarchen' am Platz Jelzins, der zum Spielball seiner nächsten Umgebung geworden und absolut nicht mehr tragbar war, installiert wurde, dann war die Hoffnung der Milliardäre, mit Putin einen 'selbstgemachten' Präsidenten, eine Versicherung im Kreml zu haben, sehr schnell enttäuscht. Und das Dümmste, was man tun konnte, wurde eben von Herrn Beresowski getan: 'Jetzt wählen wir den Präsidenten', soll er verkündet haben. Bald blieb 'den Präsidentenmachern' jedoch nichts anderes übrig, als sich zu 'Kämpfern für die Demokratie' zu erklären, um sich Rettungswege zu sichern."

Nur zur Hälfte zu lesen ist Volker Schloendorffs Solidaritätsadresse an Michael Moore.

SZ, 26.07.2004

"Warum keine Universitäten wieder schließen?", fragt der Münchner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf in seinem Kommentar zur bayerischen Universitätsreform (die Eckpunkte), die die Lehrerfortbildung forciert. "Niemand wagt zu sagen, dass man 'Elite' nur stärken kann, wenn man Ressourcenvergeudung stoppt. Weshalb wird die fehlgeschlagene Politik der Entdifferenzierung nicht korrigiert und manche Provinzuniversität als das behandelt, was sie ist: eine Fachhochschule für Didaktikingenieure? In Harvard werden jedenfalls keine Lehrer für die Sekundarstufe I ausgebildet."

"Ist der Islam modernisierbar?", darüber diskutierten ein Dutzend profilierter muslimischer Intellektueller auf Einladung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, wie Alexander Kissler berichtet. Laura Weissmüller stellt kraut vor, ein mobiles Zeitschriftenprojekt, mit dem fünf Berliner Künstler die Republik bereisen und ihrer jeweiligen Gaststadt eine Woche lang auf den Zahn fühlen. Andrian Kreye untersucht die historische Rolle der Musik im amerikanischen Wahlkampf. Fritz Göttler freut sich auf den politischen Kinosommer. Konrad Renger schreibt zum Tod des Kunstrestaurators Hubert von Sonnenburg.

Auf der Medienseite preist Franziska Augstein die Filmreihe von ARD und Arte zum Ersten Weltkrieg. Und Holger Liebs stellt das neue Kunstmagazin Bidoun vor, das den verschiedensten Kunstströmungen der arabischen Welt erstmals eine Stimme verleiht.

Besprochen werden Purcells "King Arthur" als Eröffnung der Salzburger Festspiele unter Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt ("Kein strenger Barockstil, sondern die bunte Mischung vieler Elemente stand für das Prinzip Bühnenzauber", urteilt Wolfgang Schreiber), Stephan Märkis "spannungsarme und stilisierte" Aufführung von Schillers "Wilhelm Tell" 200 Jahre nach der Uraufführung am Originalschauplatz im Weimarer Nationaltheater, Ariel Rotters filmische Jugendskizze "Solo por hoy", und Bücher, darunter Gudula Walterskirchens "faire" Biografie des 1934 ermordeten österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, Lucas Delattres Porträt von Fritz Kolbe, der "wichtigste" Spion im Zweiten Weltkrieg, die Aufzeichnungen Wilm Hosenfelds, der dem Pianisten das Leben rettete, sowie Christoph Heins "Der Ort", die Essays über sein Verhältnis zur Politik (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 26.07.2004

Barbara Villiger-Heilig verreißt heftig die Aufführung von Schillers "Wilhelm Tell" auf dem Rütli. Schon die Statisten erregten ihren Unwillen: "Um die ausladende Landschaftsbühne zu beleben, führt Märki viele Statisten ins Feld, die in Cecile Feilchenfeldts seltsam handgestrickten Mittelalterkostümen zu Flüstersprechchor-Sätzen gymnastische Übungen zwischen Eurythmie und Tai-Chi vorturnen. Laut Besetzungszettel stellen sie 'Schweizer, Soldaten, Menge' dar; aber der Eindruck zerbröselt in etwas, das mehr an Fernsehchoreografie erinnert als an Massenaufmärsche."

Claudia Schwarz betrachtet die Lage junger Musliminnen in Deutschland. Kerstin Stremmel gratuliert dem Düsseldorfer Kunstverein zum 175. Geburtstag und hat sich die Jubiläumsausstellung angeschaut. Beatrice Eichmann-Leutenegger weist auf die neue Ausgabe der Zeitschrift Castrum Peregrini (mehr) hin, in der es unter anderem um die Lyrik Erika Burkarts geht.

Der Hamburger Professor Peter Reichel (mehr hier) macht sich Gedanken über den Neuanfang in der Gestaltung der "Topographie des Terrors" in Berlin. Roman Hollenstein bespricht eine Ausstellung über die klassische Moderne im Ostseeraum im finnischen Architekturmuseum in Helsinki. Marc Zitzmann befasst sich mit den Entwürfen für den "Centre Pompidou"-Ableger in Metz.

FAZ, 26.07.2004

Mario Vargas Llosa (mehr hier) begrüßt die Abwesenheit des lieben Gottes christlicher Prägung im europäischen Verfassungsentwurf und erinnert an ein paar Grundtatsachen der Geschichte: "Jede Glaubensrichtung, jede Religion ist per se intolerant, weil sie eine Wahrheit verkündet, die nicht friedlich neben anderen, ihr widersprechenden Wahrheiten existieren kann. Über viele Jahrhunderte war das Christentum nicht minder intolerant, als es der radikale Islamismus heute ist... Und viele Jahre lang, noch bis vor vergleichsweise kurzer Zeit, stellte der Katholizismus als Staatsreligion strikte Verhaltensnormen für das Privatleben der Menschen auf, genauso wie es die Scharia in den fundamentalistischen islamischen Staaten heute tut."

Der Genuss von Alkopops und Nikotin wird bekämpft, nicht aber die neue Rechtschreibung. Schuld sind unsere Lehrer, schreibt Hans-Magnus Enzensberger, ein Skandal: "Sie sind allesamt praktisch unkündbar; selbst einen Narren oder einen Alkoholiker loszuwerden, verbietet das heilige Beamtenrecht. Gleichwohl halten sich sogar Pädagogen, die aus Erfahrung wissen, dass die Reform ihre Schüler schädigt, sklavisch an die unsinnigen Vorschriften von Amtsinhabern, die selber nicht imstande sind, einen vernünftigen deutschen Satz hervorzubringen." Wir fordern außerdem eine Rückkehr zu den alten Postleitzahlen und ein Verbot achtstelliger Telefonnummern!

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier kommentiert den sechsten Sieg der "Menschmaschine" Lance Armstrong aus Sicht des Feuilletons. Jordan Mejias mokiert sich über die Republikaner, die ihren Wahlkampfkongress ausgerechnet in New York abhalten wollen. Michael Martens schildert die Feiern zum Wiederaufbau der Brücke von Mostar. Ulrich Olshausen schreibt zum Tod des Saxofonisten Illinois Jacquet. Dieter Bartetzko empfiehlt "Joseph und seine Brüder" als sein Lieblingsbuch.

Auf der Medienseite schreibt Patrick Bahners einen Nachruf auf den britischen Journalisten und Satiriker Paul Foot (hier die Nachrufe in der britischen Presse). Und Jürgen Kaube wirft einen recht skeptischen Blick auf eine heute in der ARD beginnende Dokumentation über den Ersten Weltkrieg.

Auf der letzten Seite untersucht der griechische Krimiautor Petros Makaris (mehr hier) die Essgewohnheiten international bekannter Krimikommissare und kommt zu dem Ergebnis, dass die mediterranen Vertreter der Gattung als Gourmets zu gelten haben - mit Ausnahme der türkischen Kollegen. Joseph Hanimann kommentiert einen schwer nachvollziehbaren Leitungswechsel am Pariser Institut du monde arabe. Und Paul Ingendaay porträtiert den jungen Superstar unter den spanischen Stierkämpfern Julian Lopez Escobar, genannt El Juli, dem schon von A.L. Kennedy ein Denkmal gesetzt wurde.

Besprochen werden Purcells "King Arthur" als Eröffnungsereignis der Salzburger Festspiele (von Wolfgang Sandner wohlwollend begrüßt), die vom Weimarer Nationaltheater besorgte Jubiläumsinszenierung des "Tell" als Freilichtspektakel auf der Rütli-Wiese (Jürg Altwegg nennt Felix Ensslins Textfassung "für die Gegenwart erstaunlich lesbar") und eine kleine, historisch dennoch bedeutende Ilja-Kabakow-Ausstellung in der Petersburger Ermitage.