Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2004. Die FAZ beobachtet, wie sich die Münchner Philharmoniker durch eine Probe gähnen. In der taz erklärt der Computerspielproduzent Harvey Smith den Zusammenhang von Ethik und Geschwindigkeit. In der FR warnen Imre Kertesz und Anatoli Michailow vor einem neuen Antisemitismus. Die SZ fragt: Wer spricht eigentlich für die Muslime in Deutschland? Und alle trauern um Peter Ustinov.

FAZ, 30.03.2004

Der schönste Artikel steht heute auf der Seite "Jugend schreibt". Lucas Wiegelmann hat zugehört, als die Münchner Philharmoniker unter Ondrej Lenard das "Vorspiel zu einem Drama" von Franz Schreker probten und notiert kühl: "Die Streicherintonation ist katastrophal, die Striche gehen durcheinander, und die Bläser verpassen Einsätze." Vielen stehe "die Langeweile ins Gesicht geschrieben: Dieser reibt sich die Augen, jener lümmelt sich lustlos auf dem Stuhl herum, ein dritter starrt abwesend an die Decke, wenn abgebrochen wird. Ein Cellist, der mit seinem Anzug fast overdressed ist, duckt sich beim Gähnen unter seinen Notenständer, um nicht extra die Hand vorhalten zu müssen. Zwei Kollegen in der Bratschengruppe gönnen sich mitten im Satz eine Pause und setzen einfach einige Minuten lang nicht ein."

Julia Spinola gratuliert dem Theaterregisseur Achim Freyer zum siebzigsten Geburtstag und zu seiner "rundum geglückten 'Ariodante'-Inszenierung" in Frankfurt. Andreas Rossmann war, beim Festakt zum dreißigjährigen Bestehen des NRW-Kultursekretariats, wo Ministerpräsident Peer Steinbrück sich die Gelegenheit entgehen ließ, eine "kulturpolitische Grundsatzrede" zu halten. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod Peter Ustinovs. Wolfgang Pehnt gratuliert dem Wiener Künstlerarchitekten Hans Hollein zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Rosenfelder den Schachtürken - das ist der erste Schachautomat der Welt, der 1770 vor Maria Theresia seine erste Partie spielen durfte. Ein funktionstüchtiger Nachbau - das Original verbrannte - kann im Paderborner Computermuseum Heinz Nixdorf bewundert werden. Martin Lhotzky war bei einem Vortrag des Verfassungsrechtlers Andras Sajo, der in Wien über das Verhältnis von Staat und Glaubensgemeinsschaft sprach. Und Wolfgang Sandner beschreibt die Geschichte des Festspielhauses Hellerau, aus dem Udo Zimmermann einen "Grünen Hügel für die Moderne" machen möchte.

Besprochen werden die Ausstellung der Liechtenstein-Sammlungen in Wien, Andreas Kriegenburgers Inszenierung des "Puntila" in Zürich, Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Wildes "Salome" im Akademietheater Wien und französisches Tanztheater von Mathilde Monnier und Emmanuelle Huyn beim "Mars"-Festival in Berlin.

TAZ, 30.03.2004

In einem wirklich guten, weil stichwortarmen und von beiden Seiten angenehm ernst genommenen Interview, erläutert der Computerspielproduzent Harvey Smith, worauf es ihm unter anderem bei seinem Erfolgsprodukt "Deus Ex" ankam: "Prinzipiell denke ich, dass Ethik stark mit Geschwindigkeit verbunden ist. Bei 'Counterstrike' zum Beispiel killt man in zehn Minuten 100 Gegner und stirbt selbst fünfmal, denkt aber keine Sekunde darüber nach. Keine Zeit. Unser Spiel macht auch mal Pausen, gibt Zeit, zu reflektieren, was man gerade getan hat. Ich finde es schade, dass immer nur nach einfachen Prinzipien gespielt wird. Wer ist der Schnellste? Wer zielt am besten? Niemand hat je versucht, soziale Beziehungen in einem Videospiel zu thematisieren."

Weiteres: Uh-Young Kim porträtiert den HipHop-Produzenten Otis Jackson jr., der im Alleingang eine "komplette Liga von Superhelden" verkörpere, indem er gleich sieben Bösewichter für sein Projekt "Madvillain" versammelt hat. Daniel Bax kommentiert das Urteil gegen Bertrand Cantat. Auf den Tagesthemenseiten verabschiedet Lars Penning den verstorbenen Schauspieler und Schriftsteller Peter Ustinov. Auf der Medienseite informiert Reinhard Wolff über die litauische Tageszeitung "Respublika", die regelmäßig "antisemitische Hasstiraden" verbreite und dennoch quasi unbehelligt bleibt. Und auf der zweiten Meinungsseite bekennt Bernhard "der einzig wahre Familienvater" Pötter, dass in seinem Kinderzimmer purer Konservativismus herrscht ("Für Jonas muss alles so bleiben, wie es schon immer war").

Besprochen werden die große Einzelausstellung "Album" des international bekannten Bielefelder Videokünstlers und Experimentalfilmers Matthias Müller im Neuen Berliner Kunstverein und Bücher, darunter die Autobiografie des Bassisten Charles Mingus und die Erinnerungen seiner Frau Sue Graham Mingus. Als den "Porno, der verpuffte," erledigt Gerrit Bartels Thor Kunkels Roman "Endstufe" (mehr hier), der heute bei Eichborn erscheint (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 30.03.2004

Peter W. Jansen schreibt zum Tod Sir Peter Ustinovs und fragt sich ob dem "Samowardampfplauderer" die Leichtigkeit zuweilen schwer gefallen ist: "Hätte man diesen Charakter angemessen zu möblieren, liefe es auf ein Ensemble aus Chippendale und alpenländischem Barock hinaus, mit Brokatvorhängen und echtem Talmi. Bei dem Multitalent, wie man solche Begabungen nennt, mit der Kenntnis von mehr als einem Dutzend Sprachen gesegnet, ist ungewiss, ob ihm das Leichte, wie man hoffen möchte, auch nur ein bisschen schwer gefallen ist. Zeichen dafür gibt es indes nicht. Als wäre ihm alles zugeflogen wie der Leimrute die Mücken."

Klaus Englert gratuliert dem Wiener Architekten Hans Hollein zum Siebzigsten. Besprochen werden eine Aufführung des Requiems von Hector Berlioz bei den Osterfestspielen in Luzern, Roland Aeschlimanns Inszenierung des "Parsifal" im Genfer Grand Theatre mit "erlesenem Sängerensemble" sowie Bücher, darunter die Tagebücher des Regisseurs Einar Schleef ("Traumatisierungen, wohin man blickt. Selbst der Pfarrer haut dem Konfirmanden beim Abendmahl den Kelchrand so brutal zwischen die Zähne, dass Blut fließt", schaudert Martin Krumbholz) und Sheila und David Rothmans Studie "The Pursuit of Perfection", die sich mit dem - medizinischen - Streben nach Perfektion beschäftigt und "natürlich" aus den USA stammt, wie Carlo Caduff meint, denn "wie der Kapitalismus lässt sich auch die Medizin in ihrer massivsten Ursprünglichkeit in Amerika beobachten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 30.03.2004

In einem Gespräch mit zwei der diesjährigen Preisträger der Goethemedaille, Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz (mehr) und Anatoli Michailow geht es um neue und alte Formen des Antisemitismus. Kertesz kommentiert unter anderem den zeitgenössischen "politischen" Antisemitismus" a la Möllemann und Hohmann, den er für "wirklich gefährlich" hält: "Hier geht es um eine neue Sprache, die sehr gut funktioniert, indem sie auf alte Mechanismen zurückgreift. Wissen Sie, vor Auschwitz war der Antisemitismus ja sozusagen ein 'unschuldiger' Antisemitismus. Dieser unschuldige Antisemitismus führte zu Auschwitz - 2000 Jahre lang wurde das Bild vom 'hässlichen Juden' in der europäischen Kultur geprägt. Antisemitismus nach Auschwitz hat eine andere Qualität: Dies sind potenzielle Mörder. Wer heute Antisemit ist, über Auschwitz Bescheid weiß und öffentlich und politisch Antisemitismus verbreitet, der muss wissen, wohin das führt." Und Michailow meint: "Die Versuchung ist derzeit groß, den anderen zu blamieren, die Verantwortung für eine reale oder imaginäre Schuld bei anderen zu suchen. Damit wird in verschiedenen Mischungen von Leuten, die nicht im Stande sind, den Herausforderungen der Zeit adäquat zu begegnen, gespielt. Insofern ist der neue Antisemitismus nicht wirklich neu, sondern eine alte Reaktion auf eine neue Welt."

Weiteres: Daniel Kothenschulte würdigt Peter Ustinov als den vielleicht "letzten Kosmopoliten" ("Wie alle, die von der universellen Ansprache der Kunst wirklich überzeugt sind, war sich Peter Ustinov zu nichts zu schade"). Marica Bodrozic informiert über die erste Bibliothek für Roma, die demnächst im südungarischen Pecs eröffnet wird. In Times mager macht Peter Michalzik Europa an einem Theaterfestival neuer Stücke im Juni fest. Und auf der Medienseite wundert man sich über das Gehaltsgefälle im Wall Street Journal.

Besprochen werden Inszenierungen von Puccinis Oper "Faniciulla del West" an der Deutschen Oper Berlin und von Händels Oper "Ariodante" an der Oper Frankfurt.

SZ, 30.03.2004

Wer spricht eigentlich für die Muslime in Deutschland? wundert sich Katajun Amirpur in einem Artikel über die teilweise "haarsträubenden" Koraninterpretationen hierzulande. "Sie machen doch immer wieder Freude, diese Islam-Veranstaltungen, die seit dem 11. September allerorten initiiert werden. Entweder erklären einem deutsche Teilnehmer, man habe seine eigene Religion nicht verstanden, weil man sich von manchen harschen Geboten des Korans distanziert. Oder aber andere anwesende Muslime verteidigen diese Gebote, dass einem die Haare zu Berge stehen." Dabei sei die Diskussion, etwa über drakonische Strafen wie die Steinigung untreuer Frauen, sogar in einigen streng islamisch regierten Staaten entschieden weiter. Nur "in Deutschland gehen Muslime - wie die deutsche Konvertitin Eva Shabassy - hin und verteidigen solche unsäglichen Strafen. 'Vielleicht werden ja tausende von Ehen gerettet, wenn einmal in hundert Jahren eine Frau gesteinigt wird.' Na prima."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff berichtet über die Hoffnung der Stadt Halle, die Sammlung Gerlinger halten zu können. Annette Ramelsberger resümiert eine "erstaunliche" Berliner Tagung, auf der sich Geheimdienstler über Geheimhaltung und Transparenz, Kontrolle und das Selbstverständnis ihrer Institutionen austauschten. Christoph Schwennicke berichtet von der 54. Königswinter-Konferenz in Oxford, auf der es um das transatlantische und auch das deutsch-britische Verhältnis ging. Jan Christophersen stellt das Internetforum neuedichte vor, in dem ein Kreis von Lyrikern den state of art der Poesie erkundet. "akis" kommentiert eine Gesetzesänderung in den USA, wonach das Töten einer schwangeren Frau ab sofort als Doppelmord angeklagt werden kann. Und im Aufmacher verabschiedet Fritz Göttler den großen Peter Ustinov.

Wolfgang Schreiber gratuliert dem Maler, Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer zum Siebzigsten, und Dirk Meyhöfer würdigt anlässlich seines siebzigsten Geburtstags den Wiener Architekten Hans Hollein (mehr), der einst als "Herold der Postmoderne" klassifiziert wurde. In der "Zwischenzeit" schwärmt Claus Heinrich Meyer vom großen Tropenhaus im Botanischen Garten von Berlin, das allerdings leider auch ein bisschen marode ist. Gemeldet werden schließlich der Tod des Fotografen Dirk Reinartz, den "skoh" als uneitlen Vertreter seiner Zunft würdigt, und die Gründung eines europäischen Kulturinstituts in Genua.

Besprochen werden eine Inszenierung der "Orestie" des Aischylos am Theater Basel, eine Adaption von Alfred Muschgs "Der Rote Ritter" am Schauspiel Hannover, zwei Hamburger Ausstellung über die Etrusker im Museum für Kunst und Gewerbe sowie im Bucerius Kunst Forum, die vor allem die einzigartigen Bestattungsriten dieser Hochkultur zeigen, und Bücher, darunter der erste Band von Richard J. Evans' umfangreichen Darstellung des Dritten Reichs, der Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gerhard Nebel 1938 - 1974 und eine Hymne an das Laufen (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).