Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2001.

FAZ, 06.06.2001

Die FAZ glänzt heute mit einer ganzen Reihe interessanter Berichte. Jordan Mejias beschreibt den Wirtschaftszweig "Gefängnis" in den USA, wie er kürzlich von Joseph T. Hallinan in seinem Buch "Going up the river" (hier die Kritik in der NYT mit erstem Kapitel) beschrieben wurde. "Noch bevor das neue Jahrtausend eingeläutet wurde, saßen in amerikanischen Haftanstalten erstmals zwei Millionen Menschen ein, immerhin eine halbe Million mehr als 1995 und gar anderthalb Millionen mehr als 1980. Dazu kamen viereinhalb Millionen Amerikaner, die ihre Freiheit nur auf Bewährung genossen. Angesichts solcher Rekorde musste sich selbst der frühere Marktführer Russland geschlagen geben." Foremans These dazu "in unzulässiger Kürze: Der militärisch-industrielle Komplex, berühmt-berüchtigt aus den Tagen des Kalten Kriegs, suche nun in der schmerzvollen Abwesenheit seines umsatzfördernden Idealfeinds, des Kommunismus, nach einem neuen Wirkungsfeld. Derweil werde die Abwehr jener Ideologie, die amerikanischer Denkungsart Richtung wies und Sinn verlieh, durch die Kriminalstatistik ersetzt. Der Kampf gegen Kommunisten weiche der Verwahrung ungemäßer Landsleute, und somit löse den militärisch-industriellen Komplex der haftsträflich-industrielle ab. Nur die Art der Bedrohung sei ausgetauscht worden." Ein Interview mit Hallinan findet sich bei salon.com.

Morgen wählen die Briten. Stefan Berger, Historiker an der Universität von Glamorgan in Wales, handelt auf einer flott geschriebenen ganzen Seite die Geschichte der Labour Partei ab und legt dar, warum Tony Blair keineswegs ein "Verräter" an den Idealen der Linken ist, seine Reformpolitik vielmehr "eine Rückkehr zu sozialdemokratischen Traditionen unter den gewandelten Bedingungen von Globalisierung und neoliberaler Herausforderung" ist. Berger sieht den Versuch New Labours, sich auf eine moderne Welt einzulassen, mit Sympathie und bescheinigt dem britischen Premierminister, dass er "die in allen sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, vor allem unter Intellektuellen, immer wieder stark ausgeprägte Verachtung für die angebliche Unreife der Wähler und für die letztendliche Bedeutungslosigkeit von Wahlerfolgen" nicht teilt.

Zhou Derong beschreibt die Risiken, die chinesische Intellektuelle eingehen, wenn sie die Partei zu deutlich kritisieren, am Fall der Kolumnistin der "Shenzhener Zeitung für das Rechtssystem" He Quinglian. Frau He hatte in einem langen Essay den "'gesellschaftlichen Wandel im gegenwärtigen China in seiner Gesamtheit'" untersucht. Ihre provozierenden Thesen lauteten: "Erstens sei der Weg, auf dem die chinesische Elite zu ihrem Reichtum gelangte, weder legal noch gar moralisch zu rechtfertigen; zum zweiten habe die Partei nicht nur gleichgültig zugeschaut, sondern die Elite der Neureichen eindeutig begünstigt. Damit hat sich Frau He nicht nur jene Elite zum Feind gemacht, sondern natürlich auch die gescholtene Partei. Denn wenn diese sich nicht mehr um die Arbeiter und Bauern kümmert, wozu braucht man sie dann noch? Grund genug also, der Soziologin eine Lektion zu erteilen. Plötzlich will niemand mehr Texte von ihr drucken, ganz einfach, ohne eine schriftliche Anordnung von oben - als wisse die Partei, dass Rom zwar nicht in einem Tag erbaut, die Berliner Mauer aber an einem einzigen Tag brüchig wurde."

Frank Schirrmacher erinnert daran, dass vor einem Jahr Bill Joys "Warum die Zukunft uns nicht braucht" in der FAZ stand und erhebt Anklage gegen Wolfgang Clement, der erstmals in Israel und zuletzt gestern in der SZ erklärt hatte, er wolle "embryonale Stammzellen für die Forschung in seinem Land einkaufen". Schirrmacher führt an, dass niemand wisse, "ob die Wissenschaft embryonale Stammzellen wirklich benötigt und nicht schon in Kürze auf adulte Zellen zurückgreifen kann. Niemand weiß, ob sich hier nicht viel eher eine Art Embryo-Industrie ('tissue') etabliert, vergleichbar den Ovarien in Huxleys 'Schöner neuen Welt'. Wen interessiert, was bereits in Russland möglich ist und angeboten wird, mache sich unter http://www.emcell.com kundig. Nichts von den medizinischen Erfolgen, die auf dieser Webpage verkündet werden, wurde nicht auch schon von namhaften deutschen Politikern versprochen."

Weitere Artikel: Axel Michaels schreibt mit viel Gefühl und Kenntnis über das Massaker in Nepal ("Mittlerweile sind hauptsächlich vier Versionen des Königsdramas im Gespräch. An allen hätte Shakespeare seine Freude gehabt."), Johan Schloemann liefert einen spöttischen Bericht über den Reformeifer der Ministerin Edelgard Bulmahn, die den Juniorprofessor einführen will. Katja Lange-Müller widmet sich in der Serie "Deutsches Wörterbuch" dem Bummelanten. Bettina Erche berichtet über die Restaurierung des barocken Marmorbades in Kassel.

Besprochen werden die erste Ausstellung in Münchens neuer Hypo-Kunsthalle: "Der kühle Blick" auf die zwanziger Jahre, Stefani Ottenis Inszenierung der "Krankheit der Jugend" von Ferdinand Bruckner im Schauspiel Oberhausen, eine Ausstellung mit Werken des Futuristen Gino Severini in der Fondazione Peggy Guggenheim in Venedig und Sachbücher (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

Auf der Stilseite schreibt Klaus Ungerer die "Lebensbeichte einer Glockengeburt". Besprochen wird eine Ausstellung im Haus Peters in Tetenbüll über die wollene Arbeitskleidung der Fischer.

NZZ, 06.06.2001

Valentin Groebner hat Stephen Greenblatts Buch "Hamlet in Purgatory" gleich auf englisch gelesen. Der Autor setzt Hamlet in den Zusammenhang mit Vorstellungen der Zeit über das Fegefeuer, fragt aber auch: "Woraus beziehen literarische Texte, die vor mehreren hundert Jahren geschrieben worden sind, ihre Anziehungskraft und literarische Gewalt, damals wie heute? 'Hamlet in Purgatory' nimmt auf der Suche nach dem Gespenst seinen Leser mit auf eine Reise ins Totenreich."

Auch sonst viele Besprechungen heute im führenden Feuilleton der Schweiz. Es geht um eine Tokyoter Ausstellung mit den Schätzen des Daigoji-Tempels in Kyoto, um die Ausstellung "BitStreams" im Whitney Museum New York, in der sich Künstler mit der digitalen Welt befassen, um neues Musiktheater an den Wiener Festwochen, um das Theaterfestival im sizilianischen Siracusa, um die Ittinger Pfingstkonzerte und um Krimis von Carlo Lucarelli und von Polina Daschkowa.

SZ, 06.06.2001

Trotz eines darniederliegenden Gesundheits- und Bildungswesen, des Skandals der Tierseuchen und eines insgesamt elenden Zustands in Britannien, wird Tony Blair wiedergewählt werden, meint Ian Buruma, und fragt, warum die Opposition nicht profitieren kann: "Die Oppositionsrolle ist überall schwierig geworden, weil in puncto politischer Ideologie, volkswirtschaftlicher Lehre oder Außenpolitik die Bandbreite des möglichen Dissenses geschrumpft ist. Ohne wirklichen Dissens aber kann man auch gleich bei der herrschenden Partei bleiben - es sei denn, sie wäre schon zu lange am Ruder, so dass die Menschen sie aus schierem Überdruss abwählen."

"Vergesst Berlin!", ruft Johannes Willms. Dann kommt bitterer Spott auf die Stadt und ihre Misere: "Seit langem schon lebt man hier in einer Zukunft, wie man sie sich zukünftiger gar nicht vorstellen kann und rechtfertigt dies mit einer Vergangenheit, wie man sich diese vergangener allerdings auch nicht wünschen mag. Die Gegenwart jedoch, in der sich, frei nach Schiller, die Sachen hart im Raum stoßen, kam dabei abhanden. Jetzt will es sogar scheinen, dass Berlin der Gegenwart abhanden gekommen ist, dass die Stadt, die sich gern schon mal als 'Wolke' apostrophierte, nur noch eine Behauptung ist, die da lautet: 'Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands'." Ganz Berlin ist eine Jurke, mag sein, aber hat die Vergangenheit, die man sich vergangener nicht wünschen mag, wirklich nur in Berlin stattgefunden? Was ist mit der Hauptstadt der Bewegung?

In Berlin waren offensichtlich auch die Opernhäuser besonders böse. Es hat sich herausgestellt, dass in der heutigen Deutschen Oper Zwangsarbeiter beschäftigt waren, meldet Frieder Reininghaus. Der designierte Intendant Udo Zimmermann regte jetzt beim GMD Thielemann an, "baldigst gesonderte künstlerische Anstrengungen zu unternehmen, um einen eigenständigen Beitrag der Deutschen Oper Berlin für den Entschädigungsfonds zu leisten."

Hans-Peter Kunisch berichtet über ein Buch, "das auf 270 Seiten Text und 100 Seiten Anhang (Fußnoten, Sekundärliteratur, Register) informiert, argumentiert, und dabei doch nie die Kraft eines ironischen Manifests verliert, das in Amerika zu seitenlangen Besprechungen in allen großen Zeitungen, zu erregten Diskussionen Anlass gegeben hat". Es ist von Nicholson Baker, heißt "Double Fold" und befasst sich mit der Erhaltung von Büchern, die durch Säurerfraß zusehends bedroht sind. Besonders die Bibliothekare und ihren Hang zu Mikrofilmen und Digitalisierung scheint Baker anzugreifen: "Statt ihre Aufgabe zu erfüllen, die ihnen anvertrauten Zeitungen und Bücher als Gedächtnis der Gesellschaft zu schützen, so Baker, verramscht ein großer Teil der US-Forschungs-Bibliotheken die wertvollen Originale. Wenn ihnen das nicht mehr gelingt, werden die Originale vernichtet. Die Bibliothekare, so Baker, haben ein Buch-Massaker angerichtet."

Weitere Artikel: Raphael Honigstein hat Missy Elliott in London live erlebt. Besprochen werden der Film "Pearl Harbor" das Pfingstfestival in Salzburg, das Stück "mindhunter" in Hamburg und das Programm "Du bist die Welt" bei den Wiener Festwochen. Außerdem schreibt Fritz Göttler zum 90. Geburtstag des lyrischen Erzählers und Filmemachers Jean Cayrol.

FR, 06.06.2001

Christian Horn liefert ein anregendes Panorama der kanadischen Theaterlandschaft. Nebenbei stellt er fest, dass der Nationalitätenstreit zwischen Franko- und Anglokanadiern abebbt, "insbesondere unter der jüngeren Generation. Sie will die Sprachbarriere nicht als nationales Problem erkennen, außerdem ordnen sich auch in Kanada kulturelle Belange zunehmend marktwirtschaftlichen Erwägungen unter. So wurde möglich, was vor kurzem noch unvorstellbar gewesen wäre: der Verkauf einer der Ikonen frankokanadischer Kultur, des Eishockeyteams 'Montreal Canadians' mitsamt Stadion an einen texanischen Öl-Millionär."

Sabine Kunz porträtiert Gregor Schneider, der Deutschland bei der Kunstbiennale in Venedig repräsentieren wird: "Seine Kunst kreist nicht um seine Existenz, sie ist seine Existenz. Im 'toten Haus Ur' lebt, arbeitet und schläft Schneider. Bereits sein halbes Leben lang. Seit 1985 verkleinert er dort Räume, verdoppelt Wände, vernagelt Fenster, schafft Luken, zieht Korridore ein, schachtet den Keller aus, baut Treppen, vermauert Türen."

Weitere Artikel: Klaus Bachmann schildert die Empörung in der Ukraine und in Polen über den "Raub" der Wandgemälde von Bruno Schulz aus einer Villa in Drohobytsch - Räuber sind die Mitarbeiter der isralischen Gedenkstiftung Yad Vashem, die das Bild einfach den jetzigen Besitzern der Villa abkauften und mitnahmen. Judith Jammers zeichnet Londoner Diskussionen über neue Hochhäuser in der Stadt nach. Eckhard Henscheid liefert die fünfte Folge seines "Gewäschs des Monats" und Wladimir Kaminer die 18. Folge seiner Notizen aus der Schönhauser Allee. Besprochen werden Patrice Chereaus Film "Intimacy", "La Traviata" aus Russland für die Pfingstfestspiele in Baden-Baden und eine Dramatisierung von Herman Melvilles "Bartleby" in Düsseldorf.

TAZ, 06.06.2001

Die taz, an sich das zuverlässigste aller Institute im Internet, scheint heute technische Probleme zu haben - heute morgen stand noch die Ausgabe von gestern im Netz. Darum kurz und von Papier abgelesen:

Brigitte Werneburg hat sich ein paar Tage vor Blairs Wiederwahl auf eine Londoner Museumsreise begeben und betrachtet Arte povera in der Tate Modern und eine Ausstellung zum 100. Todestag der Queen Victoria im Victoria and Albert Museum. Helmut Höge bedauert in der Rubrik "Berliner Ökonomie" das "Schustersterben". Regine Bruckmann porträtiert die Theaterautorin Gesine Danckwart. Und Daniel Bax hat in Berlin ein Konzert des türkischen Stars Ibo gehört, welchen wir uns als den "anhängerstärksten Propheten des anatolischen Souls" vorstellen müssen.