Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2002. In der SZ fragt sich Tariq Ali, womit sich Jimmy Carter den Friedensnobelpreises verdient hat: Die Wiederbewaffnung der Roten Khmer? Die FR beweist anhand des neuen Eminem-Videos wie explizit ausgelassene Wörter sind. Die NZZ stellt das neue Institut für Berberstudien in Marokko vor. In der FAZ entmachten Hans Barbier und Stefan Aust die Erben.

SZ, 09.12.2002

Tariq Ali hegt Zweifel, ob es angemessen ist, Jimmy Carter den Friedens-Nobelpreis zu verleihen, und stellt sich die Laudatio vor: "Für seinen Befehl an die CIA, die brutalen Killer der argentinischen Todesschwadronen zu organisieren, die nicaraguanischen Exilanten (Contras) in Honduras auszubilden und in den Kampf gegen die sandinistische Bewegung zu schicken. (...) Für seine finanzielle und praktische Unterstützung des salvadorianischen Militärs, nachdem ein Reformflügel der Armee ausgeschaltet worden war. (...) Für seine Genehmigung verdeckter CIA-Operationen in Afghanistan, die zur Etablierung der Mudschaheddin führten. (...) Für seine Wiederbewaffnung der Streitkräfte Pol Pots und der Roten Khmer in Thailand, nachdem diese von den Vietnamesen besiegt worden waren." Und doch - "aus irgendeinem Grund fürchte ich, dass dies nicht die Rede ist, die der norwegische König am 10. Dezember halten wird."

Weitere Artikel: Für Sonja Zekri nennt den für das Münchner NS-Dokumentationszentrum abgesegneten Entwurf eine "Billigversion der Erinnerung", der die hohen Erwartungen nicht nur enttäuscht, sondern verhöhnt. Peter Rumpf war dabei, als beim 7. Berliner Gespräch über Schönheit des Bundes Deutscher Architekten Gemeinplätze abgegrast wurden. Thomas Steinfeld kann bezeugen, dass Imre Kertesz nun der Literatur-Nobelpreis überreicht wurde. Michael Thimann war auf der Tagung "Mittelalter im Georgekreis". Anke Sterneborg hat bei der Verleihung der Europäischen Filmpreise in Rom Schlachtgeläut vernommen. Werner Burckhardt gratuliert dem Jazztrompeter Donald Byrd zum Siebzigsten. In der Kolumne fragt sich "skoh" nach den möglichen Motiven der Amsterdamer Van Gogh-Diebe - die gestohlenen Bilder seien ja vergleichsweise unbedeutend. Schließlich wird laut dpa gemeldet, dass der neue Direktor der Stiftung Weimarer Klassik Bernhard Maaz heißt.

Auf der Medienseite resümiert sich für Christiane Schlötzer die Berichterstattung der türkischen Zeitungen in EU-Beitrittsangelegenheiten auf eine liebliche Ansichtskarte: "Alles wunderschön hier. Europäische Grüße, Eure Türken." Mit Kurt Tucholsky startet die SZ eine neue Serie über "die großen deutschsprachigen Journalisten".

Besprochen werden zwei "herrliche" Choreografien am Stuttgarter Ballett, Riccardo Mutis Inszenierung von Glucks "Iphigenia in Aulis" zur Eröffnung der Mailänder Scala, die Londoner Uraufführung von Nicholas Maws Oper "Sophie's Choice" unter Simon Rattle, Luk Percevals Uraufführung von Mayenburgs "kaltem Kind" an der Berliner Schaubühne, Nicole Krebitz' Film "Jeans", die Ausstellung "Die öffentliche Tafel" im Deutschen Historischen Museum in Berlin und Bücher - unter anderem Alfred Goubrans Brief "Der Pöbelkaiser", Harald Rainer Derschkas Übertragung ins Neuhochdeutsche des "Schwabenspiegels" und politische Bücher, über Rechtsextremismus und den "Zustand der Republik" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 09.12.2002

Wie bedeutsam Auslassungen in der Sprache sind, entdeckt Elke Buhr in Times mager. Beispiel - das neueste Video von Rapper Eminem: "Denn das, was in der von MTV ausgestrahlten Version des Songs fehlt, sind all die "expliziten" Wörter, die unzähligen fucking motherfuckers, die einer wie Eminem über seine Rede streut wie ein kräftiges Kräutersalz. Wären sie ausgesprochen, hätte man sie vielleicht gar nicht wahrgenommen, hätte sie selbst weggeblendet wie die unzähligen Ähs und Abers und Alsos, die ihrerseits den Wortschwall der Moderatoren des Senders durchziehen. So aber ist es, als stiegen aus den Textlöchern alle zensierten Fucks der Welt auf: Intensiver hat man das Unbewusste der Sprache wohl selten wahrgenommen."

Weitere Artikel: Für Jörg Taszmann war die Verleihung des Europäischen Filmpreises in Rom ein "langer, emotionsloser Abend" - aber wenigstens die Filme waren gut. Auf der Medienseite porträtiert Stephan Hilpold das Wiener Stadtmagazin "Falter", das in 25 Jahren "zum Monopol des Kampfes gegen Medienmonopole" geworden ist.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper" in Hannover, die Freiburger Premiere von Moritz Rinkes "Bühneninnenraum-Version" der Nibelungen und Bücher - zweimal David Foster Wallace, Hernando de Sotos Reformkonzept für arme Staaten, Uwe Pörksens Kritik an der politischen Rede und eine Studie über den Völkermord in Ruanda (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).

TAZ, 09.12.2002

Im Gespräch mit Brigitte Werneburg erklärt Klaus Biesenbach, Kurator der Schanghai Biennale, dass es schon bei der Übersetzung des diesjährigen Mottos ("Urban Creation") aus dem Chinesischen Schwierigkeiten gegeben habe, und dass er "bis heute nicht genau" wisse, was damit wirklich gemeint sei. Auch sei ihm im Laufe der Jahre klar geworden, wie fern Europa für China sei: "In Gesprächen wurde mir zum Beispiel versichert, dass Deutschland und Berlin sicher eine große Wichtigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besessen hätten. Mir kam das so vor, als würde von etwas so Fernem wie der Französischen Revolution gesprochen. Ich hatte den Eindruck, Europa wird in China weder als politische noch als wirtschaftliche Macht wirklich ernst genommen, noch ist es eine Perspektive oder eine Bedrohung. Das hat mich als Perspektive sehr verstört.

Weitere Artikel: Marina Collaci freut sich, dass bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises in Rom nur das Zeremoniell "Hollywood für Arme" war, die prämierten Filme sich hingegen eher der Globalisierung widersetzten. Max Dax porträtiert die französische Rockband Noir Desir, die einen Weg in die Schönheit sucht. Und auf der Meinungsseite sieht Georg Baltissen in Israels Palästinapolitik eine radikale Umkehrung des Nahost-Friedensprozesses.

Und schließlich TOM.

NZZ, 09.12.2002

Vor über einem Jahr hat der marokanische König Mohammed VI. zum ersten Mal das Wort "culture amazigh" - das so viel wie "Berberkultur" heißt - in den Mund genommen und damit für Verblüffung gesorgt. Denn die Berber hatten als Minderheit in Marokko noch unter den Repressionen des Königs Hassan II. zu leiden. Anfang dieses Jahres hat nun König Mohammed VI. die Gründung eines Instituts für Berberstudien in die Wege geleitet. Beat Stauffer hat sich mit dem Direktor des Instituts Mohamed Chafik getroffen, einem Berber und Gelehrten, der eine "beachtliche" Karriere in Marokko durchlaufen hat. "Für viele Berber ist Mohamed Chafik deshalb ganz einfach ein Mann des 'Maghzen', des königlichen Machtapparats, der sein Berbertum immer anderen Prioritäten untergeordnet hat."

Über die Tücken der Berbersprache und die regionalen Ausformungen informiert uns Angela Schader in einer Einführung in die Berbersprache.

Weitere Artikel: Georg Sütterlin fürchtet, dass der "kulturelle Frühling" im sizilianischen Palermo zu Ende gehe, weil der neue Bürgermeister von der Forza Italia alle Initiativen seines Vorgängers rückgängig macht. Zu lesen ist die Meldung, dass amerikanische Forscher im Südosten Mexikos die hisher älteste bekannte Schrift Amerikas entdeckt haben. Den Wissenschaftlern zufolge sind die Schriftzeichen in einer Ruinenstätte aus der Zeit 650 vor Christus.

Besprochen werden die "Iphigenie en Aulide", dirigiert von Riccardo Muti zur Saisoneröffnung der Mailänder ScalaDonazettis "Maria Stuarda" im Zürcher Opernhaus, die Marbacher Ausstellung "Kafkas Fabriken", Klaus Hubers "Beati pauperes II" in der Zürcher Tonhalle und, in einer kurzen Notiz, der Aufritt der amerikanischen Geigerin Hilary Hahn im Zürcher "Meisterzyklus".

FAZ, 09.12.2002

Ein gepflegtes Lamento über dies und das - die Medien und die Politik, den Spiegel ohne Augstein - geben Stefan Aust und Hans Barbier im Gespräch mit Frank Schirrmacher zum besten. Nur wenn es gegen die Erben Augsteins geht, zeigen die Herren etwas Engagement. Aust: "Vielleicht ist es ja auch so, dass, wer sich selbst etwas aufgebaut hat, denkt, die anderen müssen sich das auch erarbeiten. Und seinen Kinder die Verpflichtung mit auf den Weg gibt, sich nicht auf den Errungenschaften des Vaters auszuruhen." Barbier: "Gerade bei Medienunternehmen zeigt sich, daß die Gründer nicht dem geläufigen Irrtum unterliegen, beim Erben komme es auf die schiere Weitergabe von Beständen an. Eine Erbengeneration, die sich darauf beschränkt, Bestände in Empfang zu nehmen, wird es nicht weit bringen."

Das europäische Kino wäre nicht europäisch, wenn es nur seine Filmpreise vergäbe (diesmal gingen fast alle an Pedro Almodovars "Habla con Ella"), ohne dabei auch dringende Themen und wichtige Fragen zu diskutieren: Diesmal ging es um Filmerziehung an Schulen, und Michael Althen stellt dazu fest: Erstens, dass die Sache wünschenswert und überfällig ist. Zweitens, dass man sich lieber nicht ausmalen möchte, wie Lehrer, die Generationen von Gymnasiasten die Lust an der Literatur ausgetrieben haben, dem Kino das Wort reden. Und drittens, dass man nach dieser Konferenz das starke Bedürfnis verspürte, sich einen jener amerikanischen Schundfilme anzusehen, die hier so verteufelt wurden."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube beklagt den Zustand der Geisteswissenschaften, den fehlende Mut, auf "vollmundige Erklärungen ihrer Gesamtrelevanz" zu verzichten und die zunehmende Indolenz von Wissenschaftspolitikern." Tilman Spreckelsen hat sich Imre Kertesz' "Nobel Lecture" angehört, in der Kertesz das Individuum feiert. "WWS" gratuliert dem Hardbop-Trompeter Donald Byrd (mehr hier) zum Siebzigsten.

Michael Angele würdigt den Berliner Flughafen Tempelhof als Gegenmodell zur hippen Szene: "Wer die Love Parade hasst, muss Tempelhof mögen". Edith Boxberger porträtiert die Ballerina Natalia Makarova. Oliver Tolmein schreibt über neuen Streit in der Behindertenbewegung.

Auf der Medien-Seite stellt Jordan Mejias den HBO-Film "Live From Baghdad" über CNN im ersten Golfkrieg vor. Heike Hupertz liefert dazu das Gegenstück und erzählt vom legendären CBS-Anchorman und Kriegsgegner Walter Cronkite.

Besprochen werden Marius von Mayenburgs Stück "Das kalte Kind" (und zwar gar nicht gut), die Aufführung von "Sophie's Choice" von Simon Rattle und Trevor Nunn am Covent Garden. Und Bücher, darunter Robert Schneiders Roman "Schatten", Frank Kelleters Interpretation der "Amerikanischen Aufklärung" und die Schrift "Warum Intellektuelle unsere Welt zerstören" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).