Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2001. Bin Laden aller Orten: Die SZ berichtet über die polierte Kalaschnikow des Terroristenführers, in der FR studiert Claudia Schmölder das Gesicht des derzeit wohl meistgesuchten Mannes der Welt. Wie es ist, CNN im Wohnzimmer eines pakistanischen Islamisten zu sehen, beschreibt die FAZ.

FAZ, 09.10.2001

Der wichtigste Text steht (wie öfters in letzter Zeit) auf der neuen letzten Seite des Feuilletons. Es handelt sich um eine weitere von salon.com übernommene Reportage der amerikanisch-pakistanischen Journalistin Asra Q. Nomani, die die CNN-Bilder vom beginnenden Gegenschlag im Wohnzimmer einer reichen, mit bin Laden befreundeten Familie in Islamabad gesehen hat. "Khawajas Frau tritt vor und deutet eine Umarmung an. Früher hat sie als Anwältin gearbeitet. Sie ist groß, elegant und spricht Urdu und Englisch so fließend wie ihr Mann. An die Toten der ersten Angriffswelle denkt sie voller Erbitterung, aber auch mit Optimismus: 'Sie sind jetzt Märtyrer', sagt sie. Während das Fernsehen noch einmal Usama Bin Ladin zeigt, lässt sich Khawaja auf den Boden gleiten und stützt sich auf einen niedrigen Tisch. Sein zehnjähriger Sohn kommt mit einem Teller Linsen und Reis aus der Küche. Er sei ein Fan von Walt Disneys 'Der König der Löwen', sagt er." Und der war ja auch ein Märtyrer! Die FAZ gibt den Artikel nicht online zu lesen, auch das Original bei salon.com gehört leider zum kostenpflichtigen "Premium Content".

Weitere Artikel: Die Kriegstheoretiker Alvin und Heidi Toffler erblicken in den beginnenden Auseinandersetzungen einen Krieg der "dritten Welle" gegen einen Krieg der "ersten Welle" (das heißt einen Krieg der Informations- gegen eine agrarische Gesellschaft). Joachim Müller-Jung berichtet über zwei Erkrankungen an Milzbrand in Florida - die Erreger sind in der Natur selten, gehören dafür aber ins Arsenal der biologischen Kriegsführung. Auf der Medienseite lesen wir Artikel über die Berichterstattung deutscher und amerikanischer Sender zu den Gegenschlägen.

Ferner ist Felicitas von Lovenberg über die beginnende Buchmesse gelaufen, wo sich die verschärften Sicherheitsvorkehrungen sehr diskret geben. Der Altertertumswissenschaftler Joachim Latacz nimmt auf einer ganzen Seite zu dem Streit um Troia Stellung. Barbara Hobom stellt die Biologen Leland H. Hartwell, Paul Nurse und Timothy Hunt vor, die für ihre Arbeiten zur Zellteilung den Medizin-Nobelpreis bekommen werden. Auf der Bücher-und-Themen-Seite schreibt der emeritierte Juraprofessor Klaus Lüdersen über eine amerikanische theoretische Schule, die offensichtlich das Recht als Literatur interpretieren will. Patrick Bahners schreibt zum Tod des amerikanischen Karikaturisten Herblock. Ilona Lehnart schreibt über das neue "Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte" in Potsdam. Jochen Hieber gratuliert dem Verleger Egon Ammann zum Sechzigsten. Johan Schloemann hat den schwedische Autor Lars Gustaffson getroffen, der in Berlin eine Austellung vorbereitet. Richard Kämmerlings schreibt zum achtzigsten Geburtstag des polnischen Dichters Tadeusz Rozewicz.

Besprochen werden Brecht- und Ibsen-Inszenierungen in Basel, ein Kammermusikfestival in Jerusalem, eine Ausstellung des Malers Leo von König in Oldenburg, Brigitte Fassbaenders "Tristan"-Inszenierung in Innsbruck und der Springer-Film "Der Verleger" in der ARD.

Außerdem hat die FAZ heute 64 Seiten Literaturbeilage zur Buchmesse.

NZZ, 09.10.2001

Barbara Spengler-Axiopulos berichtet über Hoffnungen und Ängste der griechischen Literaturszene vor dem mit großem Aufwand vorbereiteten Auftritt als Gastland der Buchmesse. Der Leiter des Frankfurter Griechenlandbüros, Pantelis Pantelouris, "der mit mindestens fünfzig Schriftstellern auf der Buchmesse rechnet, sagt: 'Die Erwartungen und die Neugier sind groß. Wir wünschen uns, dass sich die Türen zu europäischen Verlagshäusern öffnen und auch offen bleiben. Sollten sich auch nur zwei griechische Autoren im Ausland etablieren, wäre das für uns ein Erfolg.' Die griechischen Verlage interessieren, wie Thanasis Kastaniotis, der Inhaber eines der renommierten Athener Verlagshäuser, betont, vor allem die Verkaufszahlen. Sein Traum ist es, einmal einen griechischen Autor auf der internationalen Bestsellerliste zu sehen."

Auch Joachim Güntner stimmt ein auf die Buchmesse: "Sollte die Militäroffensive jetzt daran nicht noch kurzfristig etwas ändern, so halten sich die Stornierungen in Grenzen. Bis Freitag letzter Woche hatten unter Bezug auf den 11. September 37 Aussteller ihre Buchung zurückgezogen, darunter je eine Absage aus Australien, der Türkei und Südafrika, zwei aus dem Gastland Griechenland und drei aus Japan. Und aus Israel? Keine einzige."

Weiteres: Helmut Mayer resümiert eine Tagung zu Wittgenstein in Berlin. Hans Jürgen Balmes schreibt zum 80. Geburtstag des Dichters Tadeusz Rozewicz. Besprochen werden ein Stück von Händl Klaus beim Steirischen Herbst, eine Ausstellung der Sammlung Corboud in Köln, eine Toyo-Ito-Ausstellung in Vicenza und einige Bücher, darunter Alisatair McLeods "Land der Bäume" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Außerdem hat die NZZ heute ihre Literaturbeilage zur Buchmesse beigelegt.

SZ, 09.10.2001

Auf einer Podiumsdiskussion in Berlin musste sich Hans Syberberg von Thomas Ostermeier und Matthias Greffrath "Altersrührseligkeit" vorwerfen lassen. Syberberg betätigt sich nämlich gerade als Heimat-Archäologe: Er lässt im Internet und demnächst auch im Pariser Centre Pompidou seinen Geburtsort Nossendorf wieder erstehen. Hinwendung zur Heimat in Zeiten der Globalisierung ? ist das etwa politisch? Ist das radikal? fragte Greffrath. Darauf Syberberg: "Ich weiß nicht. Alle, denen ich davon erzähle, sind fasziniert. Es interessiert die Leute. Jeder hat so ein Nossendorf. Insofern ist es politisch. Unsere Gesellschaft krankt daran, dass wir meinen, bestimmte Begriffe nicht mehr aussprechen, denken oder empfinden zu dürfen. Das hat natürlich mit unserer Geschichte zu tun."

Andrian Kreye schildert das Dilemma amerikanischer Pazifisten und Linker, die gegen die Vergeltungsschläge demonstrieren: "Der Krieg gegen den Terror, der auf einer grausam direkt erfahrenen Bedrohung basiert, ist nicht mehr ohne weiteres den Feldzügen wie jenen in Vietnam, Panama oder auch in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens gleichzusetzen."
In einem zweiten Artikel beschreibt Kreye die Schwierigkeiten von Orchestern und Popgruppen, den New Yorkern ihre Betroffenheit zu bekunden.

Ulrich Raulff fühlte sich am Samstag abend wie beim "High Noon auf der globalen Dorfstraße: der Sheriff und sein einsamer Gegner". Der einsame Gegner, das war Bin Laden in seinem Video: Es "überraschte die Eleganz der aparten Darbietung ? die Vorführung des neuesten, blütenfrischen Guerrilla-Chics samt erlesener Accessoires (polierte Kalaschnikow, teure combat watch) und das heitere Air eines dejeuner sur l?herbe, das über der Teezeremonie in der Höhenluft Afghanistans schwebte. Die Tonspur zu den idyllischen Bildern freilich sprach eine andere Sprache." Der Sheriff war natürlich Bush, der am selben abend im Fernsehen "wenngleich in anderer Terminologie und mit anderer Legitimation, dem absoluten Feind den absoluten Krieg" erklärte, was Raulff für eine Verirrung hält.

Weitere Artikel: Andre Schiffrin beschreibt die Auswirkungen der Rezession auf den Buchmarkt ? immer weniger Verlage werden immer weniger Bücher mit "neuen Ideen" publizieren. Franziska Augstein war bei einer Tagung in Dublin, die sich damit beschäftigte, inwiefern Europa nach 1918 für den Frieden gewappnet war. Jens Bisky stellt "eines der interessantesten Vorhaben der gegenwärtigen Literaturwissenschaft" vor: die Untersuchung der Berliner Klassik durch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Reinhard Oehlschlägel war beim einem Festival neuer Musik in Warschau: dem Warschauer Herbst. Jörg Häntzschel beschreibt das neue, von Rem Koolhaas gebaute Guggenheim Museum in Las Vegas. Christina Berndt stellt die Krebsforscher Leland Hartwell, Paul Nurse und Tim Hunt vor, die den Medizin-Nobelpreis erhalten haben. Verena Auffermann berichtet über einen Kongress in Frankfurt, der sich mit "Law as Literature" befasste. Und Thomas Steinfeld gratuliert dem Dichter Tadeusz Rozewicz zum achtzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Stephan Märkis Inszenierung der "Lulu" am Weimarer Nationaltheater ("Märki wollte zu wenig", klagt Joachim Kaiser), Boris von Sychowskis Film "Swimming Pool", "Nathan der Weise" in Würzburg und Bücher, darunter Lima Barretos Roman "Das traurige Ende des Policarpo Quaresma" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).
Sehr interessant auch zwei Artikel auf der Medienseite. Robert Jacobi erzählt, wie sich CNN die Bilder der Erklärung bin Ladens exklusiv sichern wollte - die Konkurrenz war empört und hielt sich nicht an das Sendeverbot. Und Hans Leyendecker schildert, wie das amerikanische Militär durch das Pool-System die Berichterstattung über den Krieg kontrolliert.

FR, 09.10.2001

Claudia Schmölders, Autorin eines Buchs über Hitlers Gesicht, denkt über bin Ladens Gesicht nach: "Bin Ladens Gesicht zwischen Andachtsbild (Gott) und Steckbrief (Teufel) verstrickt den Betrachter schnell ins Mythische. Auch Enzensberger sah sich ins Zeitalter der Menschenopfer versetzt. Wie weggeblasen erscheinen die Theoreme, wonach es im Zeitalter der Medien nur noch Masken und Prominenten-Styling gäbe. Es waren Theorien ohne den Wirt, Denkfiguren ohne geschichtsbegrifflichen Halt. Dass bin Ladens Gesicht millionenfach über den Äther flimmert, ändert nichts am tausendfachen Tod der Opfer, hat diesen aber auch nicht erzeugt. Nicht wie einer aussieht, sondern was einer denkt und tut, entscheidet über den Verstrickungs-Modus der Betrachter." Verstehe.

Thomas Hettche lässt sich von Peter Michalzik zu seinem Krimi "Der Fall Arbogast" interviewen und bekennt seine Liebe zu Oduktionsberichten: "Es ist ungeheuer ergreifend, wie in stummen körperlichen Zeichen ein unwiderbringlich vergangenes Leben noch ein letztes Mal Kontur bekommt. Es gibt eine große Zärtlichkeit der Spuren. Da ist eine Verwachsung, die deutet auf eine Abtreibung hin, da eine Druckstelle, die deutet auf hartes Anfassen hin ..."

Weitere Artikel: Harry Nutt kommentiert die ersten Bilder vom Gegenschlag. Dirk Fuhrig unterhielt sich in Paris mit Ingrid Caven und ihrem Lebensgefährten Jean-Jacques Schuhl, der bekanntlich einen Roman über die Chansonsängerin geschrieben hat. Hans-Jürgen Heinrichs schreibt zum 95. Geburtstag Leopold Sedar Senghors. Besprochen werden die Warhol-Retrospektive in Berlin und das Theaterdebüt von Händl Klaus beim Steirischen Herbst.

TAZ, 09.10.2001

Marius Babias (den die taz in zweifelhaftem Deutsch als "Leiter Kommunikation der Kokerei Zollverein" vorstellt) beendet die Globalisierungsserie der taz mit einem Artikel über Kunstbiennalen, die er als die ästhetische Veredelung der neoliberalen Welteroberung ansieht: "Man muss die Frage stellen, ob Biennalen ein Instrument der apostrophierten Weltkunst im Zeitalter der Globalisierung sind, sie das 'Andere', das 'Fremde' nicht deshalb zum Coming-out animieren, um es in einer globalisierten kulturellen Ökonomie als Selbstbehauptungsgeste gefügig und als Ware konsumierbar zu machen." Originelle These.

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt resümiert eine "Fachmesse für Drehbuch und Scriptentwicklung" in Berlin. Besprochen werden Nikos Kavvadias Roman "Die Wache" und Moritz von Uslars Theaterstück "Freunde II" in Hannover.