Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2003. Die FAZ fragt: Sind manche Menschen ansteckender als andere? Die SZ wirbt für Apples Download-Service für Musik. Die Zeit meint: Demokratie im Irak reicht nicht. Die FR verteidigt die Wiener Kulturszene gegen ihre avantgardistischen Kritiker. Die NZZ meditiert über das Massenphänomen Arbeit.

Zeit, 30.04.2003

Demokratie allein reicht nicht, meint der Nahostexperte Georg Brunold: "Ostasien kennt vom Volk gewählte autoritäre Regierungen wie in Singapur und Malaysia, wo die Autokratie durch 'asiatische Werte' legitimiert wird, und beinahe das ganze Afrika südlich der Sahara hält Wahlen ab". Wer einem Land wie dem Irak Demokratie bringen wolle, der soll sich darum nicht nur mit einem Urnengang abfinden. "Was die Empfehlung 'Demokratie' angeht, so wäre das Augenmerk endlich auf die Verfassung zu richten, und zwar nicht nur auf die Unabhängigkeit von Gesetzgebung und Rechtspflege, sondern vordringlich auf Prinzipien von Dezentralisierung, Föderalismus und Subsidiarität. Sonst steht zu befürchten, dass wieder einmal ein großes Wort die Probleme zuzuschütten hat, die jenen, die es ständig im Mund führen, zu unbequem, zu aufreibend und zu kostspielig sind."

Weitere Artikel: Jens Jessen spielt das alte Feuilletonspiel und sieht im Mordfall Metzler eine Nachahmung der Kunst durch die Wirklichkeit ("mindestens zwei Bücher gibt es schon, die von der mörderischen Verführung eines jungen Mannes durch elegante Kleider und elegante Kreise erzählen"). Thomas Kleine-Brockhoff sieht in den heutigen Bellizisten Enkel Ronald Reagans und den heutigen Pazifisten Enkel Willy Brandts. Evelyn Finger porträtiert den Theaterregisseur Armin Petras. Sabine Horst konstatiert eine Rückkehr des Horrorgenres im Kino. Hendrik Feindt gratuliert dem "Kleinen Fernsehspiel" des ZDF zum Vierzigsten. Christoph Dieckmann hat sich ein Country-Festival in Utrecht zu Gemüte geführt. Michael Mönniger freut sich über die Eröffnung eines Cartier-Bresson-Museums in Paris und berichtet von einer Ausstellung des Fotografen in der Biliotheque nationale. Und Hanno Rauterberg stellt ein kleines Atelier- und Galeriehaus vor, das Daniel Libeskind für die Künstlerin Barbara Weil in Mallorca gebaut hat. Hanns Zischler bespricht Alexander Sokurows Film "Russian Ark".

In der Leitglosse fragt Christof Siemes: "Welche Vorsehung schlummert im 18. Titelgewinn des FC Bayern München?"

Aufmacher des Literaturteils ist Iris Radischs Besprechung von Reinhard Jirgls Roman "Die Unvollendeten". Ulrich Greiner gratuliert der edition suhrkamp zum Vierzigsten.

Auf Seite 1 läutet Martin Spiewak der deutschen Universität das Totenglöcklein: "Mit der Universität fällt Deutschlands beste Tradition - und Zukunft." Im politischen Teil veröffentlicht Dimitrij Trenin vom Moskauer Zentrum des Carnegie Endowment einen Essay, wonach Europa nur dann ein Partner Amerikas sein könne, wenn es dessen Übermacht anerkennt.

SZ, 30.04.2003

Für Jörg Häntzschel sind die Tage der CD gezählt. Mit seinem neuen Download-Service Music wird Apple den gesamten Musikmarkt im Internet-Handel neu aufrollen, wirbt Häntzschel, und CDs "so unpraktisch und altmodisch" erscheinen lassen wie Schallplatten. "Schon das Überspielen von CDs auf die Festplatte ist ein Kinderspiel. Sobald man eine CD in den Computer schiebt, startet die kostenlose Musiksoftware iTunes. Automatisch beschriftet der Computer die Tracks mit Songtiteln und weiteren Informationen aus dem Internet. Der Nutzer muss nur die Returntaste drücken, Minuten später sind die neuen Stücke in die eigene Musikbibliothek aufgenommen und lassen sich vom Computer oder der Stereoanlage abspielen." Avisierter Kostenpunkt: 99 Cent pro Track.

Petra Steinberger vermutet, dass der Irakkrieg in die Geschichte eingehen wird als der Krieg, der beendet wurde, bevor man seine Ursache gefunden hat. Am Donnerstag soll Präsident Bush das Ende der Kampfhandlungen bekannt geben, "mit dem Hinweis allerdings, dass Bush damit nicht den Sieg der Koalitionstruppen erklären werde. Denn für diesen endgültigen Triumph fehlen ihm, man erinnere sich, ein paar Schlüsselerfolge, beispielsweise die Entdeckung der fast sagenumwobenen Massenvernichtungswaffen sowie die Gewissheit, dass Saddam Hussein tot ist oder gefangen oder es in absehbarer Zeit zumindest sein wird."

Weitere Artikel: Christian Nürnberger verkündet das Ende der Arbeitsgesellschaft und ihrer Träume. Alex Rühle begibt sich auf eine sentimentalische Wanderung durch Pullach, dessen Architektur noch immer die "phobische Russland-Fixierung" eines Arnold Gehlens widerspiegele. "Es wäre nicht verwunderlich, wenn in dem Betonkarree aus düster verschachtelten Mauerauskragungen zwei Schlapphüte aussteigen und Wörter wie 'Verdammte Schande, diese Ostverträge' murmeln." Die Schauspielerin Valeria Golino spricht mit Marcus Rothe über ihre Arbeit an dem Film "Lampedusa", das Meer und die Mutterliebe. Fritz Göttler und Tobias Kniebe bereiten darauf vor, was einen beim Freitag startenden 18. Dokumentarfilmfest in München erwartet. Thomas Thieringer schickt Glückwünsche an den Schauspieler und Kabarettisten Hans Jürgen Diedrich zum achtzigsten, Franz Dobler gratuliert dem Countrysänger Willie Nelson zum siebzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite berichtet Bernd Dörries, dass sich SWR-Indendant Peter Voß - zum Verdruss seiner Kollegen - sehr unzufrieden mit der eigenen Berichterstattung über den Irakkrieg gezeigt hat.

Besprochen werden Bryan Singers politische Fantasy "X-Men 2", Händels Oratorium "Saul" in der Bayerischen Staatsoper sowie eine Ausstellung von Meisterwerken der Zero-Bewegung in der Innsbrucker Kunstbrücke und Bücher, darunter Alice Sebolds Roman "In meinem Himmel", Stephen Thomsopns Interviews mit kreative Außenseitern, Monique de Saint Martins Studie über den französischen Adel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 30.04.2003

Sieglinde Geisel widmet sich dem Massenphänomen Arbeit, welches in der "Menschheitsgeschichte lange keinen guten Ruf" genoss, dann aber doch einen ungeahnten Siegeszug antrat: "Was für seelische Folgen hat die Heiligsprechung der Arbeit um der Arbeit willen? Man sieht es vor allem dann, wenn die Arbeit fehlt: Selbst wenn die materielle Not durch Sozialsysteme gemildert wird, ist Arbeitslosigkeit ein unerträglicher Zustand. In einer frühen, berühmt gewordenen soziologischen Studie untersuchten Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und andere die seelischen Folgen der Arbeitslosigkeit während der großen Weltwirtschaftskrise. Nachdem die Fabrik 1932 geschlossen worden war, gab es im niederösterreichischen Dorf Marienthal praktisch niemanden mehr, der noch Arbeit hatte. Die Wissenschafter trafen auf 'eine als Ganzes resignierte Gesellschaft' sie stellten eine 'abgestumpfte Gleichmäßigkeit' sowie das 'Einschrumpfen der Lebensäußerungen' fest. Die Dorfbewohner befanden sich in verschiedenen Stadien des seelischen Abstiegs, bis hin zu 'Verzweiflung und Verfall'. Der ehemals gepflegte Park verwilderte, und selbst die Bibliotheksausleihen gingen um die Hälfte zurück. 'Seit ich arbeitslos bin, lese ich fast überhaupt nicht mehr', sagte einer der Arbeitslosen von Marienthal: 'Man hat den Kopf nicht danach.'"

Weitere Artikel: Alfred Cattani erinnert an Giuseppe Mazzini (mehr hier), den intellektuellen Kopf des italienischen Risorgimento und während seines Exils in der Schweiz auch zeitweiligen Autoren für die NZZ.

Besprochen: das Düsseldorfer Museum Kunst Palast beherbergt zur Zeit zwei Ausstellungen - Dali und Jake und Dinos Chapman. Wie Ursula Sinnreich befindet, wird so ein Spannungsfeld erzeugt, das von der "Magie des Mehrdeutigen bis zur Banalität des Eindeutigen auszureizen versucht, was der Ausstellungsbetrieb an Effekten zu bieten hat". Händels Oratorium "Saul" lässt in einer szenischen Umsetzung auf der Bühne der Bayrischen Staatsoper München noch manche Frage offen. Und Bücher: Thomas Haury Werk über "Antisemitismus von links" (mehr hier), Marco Lodolis ungewöhnlicher Stadtführer "Inseln in Rom", und Eleonore Frey würdigt die erstmals in Deutschland veröffentlichten Schriften des Psychoanalytikers Jacques Hassoun über "Muttersprache und Vaterwort" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 30.04.2003

Fast nur Rezensionen heute in der taz. Harald Fricke schreibt etwa zu "Russian Ark", in dem der russische Filmemacher Alexander Sokurow durch die Eremitage führt: "Dafür hat Sokurow das Medium des Films wie eine olympische Disziplin ausgereizt": In einer einzigen, 90 Minuten fortdauernden Einstellung wird die Kamera von Tilman Büttner knapp anderthalb Kilometer durch die Museumsräume geschleppt, in denen 3.000 Schauspieler und Komparsen, dazu noch drei Live-Orchester ein Tableau vivant aus dreihundert Jahren russischer Kulturgeschichte nachstellen." Dazu unterhält sich Volker Hummel mit Kameramann Tilman Büttner über Muskelaufbau bei den Dreharbeiten und die Kniffeligkeit, ohne einen einzigen Schnitt auszukommen. Und Hans Nieswandt blickt in seiner clubkolumne auf 30 Jahre Universal Zulu Nation zurück.

Besprochen werden außerdem Bettina Allamodas Arbeiten zum "Crossover von Mode und Kunst" im Weimarer K&K-Pavillon, William Forsythe letzte Inszenierung im Bockenheimer Depot "Decreation" und Bryan Singer Film "X-Men 2".

FR, 30.04.2003

Joachim Lux, Dramaturg am Burgtheater, verteidigt die Wiener Kulturszene gegen ihre avantgardistischen Kritiker: "In 'Starmania', der alpenländischen Variante von 'Deutschland sucht den Superstar', singt man, beinahe rührend, 'We are from Austria' und erwartet ansonsten gelassen, wie die amerikanische 'Starbucks'-Kette den Verteilungskampf gegen die Wiener Kaffeehäuser verlieren wird, während man auf die Wiener Museums- und Theaterlandschaft hemmungslos stolz ist, auch wenn sie keine unmittelbaren Zwecke erfüllt. Wien liegt zu weit östlich, um wirklich amerikanisiert zu sein. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch, was es bedeutet, in einer Kulisse des 18. und 19. Jahrhunderts zu leben, anstatt in einem vom Krieg zerstörten Land. Der Hang zum Lebensgenuss, zu repräsentativen Äußerungen, zu denen Oper und Theater seit jeher gehören, ist in einer alten Residenzstadt mit nur wenigen industriell geprägten Bürgern viel ausgeprägter als etwa in Berlin. Das heißt auch, dass Subkulturen, die die Trends von Übermorgen prägen, in Wien schlechtere Karten haben als anderswo."

Weitere Artikel: Zum 1. Mai erinnert Ernst Piper an Hitlers "genialen Schachzug", den Tag der Arbeit zu usurpieren. Klaus Dermutz schreibt einen Nachruf auf den Schauspieler Klaus Mertens. Gemeldet wird, dass der Deutsche Musikrat wieder zahlungsfähig ist.

Besprochen werden Burr Steers Tragikkomödie "Igby!", der Auftakt von Paul McCartneys Deutschland-Tournee in Köln und Bücher, darunter Paul Nizons Journale "Die Erstausgaben der Gefühle" sowie die Versuche an einer Kunst der Kritik von Marcia Pally und Christopher Hitchens (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 30.04.2003

Joachim Müller-Jung wurde beim hundertneunten Internisten-Kongress in Wiesbaden (mehr hier) Zeuge einer "atemberaubenden Präsentation, ein Thriller, den viele wie die Urkunde einer Urgefahr wahrgenommen haben dürften." Es ging um SARS. Zwei Fragen vor allem treiben die Ärzte und Forscher um: Warum sterben "nur bestimmte Menschen, und warum streuen augenscheinlich nur einige die Viren so vehement wie jener allererste bekannte Patient in der südchinesischen Metropole Guangzshou (der Partnerstadt Frankfurts), ein später verstorbener Nephrologe, der bei seinem Tagungsaufenthalt im Hotel Metropol in Hongkong Dutzende Menschen angesteckt hatte und so mehr oder weniger die Ausbreitung der Krankheit in Gang setzte. Wolfgang Preiser ... hat sich wochenlang zusammen mit anderen Ärzten im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf die Fährte der ersten Infizierten in der südchinesischen Provinz Guangdong gesetzt. Der Nephrologe, berichtete Preiser jetzt unmittelbar nach seiner Rückkehr, habe sich bei einem der Patienten auf dem Land infiziert, niemand aber wisse, woher genau das fatale Virus stammt. Eine Mutante?" Möglich, meint Müller Jung und schildert noch ein Phänomen, "das Preiser und seine Kollegen bei ihren Recherchen in China, aber auch die Fachleute in Singapur beobachteten: Offenkundig stecken sich Kinder bis fünfzehn Jahre sehr viel seltener an als Erwachsene. Woran das liegt?"

Christian Geyer ärgert sich über ein "herzig-treuherziges" Papier zur deutschen Außenpolitik, mit dem Wolfgang Schäuble "das einschlägige Völkerrecht ... in den Kamin" schreibt. "Ihm geht es um den Abriss eines tragenden Pfeilers im internationalen Recht, darum, das 'Recht auf Selbstverteidigung, einschließlich Nothilfe' als anerkannte Bedingung für militärische Interventionen hinter sich zu lassen ('reicht nicht mehr aus'). Was soll es am Völkerrecht zum Krieg noch zu 'entwickeln' geben, wenn dieser Pfeiler erst einmal eingestürzt ist?"

Weitere Artikel: Andreas Rossmann stellt die Bochumer Jahrhunderthalle vor, die als Festspielhaus der Ruhrtriennale dienen soll. Ilona Lehnart berichtet, dass sich Christoph Stölzl aus der CDU-Landespolitik zurückzieht: "Aber gemach! Noch scheint es, als hätten die Berliner Christdemokraten mit ihrem demissionierten Vorsitzenden zu rechnen - wenn nicht auf Landes-, so doch auf Bundesebene. Wer das Auf und Ab dieses so leicht und luftig operierenden Polit-Dilettanten über längere Zeit beobachtet hat, kennt ihn als ehrgeizig und flexibel." Dieter Bartetzko führt die Vermisstenliste der irakischen Kunstwerke fort und fragt, in welchen Tresoren die Grabschätze der Könige von Ur (Beispiel) und Nimrud lagern. Joseph Hanimann meldet, dass die Unesco ein einstweiliges Embargo für Kunstobjekte aus dem Irak befürwortet. Edo Reents gratuliert Countrysänger Willie Nelson zum siebzigsten, Martin Kämpchen der indischen Eisenbahn zum hundertfünfzigsten Geburtstag.

Auf der letzten Seite erzählt Heinrich Wefing, was das Restaurierungsprogramm des Getty für deutsche Museen tut. Gina Thomas porträtiert John Curtis, den Leiter der Abteilung für die Antiken des nahen Ostens am British Museum, die seit der Plünderung von Bagdad Hort der weltweit größten Sammlung mesopotamischer Schätze ist. Und Andreas Rosenfelder war bei einer gemeinsamen Lesung von Imre Kertesz und Peter Esterhazy in Köln.

Besprochen werden Alexander Sokurows "gelungenes" Kinoexperiment "Russian Ark", Händels "Saul" in München, und zwei Berliner Opernpremieren: Haydns "Philemon und Baucis" und Brittens "Peter Grimes".