Heute in den Feuilletons

Die Statistiken sagen natürlich etwas anderes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2013. Im Wahlkampf offenbart sich unser Versagen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, diagnostiziert die FAZ. Den Chilenen haben für solche Fälle die Literatur, berichtet der Schriftsteller Antonio Skármeta der NZZ. Die SZ bejubelt die Rückkehr von James Salter unter die Romanautoren. In den falschen Händen könnte die Überwachungstechnologie der NSA großen Schaden anrichten, befürchtet Friedrich Schorlemmer ebenda. Agnes Szabó bittet in der taz, Europa möge seinen verlorenen Sohn Ungarn umgarnen.

Welt, 21.09.2013

Werner Bloch geht vor Maria Stuart in die Knie, der das National Museum of Scotland eine imposante Ausstellung widmet, die aber nichts mit dem Unabhängigkeitsreferendum der Schotten im September 2014 zu tun haben will: "Die erste Begegnung mit Mary, Queen of Scots ist für den Besucher ein Schock. Was für eine Frau! 1,80 Meter ruhige Selbstgewissheit, perfekte Haltung, stoische Heiterkeit - das alles Minuten vor der eigenen Hinrichtung. Schon beim Betreten des Ausstellungsraums prallt man vor diesem monumentalen Gemälde in barocker Überwältigungsästhetik zurück, das sich normalerweise im Blair Museum in Aberdeen befindet. Eine Königin in ihrer schwersten Stunde - das Stundenbuch in der einen Hand, das Kruzifix in der anderen. Hingerichtet aber wird sie am 8. Februar 1587, wie in einer Seitenszene des Tableau zu sehen, fast nackt, in einem roten Mieder. Die perfekte Inszenierung einer katholischen Märtyrerin. Unsichtbar auf der Anklagebank: England."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Niki Lauda und dem Drehbuchautor Peter Morgan über das Lauda-Biopic "Rusch". Andrea Seibel ist beim Mittagessen hin und weg von der Fernsehproduzentin Regina Ziegler und ihrem selbstbewussten Konservatismus: "Was für ein Weib!"

NZZ, 21.09.2013

Die große türkische Protestwelle ist abgeflaut, doch in kreativen und auf den ersten Blick unpolitischen Aktionen lebt der Widerstand fort, meldet Veronika Hartmann. So etwa in den Treppenstufen am zentralen Sali Pazari Yokusu, die von einem Tag auf den anderen regenbogenbunt gestrichen waren: "Niemand konnte sich erklären wieso, doch die Stadt erkannte sofort eine Gefahr und überpinselte die Stiegen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ödem Grau. Als sich herausstellte, dass es nicht die 'Capulcus' ('Chaoten') von Gezi waren, sondern ein braver Beamter im Ruhestand, der des Graus vor seiner Haustür überdrüssig war, ruderte die Stadt zurück und strich die Treppen selber wieder bunt."

Weiteres: Paul Andreas berichtet vom exzentrischen Museumsneubau C4 im andalusischen Córdoba, dessen Zukunft wegen der Krise ungewiss ist. Anlässlich des Herbstäquinoktiums schreibt Daniela Tan über die spirituelle Bedeutung des Mondes in Japan: "Das Betrachten des Spiegelbildes des Mondes in einem Teich ist eine buddhistische Metapher auf die Vergänglichkeit der gesamten irdischen Existenz." Bei der Mannheimer Ausstellung "Nur Skulptur" tritt Christian Saehrendt in einen "Nutellafladen hinein und verteilt die Crème dann auf dem Teppich zu einem abstrakten, pastosen Gemälde. Schritt für Schritt schmiert sich der Schuh auf diese Weise wieder sauber - und nebenbei wird der passive Betrachter zum aktiven Mitkünstler."

In Literatur und Kunst unterhält sich der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta mit Michael Marek und beschwört die Relevanz der Literatur für die Orientierung der Bürger: "Man geht auf die Straße und demonstriert, hat aber keine klaren Vorstellungen darüber, was wie anders ein müsste. Bei der Suche könnte Literatur, die den Mainstream hinterfragt, eine wichtige Rolle spielen. Die Statistiken über das Leseverhalten sagen natürlich etwas anderes, nämlich dass Chilenen höchstens ein oder zwei Bücher pro Jahr lesen. Es ginge darum, dass die Mittelklasse zur Artikulation ihrer Utopien fände. Die jungen Leute können anhand der Bücher zu den richtigen Fragen finden."

Weiteres: Gabriele Hoffmann denkt in einem Essay darüber nach, wie sich das Bild des Künstlers gewandelt hat. Aus Anlass des von Benjamin Lebert herausgegebenen Briefwechsels untersucht Thomas Hermann die Freundschaft zwischen F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway und vergleicht verschiedene Übersetzungen ihrer bedeutendsten Romane.

TAZ, 21.09.2013

"Ungarn umgarnen", wünscht sich Agnes Szabó, um das Land - den "verlorenen Sohn Europas" - wieder an Europas Werte anzugliedern. Man solle das Land "ein wenig umarmen, dem Land das Gefühl geben, dass es in den schlechten Zeiten nicht auf sich allein gestellt ist und dass Europa trotz des Tiefflugs an seine Stärke und Größe glaubt."

"Gibt es den kleinen Buchladen um die Ecke bald vielleicht einfach deshalb nicht mehr, weil ihn keiner mehr braucht", fragt sich Susanne Messmer und forscht bei alternativen Buchhandlungen in Marburg und Berlin nach, wie diese sich gegenüber Amazon-Algorithmen stark machen. Bei dieser Gelegenheit hat die taz auch bei Literaten bezüglich deren Ablehnung des Onlinebuchhandels nachgefragt, unter anderem auch bei Sibylle Lewitscharoff, die sich mit fast schon lustvollem Grausen vor Amazon ekelt.

Weiteres: Stephan Hebel stattet der zur Sparsamkeit verdonnerten und derzeit zum dritten Mal in zehn Jahren umziehenden Frankfurter Rundschau einen Besuch ab. Judith Poppe stellt Mendy Cahan und dessen Yung Yidish Book Museum in Tel Aviv vor. Susanne Messmer begutachtet die neue Berliner Galerie Patrick Ebensberger, die soeben ins ehemalige Krematorium Wedding eingezogen ist. Detlef Kuhlbrodt denkt beim Spaziergang durch das verregnete Berlin über den Wahlkampf nach und fühlt sich vom SPD-Slogan "Das Wir regiert" doch über Gebühr angekumpelt: "Bei mir zu Hause hat noch immer das Es die Hosen an." Christian Werthschulte besucht das Kölner Konzert von Janelle Monáe. Johannes Gernert mischt sich unter die Motorradrocker. Jens Uthoff plaudert ausgiebig mit dem Berliner Strommusiker Rummelsnuff, der uns in seinem aktuellen Video mit auf die See nimmt:



Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Pia Pollmann in Bremen, eine Ausstellung von Ulrich Wüsts Berlin-Fotografien in der Berliner Collection Regard und Bücher, darunter Mathias Énards Roman "Straße der Diebe" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 21.09.2013

Eine Sensation, jubelt Christopher Schmidt auf der ersten Seite des Feuilletons über den neuen Roman von James Salter, seinem ersten seit 30 Jahren. "Der Großemphatiker der amerikanischen Literatur intoniert noch einmal die Schicksalsmelodie morbider Männlichkeit. Lakonischer ist er geworden, der den Lyrismus seiner impressionistischen Betörungsprosa von jeher melancholisch abgetönt hat - und doch versteht er es immer noch, Schlüsselszenen zu verdichten, als wäre sein Schreibwerkzeug der Zauberstab."

Der einstige DDR-Bürgerrechtsaktivist Friedrich Schorlemmer ist sich im Gespräch mit Franz Viohl sicher, dass sich Erich Mielke seinerzeit die Finger nach der Technologie der NSA geleckt hätte. "Man muss von einem Totalitarismus der Daten sprechen. Wenn diese in die Hände derer gelangen, die von Demokratie nichts mehr halten, dann sind die Grundsätze unserer Rechtsordnung in Gefahr."

Außerdem: Astrid Mania besucht die Messe Art Berlin Contemporary, auf der "in alle Richtungen hin installiert, performt und collagiert" wird. Michael Stallknecht stellt die Initiative Art but Fair vor, die sich für bessere Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb einsetzt und zugleich die Solidarität unter Kulturschaffenden fördern will. Schwer begeistert reist Peter Richter an Bord von Doug Aitkens mit Musikern und Künstlern prall gefülltem Happening-Zug durch die USA. Birmingham ist von seiner neuen Bibliothek begeistert, beobachtet Alexander Menden beim Rundgang durch das Gebäude. Roswitha Budeus-Budde gratuliert dem Schriftsteller Klaus Kordon zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden der deutsche Oscarkandidat "Zwei Leben", das neue Album von MGMT, ein "Wirtshaus am Spessart" am Schauspiel Hannover und Terézia Moras Shortlist-Roman "Das Ungeheuer" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende sorgt sich Nicolas Richter um das Wohlbefinden des Weltpolizisten USA, den er zusehends matt und müde findet: "Die Europäer beschweren sich seit Jahrzehnten über die Fehler, Launen und Ausbrüche des Weltpolizisten, sie haben es aber nie geschafft, eine eigene Wache einzurichten und eigene Großeinsätze zu organisieren. Bei allem Spott über den Amerikaner sind sie ihm insgeheim sehr dankbar. ... Der Weltpolizist hat zahllose Macken, aber es gibt keinen anderen." Titus Arnu erliegt dem Charme von Volker Gerlings Personenporträt-Daumenkinos, die der Berliner auf Wanderschaften von Zufallsbekanntschaften erstellt. Detlef Esslinger porträtiert Leslie McKeown von den Bay City Rollers. Johann Osel referiert die Geschichte des Wahlgeheimnisses. Außerdem unterhält sich mit der Schriftstellerin Christine Nöstlinger.

FAZ, 21.09.2013

Ein Clown wird durch bloßes Herumstehen in der britischen Stadt Northampton zum weltumspannenden Medienereignis, während die Debatten im Bundestagswahlkampf sich an Nebensächlichkeiten aus der Vergangenheit hochziehen und drängendere Themen unberücksichtigt bleiben, ärgert sich Nils Minkmar: "Ein Tag vor der Bundestagswahl stehen wir vor dem Resultat eines eklatanten, philosophischen Versagens: Es gelingt derzeit nicht, die wichtigen Fragen von den unwichtigen zu trennen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und den Kopf klar zu bekommen. ... Dieser Wahlkampf ist eine einzige politische Geisterbahn."

Weiteres: Fridtjof Küchemann berichtet von der ICIC 2013, bei der es vor allem um Datenschutz ging. Christiane Tewinkel resümiert die Haydnfestspiele in Eisenstadt. Swantje Karich berichtet von der Kunstmesse Art Berlin Contemporary und weiß jetzt, was für einen schwierigen Beruf Galeristen haben.

Auf der Medienseite meldet Markus Schug das Ende der Mainzer Rhein-Zeitung. In der Online-Rubrik Bilder und Zeiten unterhält sich Felicitas von Lovenberg mit Daniel Kehlmann und Rüdiger Safranski, die zur Zeit die Literatur- und Sachbuch-Hitlisten anführen, über Goethe.

Besprochen werden Denis Dercourts Film "Zum Geburtstag", eine Aufführung von "Viel Lärm um nichts" am Londoner Old Vic Theatre und Bücher, darunter Paul Austers "Winterjournal" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Joachim Sinn Hölderlins Gedicht "Der Herbst" vor (hier in einer Rezitation von Caroline Peters):

"Die Sagen, die der Erde sich entfernen,
Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret,
Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen
Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.
..."