Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2003. In der Zeit entwirft Ulrich Beck ein selbstkritisches Experimental-Europa. In der SZ klärt uns der Philosoph Otfried Höffe über die leidige Tatsache auf, dass Ärzte nicht unfehlbar sind. Die taz weist antideutsche Ausfälle bei Tacitus nach. Die FAZ benennt den neuen Selbstmordtrend: "Suicide by cop". Die NZZ porträtiert den israelischen Autor Aharon Appelfeld.

Zeit, 10.07.2003

Viel Prominenz heute in der Zeit.

Der 1917 geborene Historiker Eric Hobsbawm (mehr hier) bekennt sich im Gespräch mit Thomas Assheuer zwar nicht mehr zum Kommunismus, aber darum ist er noch lange kein Freund Amerikas: "Es mag sein, dass die amerikanische Hegemonie das Beste ist, was der Welt passieren kann. Aber schön ist es nicht."

Der marokkanische Autor Tahar ben Jelloun (mehr hier) begeht die Slums von Casablanca, wo von Saudiarabien finanzierte Islamisten die armen jungen Männer mit pikanten Paradiesversprechen zu Selbstmordattentaten treiben: "Das alles ist der Geschichte, den Traditionen und der Mentalität der Marokkaner sehr fremd. Die Selbstaufopferung im Namen des Glaubens, diese Geste, die nicht aus dem seelischen Bedürfnis des Einzelnen kommt, sondern Ergebnis einer Manipulation, verinnerlichter Fremdbestimmung ist, hat auch nichts mit dem Islam oder einer anderen Religion zu tun. Es ist die Logik der Sekten, das Rätsel und Geheimnis der Gurus, der maskierten oder unsichtbaren Auftraggeber."

Der Soziologe Ulrich Beck (mehr hier) entwirft die Utopie eines kosmopolitischen Europas: "Das kosmopolitische Europa ist das in seiner Geschichte verwurzelte, mit seiner Geschichte brechende und die Kraft dafür aus seiner Geschichte gewinnende, selbstkritische Experimental-Europa."

Weitere Artikel: Joseph Joffe beteiligt sich an den Entwürfen zum "Branding Germany" und schlägt neue Nationalfarben, sowie ein neues Wappentier vor, um die Friedfertigkeit der deutschen Nation zu unterstreichen: Golden Retriever vor blauweißem Grund. Katja Nicodemus bespricht Abbas Kiarostamis Film "Ten". Thomas Groß stellt die erste afghanische Girlsband vor, die Burka Band ("Ironie des Medienzeitalters: Das erste Popgesicht Afghanistans hat gleich keins.") Stefan Koldehoff berichtet über die Einberufung einer "beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts" - sie soll strittige Fragen bei der Rückgabe von Raubkunst klären. Und Claus Spahn erblickte bei der Stuttgarter Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aron" "elegante Bilder vom Bilderverbot".

Und Dieter Bachmann, ehemals Chefredakteur der zeitschrift du, beklagt, dass der Zürcher Tages-Anzeiger diese Zeitschrift nach sechzig Jahren einstellen will.

Der Literaturteil ist zum Teil dem Autor und Literaturwissenschaftler Reinhard Baumgart gewidmet, der der Zeit verbunden war. Iris Radisch schreibt den Nachruf. Von Baumgart selbst wird eine letzte Kritik (nämlich von Anne Atiks Erinnerungen an Beckett) sowie ein Kapitel aus seinen demnächst erscheinenden Memoiren abgedruckt.

Im politischen Teil finden wir einen Essay des streitbaren israelischen Historikers Tom Segev, der zwar nicht eine Lösung, aber eine Entschärfung des palästinensischen Konflikts glauben will. Auf der Zeitläufte-Seite erzählt Jörg Schweigard, wie der 14. Juli 1789 Irlands Katholiken und Protestanten inspirierte, sich gemeinsam gegen England zu erheben. Und im Wissen-Teil beschreibt Christoph Drösser die Schwierigkeit der Robotiker, die Roboter zum Laufen zu bringen. Dazu gehört ein Gespräch mit dem Roboterbauer Holk Cruse.

SZ, 10.07.2003

"Ein Arzt sollte keine falschen Hoffnungen wecken," schreibt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe (mehr hier) in einem Artikel, zu dem ihn der Tod der siamesischen Zwillingsschwestern inspirierte. "Statt die ärztliche Ohnmacht angesichts der Übermacht des Todes mit einem 'therapeutischen Aktivismus' zu überspielen oder aber ins andere Extrem, in Resignation, zu verfallen, ist es ehrlicher und auch würdiger, die Erwartung von Patienten und Angehörigen auf Allmacht zurückzuweisen. Allerdings setzt das eine wichtige Fähigkeit voraus, die hohe Kunst, 'Nein' zu sagen. Statt von einer Kunst des Unterlassens könnte man auch von einem esprit de finesse sprechen, der Verbindung von Sensibilität und Urteilskraft."

Als "eine in dieser Zuspitzung bislang nicht da gewesene Vermählung von Product Placement, Pop-Ästhetik, Mode, Malerei und der japanischen Massenkultur erotischer Niedlichkeit" beurteilt Holger Liebs, dass die Malerei-Ausstellung der Biennale im Museo Correr mit einem Film des Tokioter Malers, Bildhauers, Computerkünstlers und Kurators Takashi Murakami (mehr hier) eingeleitet wird. "Wenn man weiß, dass Louis Vuitton die 'Pittura/Painting'-Schau sponsert, dass außerdem der LV-Chefdesigner Marc Jacobs im vergangenen Jahr Murakami beauftragt hat, dem Luxuslabel ... neuen Manga-Glanz zu verleihen, und dass schließlich der im Museo Correr gezeigte Film 'Superflat Monogram' seit dem Frühjahr in allen großen LV-Flagship-Stores dieser Welt zum Kauf von Murakamis Designer-Handtaschen 'Pink Cherry Blossom Papillon' oder 'Eye Love You' anregen soll - wenn man das alles weiß, dann bekommt der zartbunte Techno-Animismus des 'Pop-Art-Samurais' ... eine ganz besondere Note."

Weitere Artikel: Alexander Kissler macht sich macht sich Gedanken über die Zukunft des Zentralrats der Juden in Deutschland. Benjamin Quabeck hat sich mit Rainer Gansera über seinen Film "Verschwende Deine Jugend" unterhalten. Fritz Göttler informiert über Schwierigkeiten bei der legendären Pariser Filmzeitschrift "Cahiers du Cinema". Da das Theaterfestival von Avignon weiter bestreikt wird, beginnt sich C. Bernd Sucher zu langweilen: "Die Situation ist unerträglich... Selbst das Programmkino Utopia streikt mit." Dirk Peitz sinniert über die Frage, ob sich mit Christoph Stölzl das Amt des Generaldirektors der Museen wiederbeleben lässt. "bud" berichtet von einer Arbeitstagung der Jugendbuchverlage und "akis" verabschiedet den verstorbenen "konservativen Revolutionär" Armin Mohler.

Besprochen werden: McGs Fortsetzung des Action-Films "Drei Engel für Charlie", Abbas Kiarostami neuer Film "Ten", das Festival "Photo Espana 2003" in Madrid, eine O. E. Hasse-Ausstellung im Berliner Schwulen Museum und Bücher, darunter Florian Illies "Generation Golf zwei", in dem "jede noch so schüchterne Andeutung von Erotik" fehle, wie Rezensent Jens Bisky befindet (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 10.07.2003

Über die Rolle des Kinos als Bewusstseinsindustrie beim Wissen über Sex und Beziehungen hat Barbara Schweizerhof nachgedacht. Sie ist der Meinung, dass die Muster, auf die sich Menschen beim erzählerischen Strukturieren der eigenen Liebeserfahrungen beziehen, mittlerweile fast immer aus Filmen stammen. "Doch wer sich etwa, in Ironie noch ziemlich unerfahren, in jungen Jahren erwartungsvoll in Woody Allens 'Was Sie schon immer über Sex wissen wollten ?' geschlichen hat, wird wissen, dass es eigentümliche Kenntnisse sind, die das Kino über Sex vermittelt. Einerseits gehen sie weit über den persönlichen Erfahrungshorizont hinaus, andererseits kommen sie nie ganz an ihn heran. Bei aller äußeren Ähnlichkeit mit dem wahren Leben führt der Sex im Kino eine irritierende Eigenexistenz: Es gibt Szenen, die aus den Filmen, in denen sie vorkommen, mit der Zeit völlig herausfallen, den Kopf besetzen und sich dort zur Fantasiebibliothek ansammeln."

Weitere Artikel: Ralph Bollmann weiß, das antideutsche Ausfälle wie die des aktuellen Staatssekretärs für Tourismus in Italien seit Tacitus Tradition haben. Aber: "Bisher war gerade in Italien, dem Land der geschmeidigen Diplomatie und der perfekten Umgangsformen, allerdings klar: So etwas kann man als Politiker nicht öffentlich sagen. Doch seit Berlusconis Amtsübernahme hat sich, gerade bei den Ministern der Lega Nord, eine geradezu deutsche Ruppigkeit des Tons eingebürgert. Wenn Berlusconi irgendwann scheitern sollte, dann wahrscheinlich daran - dass die Italiener den Eindruck haben, er vermöge für ihr Land keine 'bella figura' zu machen.

Besprochen werden Christoph Hübners Dokumentarfilm über den Alltag von vier jungen Fußballern "Die Champions", das Berliner Robbie-Williams-Konzert (hier die Williams-Website), eine Sebastian-Schutyser-Ausstellung im Architekturmuseum Frankfurt mit Fotos von Lehm-Moscheen in Mali, und der neue Film von Abbas Kiarostami "Ten" ("eine überzeugende Mischung aus avantgardistischer Komposition, sozialem Dokument und großem Schauspielerkino").

Und natürlich TOM.

FR, 10.07.2003

Christian Schlüter berichtet wenig Erfreuliches von einer Tagung, die der Münsteraner Philosoph Josef Früchtl (mehr hier) zum Thema "Adorno und die Popkultur" zu dessen hundertstem Geburtstag veranstaltet hat. Besonders verwundert hat ihn ein Vortag des Frankfurter Journalisten Peter Kemper: "Man muss Adorno schon sehr mögen, wenn man dessen Tiraden immer noch und immer wieder zum Besten gibt. In der Pop-Musik haben auch andere, weit weniger berufene Geister den Untergang des Abendlands gesehen. Ausgerechnet Adorno für seine Spießigkeit zu kritisieren, verkennt, dass er als Kritiker zugleich über eine avancierte, an der Musik Alban Bergs orientierte Ästhetik verfügte. Und wenn Kemper Adornos Entsetzen vor der entfesselten Sinnlichkeit tanzender Jugendliche erwähnte, um auch noch die erkenntnismindernden Verklemmungen des Meisterdenkers zu entlarven, dann sei er nur an die Spießigkeit seiner sinnlich-sexuell durchrevolutionierten Generationsgenossen erinnert." Schlüter empfiehlt: 68 Stunden Schwermetall hören.

"Geweint hat Michel Friedman nicht", kommentiert Martin Brauck auf der Medienseite noch einmal dessen vorgestrige Pressekonferenz. "Das ist nicht merkwürdig, das war erwartbar. Friedman kann genau formulieren, was Tränen im Fernsehen bedeuten. Und er hat es in einem Interview mit der 'Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung' auch schon getan, als er gefragt wurde, ob er Leute schon zum Weinen gebracht habe. 'Es gab Sendungen, wo Gäste kurz davor waren zu verzweifeln', hat er geantwortet, 'Aber nicht an den Fragen, sondern an den Konflikten, die sie in sich tragen zwischen ihren Idealen und der Wirklichkeit.'"

Weiteres: Jürgen Otten fragt, ob die finanzielle Unterstützung durch den Bund den Berliner Opernhäusern auch aus der inhaltlichen Krise helfen kann. Helmut Höge macht sich sich ausgesprochen unziemliche Gedanken zum Berliner Paradewesen. In der Kolumne Times mager befasst  sich Hans-Klaus Jungheinrich mit dem tödlichen Ende des Versuchs, erwachsene siamesische Zwillinge zu trennen. Ursula März hat das Verfahren gegen einen Polizeikommissar beobachtet, dem eine Kollegin sexuelle Nötigung vorgeworfen hat. Daniel Kothenschulte hat auf dem Filmfest in Bologna einen verschollenen John-Ford-Western gesehen und wünscht sich jetzt, dass auch in Deutschland Filmfestivals wieder aus Kinoliebe veranstaltet werden.

Besprochen werden: Abbas Kiarostamis neuer Film "Ten", eine Asger-Jorn-Retrospektive in der Kunsthalle Kiel und James Salters Roman "Cassada" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 10.07.2003

Einen neuen Selbstmordtrend macht Oliver Tolmein aus: "Suicide by cop". Man greift Polizisten an, um sich von ihnen erschießen zu lassen. "Zwar haben sich nur wenige der mehr als 30 000 Selbstmörder, die die amerikanische Statistik im Jahr verzeichnet, durch die Polizei erschießen lassen. Ins Gewicht fällt ihre Zahl freilich, insofern sie einen erheblichen Teil der polizeilichen Todesschüsse ausmacht. In Zukunft könnte 'suicide by cop'... vielleicht auch in Europa verstärkt Aufmerksamkeit erfahren." Wir haben im Netz eine allein diesem Thema gewidmete Website gefunden.

Weitere Artikel: Von Jeffrey Eugenides (mehr hier und hier) veröffentlicht die FAZ einen kleinen Text über den Bunker in der American Academy, einer Berliner Villa, die einst einem jüdischen Fabrikanten gehörte, bevor sie von Hitlers Minister Walther Funk bezogen wurde, der den Bunker dort bauen ließ. Christian Schwägerl beklagt eine allzu permissive Bioethik auf europäischer Ebene. Hannes Hintermeier resümiert eine Münchner Verlegerkonferenz, wo die Herren der Konzerne, die sich eben noch als Big Player der New Economy ausgaben, die Parole "Erfolg durch Verzicht" ausgaben. Frank Pergande berichtet, dass Kulturstaatsministerin Christina Weiss ihre Förderprogramme für die Neuen Länder reduzieren will.

Auf der Filmseite berichtet Michael Althen über Bemühungen um einen filmischen Kanon, der dazu dienen soll, die Filme zu benennen, welche im Schulunterricht durchgenommen werden können und sollen. Tilman Spreckelsen bereitet uns auf eine Retrospektive über die Schauspielerin Camilla Horn im Frankfurter Filmmuseum vor. Peter Körte schreibt zum Tod von Buddy Ebsen. Und Peter Körte meldet Flaute im amerikanischen Kino - die Sommerfilme laufen nicht so recht. Auf der Medienseite porträtiert Kerstin Holm den russischen Journalisten Andrej Konstantinow, der sich auf die Aufklärung politischer Morde spezialisiert hat. Auf der letzten Seite schreibt Wolfgang Sandner ein kleines Profil über Rolf Beck, den Intendanten des Schleswig-Holstein-Musikfestivals. Und Katja Gelinky geht den historischen Verbindungen der USA zu Liberia nach, das von befreiten amerikanischen Sklaven gegründet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "American Effect" im New Yorker Whitney Museum, Abbas Kiarostamis neuer Film "Ten", ein Auftritt des Gitarristen Pat Metheny bei Jazz Baltica, eine Ausstellung über den Historiker Theodor Mommsen im Varusschlachtmuseum bei Kalkriese und eine Ausstellung über den Architekten Werner Kallmorgen im (von ihm entworfenen) Hambuurger Ernst-Barlach-Haus.

NZZ, 10.07.2003

Naomi Bubis hat den jüdischen Schriftsteller Aharon Appelfeld (mehr hier) in Jerusalem getroffen. Der 71-Jährige hat als Kind den Holocaust überlebt und bezeichnet sich als den "einzigen Autor in Israel, der über jüdisches Leben schreibt". In allen seinen mittlerweile dreißig Büchern befasst er sich mit der Shoah und der "untergegangenen Welt des europäischen Judentums", sagt Bubis. Mit der israelischen Politik ist er nicht zufrieden und hat aus Protest bei den letzten Wahlen "einen weißen Stimmzettel abgegeben", wie er Bubis erzählt. Für ihn seien innergesellschaftliche Probleme wichtiger als der Konflikt mit den Palästinensern, vor deren Terror er keine Angst hat. "Jemand wie ich, der den Holocaust als Kind überlebt hat, hat zum Leben und zum Tod eine andere Einstellung", sagt er.

Weitere Artikel: Marc Zitzmann befasst sich mit dem Streik der Kulturschaffenden in Frankreichs und befürchtet "verbrannte Erde" nach dem "Flächenbrand". Er findet es bestürzend, mit welchem Feuereifer die Künstler "an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen". Christian Gasser und Jürg Zbinden stellen den enormen Boom von Comic-Superhelden auf der Leinwand fest und wundern sich, wie die Boxershorts des Hulk die Wachstumsprozesse überleben. Wie es mit den Dresdner Kunstsammlungen weitergehen soll, ist noch immer ungewiss, wie Joachim Güntner berichtet.

Besprochen werden Bücher, darunter neue Publikationen über Heideggers Beziehung zum Katholizismus, Allan Bennetts Roman "Cosi fan tutte" und eine Sammlung von Bilderbriefen aus drei Jahrhunderten (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).